TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/4 W204 2196550-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.12.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

04.12.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


1.) W204 2196545-1/7E
2.) W204 2196547-1/6E
3.) W204 2196550-1/3E
4.) W204 2196540-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX N XXXX , geb. XXXX 1989, StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Wolfgang Auner, Rechtsanwalts-Kommandit-PartnerschaftsKG in 8700 Leoben, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.04.2018, Zl. 1099771306 - 152029835, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
XXXX N XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 2, 55 Abs. 1, 2 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von M XXXX XXXX , geb. XXXX 1992, StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Wolfgang Auner, Rechtsanwalts-Kommandit-PartnerschaftsKG in 8700 Leoben, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.04.2018, Zl. 1099772009 - 152029849 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

M XXXX XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von N XXXX N XXXX , geb. XXXX 2013, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter M XXXX XXXX , geb. XXXX 1992, diese vertreten durch Mag. Wolfgang Auner, Rechtsanwalts-Kommandit-PartnerschaftsKG in 8700 Leoben, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.04.2018, Zl. 1099772205 - 152029857, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

N XXXX N XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von F XXXX XXXX , geb. XXXX 2016, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter M XXXX XXXX , geb. XXXX 1992, diese vertreten durch Mag. Wolfgang Auner, Rechtsanwalts-Kommandit-PartnerschaftsKG in 8700 Leoben, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.04.2018, Zl. 1137290401 - 161643023, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

F XXXX XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführer zu 1.) bis 3.) (im Folgenden: BF1 bis BF3), ein verheiratetes Ehepaar mit ihrem minderjährigen Kind, allesamt afghanische Staatsangehörige, reisten in das Bundesgebiet ein und stellten am 19.12.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

I.2. Am selben Tag wurden der BF1 und die BF2 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich niederschriftlich erstbefragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gaben sie an, der Bruder des BF1 habe als Soldat der afghanischen Armee eine korrupte Handlung beobachtet, woraufhin die gesamte Familie bedroht worden sei. Die letzten Jahre hätten sie im Iran gelebt.

I.3. Am 06.12.2016 wurde für die im Bundesgebiet nachgeborene BF4 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

I.4. Am 28.07.2017 gab der im Spruch genannte Vertreter seine Bevollmächtigung bekannt.

I.5. Am 14.02.2018 wurden der BF1 und die BF2 vom zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Die BF wurden dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gab der BF1 im Wesentlichen an, sein Bruder, der Soldat gewesen sei, sei einer Veruntreuung beschuldigt und deswegen angeschossen worden. Sein Bruder sei danach in den Iran gereist. Die Familie sei seitdem mehrmals in verschiedener Weise bedroht worden, auch dem BF1 sei eine Waffe an die Schläfe gehalten worden. Die Familie sei deshalb in den Iran gereist, als der BF1 noch ein Minderjähriger gewesen sei. Die BF2 ergänzte, dass es für Frauen in Afghanistan schwer sei, da sie sich nicht frei bewegen und keine Ausbildung machen dürften.

I.6. Am 26.02.2018 nahm der Vertreter zu den aktuellen Länderinformationen Stellung, worin die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens zur Richtigkeit des Vorbringens der BF beantragt wurde.

I.7. Mit den im jeweiligen Rubrum genannten Bescheiden, dem Vertreter am 23.04.2018 zugestellt, wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkte III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte VI.).

Dazu führte das BFA mit näherer Begründung aus, die BF hätten ihr Vorbringen nicht glaubhaft machen können. Die BF2 sei auch nicht „westlich“ orientiert, sodass ihnen der Status der Asylberechtigten nicht gewährt werden könne. Den BF sei eine Rückkehr nach Kabul möglich und zumutbar. Mangels Vorliegens der Voraussetzungen sei auch kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG zu erteilen. Nach Durchführung einer Interessensabwägung kam das BFA zum Schluss, dass die öffentlichen die privaten Interessen überwiegen und erließ eine Rückkehrentscheidung.

I.8. Mit Verfahrensanordnungen vom 18.04.2018 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.9. Gegen die unter I.7. genannten Bescheide richtet sich die Beschwerde vom 18.05.2018 wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, mangelhafter beziehungsweise unrichtiger Bescheidbegründung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Es wurde beantragt, den BF den Status der Asylberechtigten, in eventu jenen der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu, die Bescheide aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das BFA zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

In der Beschwerde wurde vorgebracht, dass das BFA die Minderjährigkeit der BF3 und BF4 nicht beachtet habe und sich zudem aus den Angaben des BF1 und der BF2 eine Verfolgung ergebe. Erneut wurde die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Richtigkeit der Angaben des BF1 beantragt. Ebenso wurde die Einvernahme des Bruders des BF1 beantragt.

I.10. Die Beschwerde und die Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 25.05.2018 vorgelegt, wobei das BFA auf die Durchführung und die Teilnahme an einer Verhandlung verzichtete.

I.11. Am 05.10.2020 legte das BFA den Bescheid und die Niederschrift der Einvernahme des Bruders des BF1 vor.

I.12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.10.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF und ihr Vertreter teilnahmen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt. Als Zeuge wurde der Bruder des BF1 befragt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in die die BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakte des BFA, insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung der BF als Partei und des Bruders des BF1 als Zeuge im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 22.10.2020;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die von den BF vorgelegten Stellungnahmen und Unterlagen;

-        Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

II. Feststellungen:

II.1. Zu den BF:

Die Identität der BF steht nicht fest, sie führen die im jeweiligen Spruch bzw. Rubrum angeführten Namen und Geburtsdaten. Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Moslems. Ihre Muttersprache ist Dari. Außerdem beherrschen sie Farsi.

Der BF1 und die BF2 sind miteinander verheiratet. Es handelt sich dabei um eine von den Familien arrangierte Ehe. Die BF3 und BF4 sind deren Kinder. Die BF2 ist schwanger. Der errechnete Geburtstermin ist der XXXX .2021.

Der BF1 wurde in einem Dorf im Distrikt XXXX in der Provinz Kapisa als siebentes Kind seiner Eltern geboren und ist dort mit seinen Eltern und seinen Geschwistern aufgewachsen. Vor seiner Ausreise lebte der BF1 mit seiner Familie abwechselnd in Kapisa am Hof der Familie und in Kabul in einem Haus, das im Eigentum der Familie stand und steht. Die Familie pendelte zwischen ihren beiden Wohnsitzen und hielt sich in Kapisa vor allem zur Erntezeit auf. Die Fahrzeit zwischen diesen beiden Orten beträgt etwa eine Stunde. In Afghanistan besuchte der BF1 etwa zwei Jahre eine Schule. Etwa im Jahr 2000/2001 zog der BF1 mit seiner Familie in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr 2015 lebte. Dort besuchte er einen Alphabetisierungskurs, in dem er ein wenig Lesen und Schreiben lernte. Im Iran arbeitete der BF1 auf Baustellen. Die Familie verfügte im Heimatdorf über landwirtschaftlich genützte Grundstücke, die verpachtet waren und auf denen unter anderen Maulbeerbäume angepflanzt waren.

Die BF2 wurde im selben Dorf wie der BF1 geboren, wo sie mit ihren Eltern und Geschwistern am Hof der Großfamilie in einem eigenen Haus aufgewachsen ist. Sie hat Afghanistan im Alter von etwa sechs Jahren gemeinsam mit ihrer Familie verlassen. Im Iran hat sie bis zu ihrer Ausreise nach Europa im Jahr 2015 zuerst gemeinsam mit ihrer Familie und dann mit dem BF1 zusammengelebt. Sie hat im Iran ein Jahr eine Schule besucht. Sie hat sich zu Hause durch die Bücher ihrer Brüder das Schreiben und Lesen selbst beigebracht. Außerdem lernte sie zu Hause das Schneidern von ihrer Mutter. Sie hat keinen Beruf ausgeübt und war Hausfrau.

Die BF3 ist im Iran geboren, die BF4 im Bundesgebiet. Sie befanden sich stets im familiären Umfeld.

Die BF sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF1 und die Kinder sind gesund. Die BF2 hat eine Schilddrüsenüberfunktion, die bereits im Heimatland bestand und im Bundesgebiet nunmehr medikamentös behandelt wird. Aufgrund ihrer Schwangerschaft nimmt sie außerdem ein Eisenpräparat.

Der BF1 und die BF2 sind arbeitsfähig.

II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Der Bruder des BF1 war in Afghanistan etwa bis 2000/2001 Chauffeur bei der afghanischen Armee und wurde von einem Kommandanten zu Unrecht eines strafrechtlichen Delikts beschuldigt. Dem Bruder des BF1 wurde deswegen in Österreich vom BFA der Status des Asylberechtigten gewährt. Der BF1 oder seine Familie wären deswegen bei einer Rückkehr keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt.

Die BF2 besuchte im Bundesgebiet mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1 und verfügt über ÖSD-Zertifikate auf dem Niveau A1 und A2. Sie hat an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen und die Integrationsprüfung des ÖIF auf dem Niveau B1 bestanden. Sie trägt im Bundesgebiet zumeist kein Kopftuch. Sie hat mehrere Kurse beim Österreichischen Roten Kreuz und beim Österreichischen Integrationsfonds besucht. Auf Basis von Dienstleistungsschecks ist sie bei einer älteren Dame mit Haushaltsarbeiten beschäftigt. Ansonsten ist die BF2 nicht ehrenamtlich tätig und auch kein Mitglied eines Vereins. Sie besucht derzeit keine Kurse. Sie bewegt sich im Freundeskreis ihres Mannes und ansonsten im Wesentlichen im Kreis ihrer Familie oder ihrer Freunde aus der Nachbarschaft.

Die BF2 hat während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebte.

Die BF3 und die BF4 können in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif altersentsprechend eine Schule besuchen.

II.3. Zum (Privat-)Leben der BF in Österreich:

Die BF1 bis BF3 reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein. Sie halten sich zumindest seit dem 19.12.2015 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihrem Antrag auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Die BF4 wurde im Bundesgebiet am XXXX 2016 geboren und ist seit dem für sie am 06.12.2016 gestellten Antrag auf internationalen Schutz aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF1 besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1. Er verfügt über Zertifikate des ÖSD auf dem Niveau A1 und A2, wobei er die Prüfung zum Niveau A2 im Dezember 2017 ablegte. Er tätigte Hilfsarbeiten in seiner Wohngemeinde und ist seit Jänner 2019 ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Österreichischen Roten Kreuz in den Gesundheits- und Sozialen Diensten. Der BF1 ist aktiver Sportler der Sektion Faustball des Sportvereins seiner Wohngemeinde und ist im Verein gut integriert. Er engagiert sich dort auch ehrenamtlich etwa bei Vereinsfesten. Er hat eine Einstellungszusage.

Die BF3 besuchte den Kindergarten und nunmehr die Volksschule, die BF4 besucht den Kindergarten. Sie sind in ihren jeweiligen Gemeinschaften gut integriert.

Die BF sind gut in ihrer Wohngemeinde integriert und haben freundschaftliche Beziehungen zu dort wohnhaften Familien.

Die BF beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Gelegentlich wird der BF1 von seinem Bruder, der im Bundesgebiet Asylberechtigter ist, finanziell unterstützt.

Die BF sind strafrechtlich unbescholten.

II.4. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

Der Vater des BF1 ist an einem natürlichen Tod verstorben. Die Mutter des BF1 lebt im Iran bei einem ihrer Söhne. Der BF1 hat drei ältere Brüder. Ein Bruder ist verschollen. Ein weiterer Bruder lebt im Bundesgebiet als Asylberechtigter. Dieser absolviert gerade den Taxischein. Der dritte Bruder lebt im Iran. Der BF1 hat fünf Schwestern, von denen zwei im Bundesgebiet leben. Eine dieser Schwestern ist Asylberechtigte, der anderen wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Den Verwandten im Iran geht es gut. Der Bruder arbeitet im Baubereich, die Schwestern sind verheiratet und Hausfrauen, deren Ehemänner arbeiten.

Ein Onkel väterlicherseits des BF1 wohnt in Afghanistan in Kabul in einem eigenen Haus. Eine Tante väterlicherseits lebt ebenso wie eine Tante mütterlicherseits in Kapisa. Eine weitere Tante mütterlicherseits lebt in Kabul. Der BF1 hat mehrere Onkel mütterlicherseits, einige davon leben im Iran, zwei in Kabul und einer in Kapisa. Die Verwandten in Kapisa leben auf ihren eigenen Grundstücken und arbeiten zumeist als Fahrer.

Das Haus und die Grundstücke der Familie des BF1 in seinem Geburtsort sind nach wie vor im Eigentum der Familie und stehen derzeit leer. Das Haus ist teilweise zerstört. Auch das Haus in Kabul, ein zweigeschossiger Bau mit acht Zimmern, steht nach wie vor im Eigentum der Familie. Es ist derzeit vermietet. Die Mieteinnahmen werden vom in Kabul lebenden Onkel väterlicherseits eingetrieben und der Mutter des BF1 in den Iran überwiesen.

Die Fluchtkosten der BF betrugen ca. 25.000.000 iranische Toman. Ein Teil dieser Kosten war das Ersparte des BF1, den größeren Teil borgte er sich von Angehörigen seiner Volksgruppe aus.

Der BF1 hat Kontakt zu Teilen seiner Verwandten und kann über diese den Kontakt zu den anderen Familienangehörigen jedenfalls wiederaufnehmen.

Die Eltern der BF2 leben im Iran. Außerdem leben im Iran sechs Brüder und eine Schwester der BF2. Ein Bruder lebt noch bei den Eltern, die anderen Geschwister sind verheiratet und führen eigene Haushalte. Der Vater der BF2 ist Pensionist, die Brüder Köhler. Ihrer Familie im Iran geht es wirtschaftlich gut. Eine weitere Schwester der BF2 ist verheiratet und lebt mittlerweile in Pakistan, nachdem sie zuvor in Kabul lebte. Das Haus der Familie in ihrem Geburtsort steht nach wie vor im Eigentum der Familie, ist jedoch zerstört. Der Familie gehört außerdem ein Haus in Kabul.

Ein Onkel mütterlicher- und drei Onkel väterlicherseits wohnen im Geburtsort der BF2. Zwei Onkel und vier Tanten mütterlicherseits wohnen in Kabul. Einige Verwandte leben in Pakistan.

Die BF2 hat regelmäßigen Kontakt zu ihren Familienangehörigen.

Die BF könnten bei einer Ansiedlung in Afghanistan bei einer Rückkehr nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif von ihren Angehörigen finanziell in für Afghanistan überdurchschnittlichem Maß unterstützt werden. Sie können auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Die BF könnten bei einer Rückkehr und Ansiedlung in Kabul in einem der Häuser der Familien oder auch beim Onkel des BF1 zumindest vorübergehend wohnen. Dadurch stehen den BF eine sofortige Unterkunft, grundlegende Versorgung (Trinkwasser, sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung) und Lebensgrundlagen zur Verfügung. In Herat oder Mazar-e Sharif könnten sie durch die finanzielle Unterstützung, insbesondere durch die Mieteinnahmen aus dem Haus in Kabul, eine Wohnung oder ein Haus mieten oder kaufen, wodurch ihr Wohnbedürfnis sofort gestillt wäre. Die in Afghanistan wohnhaften Verwandten könnten dies bereits vor der Rückkehr der BF nach Afghanistan organisieren.

Dem BF1 ist es aufgrund seiner langjährigen Berufserfahrung und durch die Kontakte der in Afghanistan lebenden Familienmitglieder möglich, sich am dortigen Arbeitsmarkt wieder einzugliedern und einen Beruf auszuüben. Ebenso kann die BF2 nach ihrer Schwangerschaft und der Geburt sowie einer Zeit des Mutterschutzes bzw. der Elternkarenz durch eigene Arbeitstätigkeit, allenfalls auch durch Heimarbeit, zum Einkommen der Familie beitragen. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einer realen Gefahr des Todes oder der Folter beziehungsweise der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt wären oder die bloße Anwesenheit sie wegen der dortigen Lage einer integritäts- oder lebensbedrohlichen Situation aussetzen würde. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht im Stande wären, für ein ausreichendes Auskommen zur Sicherung ihrer Grundbedürfnisse zu sorgen. Sie laufen nicht Gefahr, in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Den minderjährigen Kindern ist es bei einer Rückkehr möglich, die Schule zu besuchen. Es wäre den BF möglich, ein Leben wie ihre Landsleute zu führen.

Die BF sind mit der Situation in Kabul gut vertraut. Sie können mit der dortigen Situation auch durch die dort lebenden Angehörigen des BF1 vertraut gemacht werden. Den minderjährigen BF droht in Kabul keine reale Gefahr einer Gewalt durch die Familie oder in der Schule. In Herat oder Mazar-e Sharif könnten sich die BF rasch mit der dortigen Lage vertraut machen.

II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit letzter Information vom 21.07.2020 (LIB),

-        Kurzinformation der Staatendokumentation: COVID-19 Afghanistan; Stand 09.04.2020 (BFA KI 09.04.2020),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),

-        Arbeitsübersetzung EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke),

-        ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 02.10.2019 (ECOI) und

-        EASO: Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (EASO Indikatoren).

II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

II.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19). Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken. Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (LIB, Kurzinformation, 21.07.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

II.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 35.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 1.280 sind daran gestorben. Wahrscheinlich werden aufgrund verschiedener Umstände zu wenig bestätigte Fälle und Todesfälle gemeldet. 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar. Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

II.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

II.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 2).

II.5.9 Provinzen und Städte

II.5.9.1. Herkunftsprovinz BF1 und BF2 Kapisa

Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben. Die Provinz hat 479.875 Einwohner (LIB, Kapitel 2.16).

Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen. Die Taliban sind in entlegeneren Distrikten der Provinz aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung oder Sicherheitskräfte durchzuführen. Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch. Es werden auch Luftangriffe ausgeführt. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 124 zivile Opfer (49 Tote und 75 Verletzte) in der Provinz Kapisa. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffe (LIB, Kapitel 2.16).

In der Provinz Kapisa kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

II.5.9.2. zweite Herkunftsprovinz des BF1 Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

II.5.9.3. Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

II.5.9.4. Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten