TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/16 Ra 2020/21/0337

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Veröffentlicht am 16.04.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §13 Abs2
AsylG 2005 §13 Abs3
FrPolG 2005 §67
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1
FrPolG 2005 §76 Abs3
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z9
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des M J T, vertreten durch Mag. Bernd Gahler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schulerstraße 18/7, gegen das am 8. Juli 2020 mündlich verkündete und mit 1. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes W117 2232698-1/19E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 19. März 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 12. März 2018 vollumfänglich abgewiesen wurde; unter einem sprach das BFA aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und gewährte eine Frist für die freiwillige Ausreise. Das Verfahren über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht war im Zeitpunkt der Erlassung des hier in Revision gezogenen Erkenntnisses noch nicht abgeschlossen.

2        Mit Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau vom 17. Juli 2019 wurde der Revisionswerber wegen Sachbeschädigung nach § 125 StGB und wegen versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.

3        In der Folge stellte das BFA mit Bescheid vom 23. September 2019 fest, dass der Revisionswerber ab dem 9. August 2019 gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe.

4        Der Revisionswerber wurde neuerlich straffällig und am 17. April 2020 durch das Landesgericht Krems an der Donau wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB und versuchter schwerer Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten (davon 13 Monate bedingt nachgesehen) verurteilt. Am 26. Juni 2020 wurde er vorzeitig aus der Strafhaft entlassen.

5        Im unmittelbaren Anschluss daran wurde er in Schubhaft genommen. Grundlage hierfür war ein Bescheid des BFA vom 24. Juni 2020, mit dem gegen den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet worden war, wobei die Rechtsfolgen des Bescheides nach der Entlassung aus der Strafhaft eintreten sollten.

6        Die gegen diesen Bescheid und die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem nunmehr angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 und Abs. 3 Z 9 FPG als unbegründet ab. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 und Abs. 3 Z 9 FPG stellte es fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Demzufolge verpflichtete das Bundesverwaltungsgericht den Revisionswerber zum Aufwandersatz an den Bund und wies dessen Antrag auf Kostenersatz, jeweils gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG, ab.

7        Begründend stellte das Bundesverwaltungsgericht zur ersten Verurteilung des Revisionswerbers fest, dass er am 20. November 2018 eine Auseinandersetzung mit einer österreichischen Staatsbürgerin (seiner Freundin) gehabt habe, wobei die beiden einander alkoholisiert gegenseitig verletzt hätten; der Revisionswerber sei von den einschreitenden Polzeibeamten mehrmals abgemahnt worden, habe aber in seinem aggressiven Verhalten verharrt und die Beamten attackiert. Den Spruch des zweiten gegen den Revisionswerber ergangenen Strafurteils gab das Bundesverwaltungsgericht wörtlich wieder; daraus geht hervor, dass der Revisionswerber dieselbe österreichische Staatsbürgerin am 23. Jänner 2019 durch einen Schlag gegen den Hinterkopf mit einem schweren Trinkglas und am 16. März 2020 durch einen Faustschlag in das Gesicht verletzt sowie außerdem eine gefährliche Drohung gegen sie ausgesprochen und eine weitere (schwere) Körperverletzung durch Hantieren mit einem Messer versucht hatte.

8        Im Rahmen seiner Beweiswürdigung erwog das Bundesverwaltungsgericht, dass der Revisionswerber seine strafbaren Handlungen mit dem Vorliegen einer Alkoholisierung und Stress gerechtfertigt habe. Der Revisionswerber habe demnach Alkohol getrunken, um seine Probleme und die Geschehnisse der Vergangenheit zu vergessen. An der äußeren Situation, welche den Revisionswerber offensichtlich in Stress versetzt und letztlich zum Alkoholkonsum geführt habe, was wiederum die Straftaten zur Folge gehabt habe, habe sich weder zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung noch zum aktuellen Zeitpunkt etwas geändert. Es sei - im Gegenteil - ehebaldigst mit einer (negativen) Entscheidung im Asylverfahren zu rechnen, was die Leiterin der für das Asylverfahren zuständigen Gerichtsabteilung mitgeteilt habe. Eine Grobprüfung des Asylantrages, insbesondere basierend auf den Angaben des Revisionswerbers im Rahmen seiner Asyleinvernahme, habe dessen Aussichtslosigkeit ergeben. Da nach wie vor von einer „sehr hohen Stresssituation“ des Revsionswerbers auszugehen sei, dränge sich geradezu der Schluss auf, dass er, je näher die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rücke, wieder in den Alkohol flüchten und wieder ähnliche Straftaten begehen werde. Das zeige nicht nur, dass er eine Gefahr für die österreichische Gesellschaft sei, sondern es ergebe sich „als logische Konsequenz der zu erwartenden neuerlichen Straftaten“, dass sich der Revisionswerber „dem Zugriff der Justiz und damit auch den Verwaltungsbehörden entziehen“ werde.

9        In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das BFA den Sachverhalt zutreffend den Tatbeständen des § 76 Abs. 2 Z 1 und Abs. 3 Z 9 FPG unterstellt habe. Es wiederholte sodann seine Einschätzung, dass der Revisionswerber, je näher die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Asylverfahren rücke, wieder in den Alkohol flüchten und daher ähnliche Straftaten wie in der Vergangenheit begehen werde, sodass er eine große Gefahr für die österreichische Gesellschaft im Sinne des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG sei und sich dem Zugriff der Justiz und damit auch den Verwaltungsbehörden entziehen werde (Hinweis auf § 76 Abs. 3 Z 9 FPG).

10       Aufgrund der besonderen Gefährlichkeit des Revisionswerbers und der damit verbundenen Gefahr des Untertauchens, gerade im Hinblick auf die bevorstehende Asylentscheidung, habe das BFA auch zu Recht von einem gelinderen Mittel Abstand genommen. Da der Revisionsweber bis zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht lange in Schubhaft angehalten worden sei, erweise sich die bisherige Anhaltung auch in zeitlicher Hinsicht als verhältnismäßig. Aufgrund der vom Revisionswerber ausgehenden besonderen Gefährlichkeit sei dem Interesse des Staates am Vollzug fremdenrechtlicher Normen jedenfalls der Vorrang gegenüber dem Interesse des Revisionswerbers an seiner Freiheit einzuräumen. Das Gesagte gelte im Hinblick auf die bevorstehende Asylentscheidung auch für den Ausspruch über die Fortsetzung der Haft. Die weitere Anhaltung stelle sich daher jedenfalls als nicht unverhältnismäßig dar.

11       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

12       Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht - wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

13       Der Revisionswerber war bis zuletzt Asylwerber und genoss ungeachtet dessen, dass er infolge seiner Straffälligkeit sein asylrechtliches Aufenthaltsrecht nach § 13 Abs. 2 AsylG 2005 verloren hatte, gemäß § 13 Abs. 3 AsylG 2005 (weiterhin) faktischen Abschiebeschutz. Im Hinblick darauf kam die Verhängung von Schubhaft gegen den Revisionswerber von vornherein nur nach dem - vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht auch herangezogenen - Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in Betracht (vgl. VwGH 17.4.2020, Ro 2020/21/0004, Rn. 9).

14       Gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG darf Schubhaft nur angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 FPG gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist.

15       Aus dem Verweis auf § 67 FPG folgt im Einklang mit den diesbezüglichen unionsrechtlichen Vorgaben, dass eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr“ vorliegen muss, die ein „Grundinteresse der Gesellschaft berührt“ (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/21/0305, Rn. 9). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zwar - anders als das BFA im Schubhaftbescheid - nicht ausdrücklich auf diesen Gefährdungsmaßstab bezogen, ist aber angesichts der festgestellten wiederholten Straftaten und mangels Hinweisen auf einen Wegfall der Neigung des Revisionswerbers zum Alkoholmissbrauch im Ergebnis zu Recht von einer für die Anwendung des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG ausreichenden Gefährdung ausgegangen.

16       Zum angenommenen Vorliegen der nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG weiters erforderlichen Fluchtgefahr stützte sich das Bundesverwaltungsgericht auf § 76 Abs. 3 Z 9 FPG, während im Schubhaftbescheid eine ausdrückliche Bezugnahme auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 3 FPG ganz fehlt. Nach § 76 Abs. 3 Z 9 FPG ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr „der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes“ zu berücksichtigen; es darf also, um Fluchtgefahr bejahen zu können, keine maßgebliche - der Annahme einer Entziehungsabsicht entgegenstehende - soziale Verankerung des Fremden in Österreich vorliegen, was an Hand der genannten Parameter zu beurteilen ist (vgl. etwa VwGH 27.10.2020, Ra 2019/21/0274, Rn. 10, mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich allerdings mit den beim Revisionswerber nach einem mehr als vierjährigen Aufenthalt in Österreich vorhandenen Anhaltspunkten für eine soziale Verankerung - wie etwa der schon gegenüber dem BFA behaupteten Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin - nicht auseinandergesetzt.

17       Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht die Annahme einer Gefahr des Untertauchens allein damit begründet, dass es sich dabei um die „logische Konsequenz“ der zu erwartenden neuerlichen Straftaten handle. Eine mangelnde soziale Verankerung im Sinn des herangezogenen § 76 Abs. 3 Z 9 FPG wird damit nicht dargetan. Im Übrigen ist die Ableitung einer Fluchtgefahr aus den prognostizierten Straftaten schon deswegen nicht schlüssig, weil der Revisionswerber auch im Gefolge seiner bisher begangenen Straftaten nicht untergetaucht war. Generell kann ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten für sich genommen - schon mangels Nennung im Katalog des § 76 Abs. 3 FPG - keine Fluchtgefahr begründen (vgl. nochmals VwGH 27.10.2020, Ra 2019/21/0274, Rn. 12).

18       Da die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts somit weder die Schlussfolgerung, dass § 76 Abs. 3 Z 9 FPG erfüllt sei, noch die Annahme einer Fluchtgefahr zu tragen vermögen und insoweit auch schon der Schubhaftbescheid unzureichend begründet war, erweisen sich sowohl die Abweisung der Schubhaftbeschwerde als auch der Fortsetzungsausspruch und die darauf aufbauende Kostenentscheidung als rechtswidrig.

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20       Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

21       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. April 2021

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210337.L00

Im RIS seit

19.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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