RS Vfgh 2021/5/10 UA3/2021

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Veröffentlicht am 10.05.2021
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG Art53
B-VG Art138b Abs1 Z4
VO-UA §24, §25, §27, §53
GOG NR §106
BDG 1979 §79e ff
VfGG §7 Abs1, §20 Abs3, §56f

Leitsatz

Verpflichtung des Bundeskanzlers zur Vorlage von Akten und Unterlagen der Stabsstelle Think Austria sowie anderer Organisationseinheiten des Bundeskanzleramtes an den Ibiza-Untersuchungsausschuss; Vorlageverpflichtung des Bundeskanzlers mangels Begründung der fehlenden (potentiellen) abstrakten Relevanz der nicht vorgelegten Akten und Unterlagen gegenüber dem Untersuchungsausschuss

Rechtssatz

Da es der Bundeskanzler unterlassen hat, bis zum Ablauf der (Nach-)Frist gemäß §27 Abs4 VO-UA am 08.03.2021 die begehrten Akten und Unterlagen vorzulegen und für die Ablehnung der Vorlage eine vom Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses als hinreichend erachtete, substantiierte Begründung zu geben, besteht zwischen einem Viertel des Untersuchungsausschusses und dem Bundeskanzler eine Meinungsverschiedenheit über die Pflicht zur Vorlage bestimmter, näher bezeichneter Akten und Unterlagen. Die (Nach-)Frist des §27 Abs4 VO-UA ist nicht einer Verlängerung bzw Erstreckung zugänglich; die Vorlage bzw die Begründung für deren Nichtvorlage muss vielmehr vor Ablauf der gemäß §27 Abs4 VO-UA gesetzten Frist beim Untersuchungsausschuss einlangen. Mit Ablauf der in §27 Abs4 VO-UA normierten Frist beginnt nämlich gemäß §56f Abs1 VfGG die Frist für die Antragstellung des Untersuchungsausschusses bzw eines Viertels seiner Mitglieder beim VfGH zu laufen. Diese Frist würde in unzulässiger Weise verkürzt, wenn nicht auf das Einlangen beim Untersuchungsausschuss abgestellt würde.

Die - verfristete - Begründung des Bundeskanzlers für die teilweise Ablehnung der Vorlage der begehrten Akten und Unterlagen war nicht geeignet, eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und dem einschreitenden Viertel des Untersuchungsausschusses auszuschließen. Sowohl aus der Aufforderung gemäß §27 Abs4 VO-UA als auch aus der Begründung des vorliegenden Antrages geht in hinreichend konkreter Weise hervor, dass sich der Antrag auf die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Begründung der teilweisen oder gänzlichen Ablehnung der Vorlage bestimmter Akten und Unterlagen an den Ibiza-Untersuchungsausschuss im Rahmen seines Untersuchungsgegenstandes bezieht. Der Bundeskanzler hat dem Ibiza-Untersuchungsausschuss bereits Akten und Unterlagen betreffend die Stabsstelle Think Austria vorgelegt. Da diese Vorlage jedoch erst nach Ablauf der (Nach-)Frist des §27 Abs4 VO-UA erfolgte, ist diese nicht geeignet, das Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem antragstellenden Viertel des Untersuchungsausschusses und dem Bundeskanzler auszuschließen. Der Antrag ist daher zur Gänze zulässig.

Vor dem Hintergrund der Verpflichtung des VfGH gemäß §56f Abs3 VfGG, über eine Meinungsverschiedenheit ua zwischen einem Untersuchungsausschuss des Nationalrates und einem informationspflichtigen Organ über die Verpflichtung, dem Untersuchungsausschuss Informationen zur Verfügung zu stellen, auf Grund der Aktenlage und ohne unnötigen Aufschub (tunlichst binnen vier Wochen nach vollständiger Einbringung des Antrages) zu entscheiden, sowie der befristeten Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses hat das vorlagepflichtige Organ seiner bestehenden Behauptungs- und Begründungspflicht für die fehlende (potentielle) abstrakte Relevanz der nicht vorgelegten Akten und Unterlagen für den Untersuchungsgegenstand bereits gegenüber dem Untersuchungsausschuss und nicht erst im Verfahren vor dem VfGH diesem gegenüber nachzukommen, um zunächst dem Untersuchungsausschuss eine Überprüfung und allfällige Bestreitung der Argumentation zu ermöglichen und diese einer etwaigen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung unterziehen zu können. Das bewirkt auch, dass das vorlagepflichtige Organ die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses nicht dadurch verzögern kann, dass es Gründe für die Verweigerung der Vorlage der begehrten Akten und Unterlagen ohne jede Einschränkung auch nach einer bereits vom VfGH ausgesprochenen Vorlageverpflichtung (erstmals) gegenüber dem Untersuchungsausschuss vorbringt.

Soweit der Bundeskanzler argumentiert, das einschreitende Viertel des Untersuchungsausschusses habe mit seiner Aufforderung gemäß §27 Abs4 VO-UA eine unzulässige Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes vorgenommen, weil Akten und Unterlagen unabhängig von ihrer abstrakten Relevanz für den Untersuchungsgegenstand begehrt worden seien, was zur Unzulässigkeit der Verlangen und der Aufforderung führe, ist darauf zu verweisen, dass dieses Vorbringen erstmals im Verfahren vor dem VfGH erstattet wird. Aus diesem Grund ist auf das diesbezügliche Vorbringen des Bundeskanzlers nicht weiter einzugehen. Entsprechendes gilt auch für das Vorbringen des Bundeskanzlers, dass erstens die Vorlage von Akten und Unterlagen verweigert werden könne, weil durch die Vorlage eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten bewirkt werden könne, und zweitens das einschreitende Viertel des Untersuchungsausschusses seiner Begründungspflicht in Bezug auf seine Verlangen und die Aufforderung gemäß §27 Abs4 VO-UA nicht nachgekommen sei; auch diese Argumente finden sich erstmals in der Äußerung an den VfGH.

Das Vorbringen des Bundeskanzlers, soweit dieses in seinem - nach Ablauf der vom Untersuchungsausschuss gesetzten Frist abgefertigten - Schreiben vom 08.03.2021 enthalten ist, wurde gegenüber dem einschreitenden Viertel des Untersuchungsausschusses nicht rechtzeitig erstattet. Dessen ungeachtet hat der Bundeskanzler auch mit diesem Schreiben seiner Begründungspflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht entsprochen: Der Bundeskanzler ist im vorliegenden Fall als vorlagepflichtiges Organ grundsätzlich zur Vorlage aller vom einschreitenden Viertel des Untersuchungsausschusses begehrten Akten und Unterlagen verpflichtet, außer er legt mit hinreichender Begründung dar, warum bestimmte Akten und Unterlagen nicht von abstrakter Relevanz für den Untersuchungsgegenstand sind, wären oder gewesen wären. Da der Bundeskanzler lediglich seiner diesbezüglichen Behauptungs-, nicht aber auch seiner Begründungspflicht gegenüber dem Ibiza-Untersuchungsausschuss entsprochen hat, ist er verpflichtet, diesem sämtliche von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses begehrte Akten und Unterlagen vorzulegen.

Hat der VfGH im Verfahren nach Art138b Abs1 Z4 B-VG einmal die Verpflichtung zur Vorlage der genannten Akten und Unterlagen ausgesprochen, kann das vorlagepflichtige Organ, hier der Bundeskanzler, die Vorlage dieser Akten und Unterlagen nicht mehr unter Berufung auf Ausnahmetatbestände verweigern, die ihre Grundlage in Art53 B-VG haben, soweit er deren Vorliegen gegenüber dem Untersuchungsausschuss bis zum Ende der gemäß §27 Abs4 VO-UA gesetzten Frist nicht behauptet und hinreichend begründet hat. Nach der Rsp des VfGH hat das vorlagepflichtige Organ seiner Begründungspflicht nämlich bereits gegenüber dem Untersuchungsausschuss, und zwar spätestens bis zum Ende der gemäß §27 Abs4 VO-UA gesetzten Frist, (vollständig) nachzukommen. Nach Ablauf dieser Frist und einer durch den VfGH im Verfahren nach Art138b Abs1 Z4 B-VG ausgesprochenen Vorlageverpflichtung kann lediglich der in Art53 Abs4 B-VG normierte Ausnahmetatbestand der Beeinträchtigung der rechtmäßigen Willensbildung der Bundesregierung oder von einzelnen ihrer Mitglieder oder ihrer unmittelbaren Vorbereitung dem vorlagepflichtigen Organ bei Vorliegen besonderer Umstände im Einzelfall (etwa weil Sachverhalte, die das Vorliegen der rechtmäßigen Willensbildung der Bundesregierung oder von einzelnen ihrer Mitglieder oder ihre unmittelbare Vorbereitung betreffen, neuen Entwicklungen seit dem Ende der Frist gemäß §27 Abs4 VO-UA unterliegen können) die Möglichkeit einräumen, die Vorlage von Akten und Unterlagen an den Untersuchungsausschuss abzulehnen. Das vorlagepflichtige Organ hat dies unverzüglich, spätestens aber bis zum Ablauf der Leistungsfrist zur Vorlage der vom Spruch des VfGH umfassten Akten und Unterlagen gegenüber dem Untersuchungsausschuss begründet vorzubringen. Ob das vorlagepflichtige Organ in diesem Fall insoweit seiner verfassungsrechtlichen Vorlageverpflichtung nachkommt, kann erneut zum Gegenstand eines Verfahrens vor dem VfGH nach Art138b Abs1 Z4 B-VG gemacht werden.

Zweck eines Verfahrens gemäß Art138b Abs1 Z4 B-VG ist es, über eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Untersuchungsausschuss bzw einem Viertel der Mitglieder eines Untersuchungsausschusses und einem vorlagepflichtigen Organ über die Verpflichtung, dem Untersuchungsausschuss Informationen, im konkreten Fall die Akten und Unterlagen der Stabsstelle Think Austria sowie anderer Organisationseinheiten des Bundeskanzleramtes im Hinblick auf die Tätigkeit der Stabsstelle Think Austria, vorzulegen, zu entscheiden. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass das vorlagepflichtige Organ dem VfGH nicht nur jene Akten und Unterlagen vollständig vorlegt, die nach seiner Auffassung für den Untersuchungsgegenstand von abstrakter Relevanz sind, sondern auch jene Akten und Unterlagen, die es nach seiner Prüfung als nicht abstrakt relevant eingestuft hat. Erst durch eine solche (umfassende) Aktenvorlage wird der VfGH in die Lage versetzt, die Rechtmäßigkeit der Begründung für die Ablehnung durch das vorlagepflichtige Organ zu überprüfen.

Dieser Verpflichtung des Bundeskanzlers zur Vorlage der Akten und Unterlagen an den VfGH stehen auch die §§79e ff BDG 1979 nicht entgegen. Allfällige dienstrechtliche Vorgaben - etwa auch die Regelungen des VertragsbedienstetenG 1948 - entbinden das vorlagepflichtige Organ nämlich nicht von seiner Verpflichtung gemäß Art53 B-VG sowie §20 Abs3 VfGG, die angeforderten Akten und Unterlagen dem VfGH (vollständig) vorzulegen, damit dieser seiner sich aus Art138b Abs1 Z4 B-VG ergebenden Entscheidungspflicht nachkommen kann.

Im vorliegenden Verfahren war allerdings die Nichtvorlage aller Bezug habenden Akten und Unterlagen für die Entscheidung des VfGH schon deswegen nicht von Bedeutung, weil der VfGH seine Entscheidung bereits auf Grund des Vorbringens der Parteien sowie der sonstigen Aktenlage treffen konnte. Da der Bundeskanzler nämlich seiner Begründungspflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht nachgekommen ist, erübrigt sich eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Begründung unter Bezugnahme auf die begehrten Akten und Unterlagen durch den VfGH.

Kommt das vorlagepflichtige Organ nur seiner Behauptungspflicht nach, begründet es aber die Ablehnung der Vorlage der geforderten Akten und Unterlagen gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht oder in ungenügender Weise, gelten die vom antragstellenden Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses geforderten Akten und Unterlagen als vom Untersuchungsgegenstand erfasst, weswegen auszusprechen ist, dass alle in Rede stehenden Akten und Unterlagen dem Untersuchungsausschuss vorzulegen sind. In weiterer Folge kann sich der Bundeskanzler als vorlagepflichtiges Organ gegenüber dem Untersuchungsausschuss daher nicht auf die fehlende abstrakte Relevanz der begehrten Akten und Unterlagen berufen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Untersuchungsausschuss, Nationalrat, Bundeskanzler, Datenschutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:UA3.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.05.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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