TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/14 Ra 2020/18/0126

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Veröffentlicht am 14.04.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
E6J
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57 Abs1 Z3
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
EURallg
32011L0095 Status-RL Art10 Abs1 litd
32011L0095 Status-RL Art4 Abs3 lita
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2 litc
62012CJ0199 VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des J J, vertreten durch Mag. Dr. Thomas Kaps, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Hellbrunner Straße 11, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Februar 2020, W195 2205345-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Bangladeschs, stellte am 26. Februar 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Als Fluchtgrund brachte er zusammengefasst vor, in Bangladesch aufgrund seiner Homosexualität im Allgemeinen, sowie aufgrund eines Vorfalls, bei dem er mit seinem Partner bei homosexuellen Handlungen beobachtet, deswegen angegriffen und bei der lokalen Polizeiinspektion angezeigt worden sei, strafrechtlich verfolgt zu werden.

2        Mit Bescheid vom 13. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß § 25a VwGG für nicht zulässig.

4        Begründend hielt das BVwG zusammengefasst fest, es sei dem Revisionswerber mit seinem Vorbringen nicht gelungen, eine in seinem Herkunftsstaat bestehende konkrete Bedrohungssituation für seine Person glaubhaft zu machen. Es werde - auch im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 7. November 2013, Rechtssachen X, Y und Z, C-199/12 bis C-201/12 - nicht verkannt, dass gemäß den getroffenen Länderfeststellungen homosexuelle Handlungen in Bangladesch unter Strafe gestellt seien; es gehe jedoch aus den Länderberichten nicht hervor, dass aufgrund der gegenständlichen Strafbestimmung tatsächlich Freiheitsstrafen verhängt würden. Auch werde nicht übersehen, dass Homosexualität gemäß den Länderfeststellungen in Bangladesch verpönt sei und es in Einzelfällen zu Diskriminierungen und Misshandlungen komme. Dieses gesellschaftliche Diskriminierungspotenzial erreiche jedoch nicht ein derartiges Ausmaß, dass bereits jeder in Bangladesch lebende homosexuell orientierte Mann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu fürchten habe. Dass der Revisionswerber bei Rückkehr aufgrund seiner sexuellen Orientierung asylrelevante Verfolgungshandlungen erdulden müsse, sei daher äußerst unwahrscheinlich. Zudem stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

5        Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG habe rechtsirrig die Glaubhaftmachung einer Verfolgungsgefahr verneint, sowie zu Unrecht angenommen, dass dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Zudem habe das BVwG die Begründungspflicht verletzt, weil es unterlassen habe, genaue und aktuelle Länderberichte aus verschiedenen Quellen einzuholen. Schließlich bringt die Revision vor, das BVwG habe seine Ermittlungspflicht verletzt, weil es die erforderlichen Ermittlungen in Bezug auf die vom Revisionswerber vorgelegte Beschwerde, die bei der Polizei im Herkunftsort wegen seiner Homosexualität gegen ihn eingebracht worden sei, unterlassen habe.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes wurden vor dem Hintergrund der Statusrichtlinie (nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU) in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12 im Urteil vom 7. November 2013 zur Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung folgende Vorgaben gemacht: Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie ist dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, stellt noch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 iVm Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar. Die nationalen Behörden haben, wenn ein Asylwerber geltend macht, dass in seinem Herkunftsland Rechtsvorschriften bestünden, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten, im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände nach Art. 4 der Statusrichtlinie alle das Herkunftsland betreffenden relevanten Tatsachen einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, zu prüfen, wie dies in Art. 4 Abs. 3 lit. a der Statusrichtlinie vorgesehen ist. Von einem Asylwerber kann nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält, um eine Verfolgung zu vermeiden (vgl. VwGH 16.11.2016, Ra 2015/18/0295, sowie VwGH 25.6.2020, Ra 2019/18/0444, jeweils mwH auf EuGH 7.11.2013, Minister voor Immigratie en Asiel/X, Y, Z, C-199/12 bis C-201/12).

10       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt neben der Verfolgung durch staatliche Akteure auch einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden ist dabei grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 23.2.2021, Ra 2020/18/0500, mwN).

11       Der Verwaltungsgerichtshof ist zwar zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat.

12       Die Beweiswürdigung ist damit nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorganges (nicht aber die konkrete Richtigkeit) handelt bzw. darum, ob die Beweisergebnisse, die in diesem Denkvorgang gewürdigt wurden, in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. dazu etwa VwGH 6.8.2020, Ra 2020/18/0017, mwN).

13       Im angefochtenen Erkenntnis führte das BVwG unter Zugrundelegung von Länderfeststellungen aus, dass es dem Revisionswerber nicht gelungen sei, eine in seinem Herkunftsstaat bestehende konkrete Bedrohungssituation für seine Person glaubhaft zu machen. Es erwog in Bezug auf den vom Revisionswerber vorgebrachten Vorfall, bei dem er mit seinem Partner bei homosexuellen Handlungen beobachtet, angegriffen und in der Folge polizeilich angezeigt worden sein solle, dass ein einmaliger körperlicher Übergriff, bei dem der Revisionswerber nicht verletzt worden sei und der anschließend bloß eine Anzeige zur Folge gehabt habe, noch keine asylrelevante Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. der einschlägigen Judikatur darstelle. Das ergebe sich aus dem Umstand, dass es zu keiner systematischen Verfolgung Homosexueller in Bangladesch komme. In Bangladesch stünden homosexuelle Beziehungen zwar unter Strafe; der die Homosexualität pönalisierende § 377 des bengalischen Strafgesetzbuches (BPC) werde jedoch aktuell nicht angewandt, weshalb keine staatliche Bestrafung des Revisionswerbers zu befürchten sei. Dass Homosexuelle von bestimmten Gesellschaftskreisen schikaniert oder diskriminiert würden, komme zwar vor; dies erfolge jedoch nicht systematisch. Außerdem gebe es in Bangladesch mehrere NGOs und Onlinegemeinschaften für homosexuelle Männer. Zudem sei die Homosexuellenszene in Bangladesch im Wachsen begriffen und feiere immer wieder kleine Erfolge. Die Zahl an sichtbar homosexuellen Männern in Dhaka und Chittagong steige merklich an. Auch in Sylhet und Khulna gebe es eine (wenn auch schwach ausgeprägte) Szene. Zu erwähnen seien auch die sog. „Hijras“, denen Eunuchen und Personen mit unterentwickelten oder missgebildeten Geschlechtsorganen zugerechnet werden würden. Diese seien am 15. November 2013 legal als das „dritte Geschlecht“ anerkannt worden, was eine gewisse Progressivität indiziere. Es sei daher äußerst unwahrscheinlich, dass der Revisionswerber bei Rückkehr asylrelevante Verfolgungshandlungen aufgrund seiner vorbringlichen sexuellen Orientierung erdulden müsse. Zudem hätte er die Möglichkeit gehabt, eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch zu nehmen, zumal es sich bei Bangladesch um den achtbevölkerungsreichsten Staat der Erde handle und dieser über kein organisiertes Meldewesen verfüge.

14       In seine Erwägungen bezog das BVwG auch zwei Anfragebeantwortungen der BFA-Staatendokumentation aus 2013 und 2016 mit ein, zählte die darin angeführten registrierten Diskriminierungen von LGBTI-Personen in Bangladesch auf und kam zu dem Schluss, dass diese angesichts des Bevölkerungsreichtums des Staates lediglich von geringem Umfang seien und keine Systematik erkennen ließen. Zudem würden Personen gleichen Geschlechts insbesondere in großen Metropolen (etwa Dhaka) ohne große Angst zusammenleben können, sofern sie sich diskret verhielten.

15       Dagegen bringt die Revision insbesondere vor, das BVwG habe die Homosexualität des Revisionswerbers nicht in Zweifel gezogen. Zur Situation von Homosexuellen habe es selbst festgestellt, dass Homosexualität in Bangladesch gesellschaftlich absolut verpönt sei und nicht offen gelebt werden könne. Würden Homosexuelle als solche erkannt, hätten sie mit gesellschaftlicher Diskriminierung und Misshandlungen bis hin zu Mord zu rechnen. Dies gelte für das gesamte Staatsgebiet von Bangladesch. Ob eine Vollziehung des § 377 BPC drohe, sei daher unerheblich. Für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr sei es - obwohl dies im Revisionsfall durch die polizeiliche Anzeige ebenfalls indiziert sei - nicht erforderlich, dass diese direkt von staatlichen Behörden ausgehe. Es sei bereits ausreichend, wenn diese von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehe, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Aufgrund der geltenden Gesetzeslage im Herkunftsstaat, insbesondere des § 377 BPC, könne sich der Revisionswerber nicht an die staatlichen Behörden um Schutz wenden. Ein staatlicher Schutz sei somit ausgeschlossen. Das Vorliegen objektiv begründeter Furcht vor Verfolgung hätte das BVwG daher nicht ohne weitere Begründung damit verneinen dürfen, dass dem Revisionswerber (möglicherweise) keine staatliche Bestrafung drohe. Das BVwG gehe auch rechtsirrig davon aus, dass dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehen würde. Zunächst sei die Situation für Homosexuelle in ganz Bangladesch gleich. Bereits dies schließe eine innerstaatliche Fluchtalternative aus. Zudem könne von einem Asylwerber nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim halte, um eine Verfolgung zu vermeiden.

16       Damit zeigt die Revision vor dem Hintergrund der dargelegten hg. Rechtsprechung zur Verfolgung wegen sexueller Orientierung einerseits und den dem Erkenntnis vom BVwG selbst zugrunde gelegten - jedoch nicht näher in die rechtliche Beurteilung einbezogenen - Länderfeststellungen andererseits einen relevanten Begründungsmangel auf.

17       Im Übrigen stand im Entscheidungszeitpunkt des angefochtenen Erkenntnisses auch bereits eine - vom BVwG nicht berücksichtigte - aktuellere Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Lage homosexueller Personen in Bangladesch aus dem Jahr 2018 zur Verfügung („Anfragebeantwortung zu Bangladesch: Lage von LGBT-Personen, speziell in Dhaka und anderen Großstädten: Gewalt und Behandlung durch den Staat [a-10588]“, die u.a. darlegt, dass andere Gesetze als der (gegenständliche) strafrechtliche § 377 des bengalischen Strafgesetzbuches benutzt würden, um homosexuelle Frauen und Männer zu kriminalisieren. Zudem wurde darin die Frage, ob homosexuelle Personen offen in Bangladesch leben könnten, sowohl in Bezug auf ländliche als auch auf städtische Gebiete verneint.

18       Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei näherer Auseinandersetzung mit den eigenen Länderfeststellungen und der Berücksichtigung aktueller Länderberichte zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können, erweist sich der aufgezeigte Begründungsmangel als wesentlich, weshalb das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

19       Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.

20       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. April 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62012CJ0199 VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180126.L00

Im RIS seit

17.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.05.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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