TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/7 W111 2220898-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.12.2020
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Entscheidungsdatum

07.12.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W111 2196065-1/12E

W111 2196077-1/12E

W111 2196070-1/10E

W111 2196073-1/10E

W111 2220898-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , 2) XXXX , geb. XXXX , 3) XXXX , geb. XXXX , 4), XXXX , geb. XXXX , und 5) XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.04.2018 bzw. 28.05.2019, 1) Zl. 1148425505 – 170689839/BMI-BFA_STM_RD, 2) 591496509 – 170689871/BMI-BFA_STM_RD, 3) 1148424802 – 170690004/BMI-BFA_STM_RD 4) 1148424900 – 170690025/BMI-BFA_STM_RD, und 5) 1230751308/190514795/BMI-BFA_STM_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1) XXXX 2) XXXX 3) XXXX 4) XXXX und 5) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) ist der Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin (BF2), beide sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer (BF3 – BF5). Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.

2. Die BF1 bis BF4 stellten nach legaler Einreise (Visum) am 12.06.2017 Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen der BF1 und die BF2 am selben Tag niederschriftlich erstbefragt wurden.

Der BF1 gab zusammengefasst und sinngemäß an, dass er als Manager in einem Kaffeehaus gearbeitet habe. Am 03.03.2017 sei es in diesem Kaffeehaus zu einer politischen Diskussion zum Thema Krim gekommen. Er habe gegenüber den Gästen seine persönliche Meinung dazu geäußert, wonach die Krim zur Ukraine gehöre. Die Gäste hätten ihn daraufhin angegriffen und geschlagen. Der Kassamitarbeiter habe die Rettung und Polizei verständigt. Die Gäste seien von der Polizei entlassen worden, der BF1 sei jedoch für 15 Tage eingesperrt worden. Seine Gattin habe 100.000,- Rubel bei der Polizei hinterlegen müssen, und er sei dann unter einer Bedingung aus der Haft entlassen worden. Der Leiter der Polizeidienststelle habe gesagt, dass der BF1 wählen könne, entweder er zahle 1.000.000,- Rubel an die Dienststelle oder er wähle zwei Jahre Haft bzw. Verurteilung für Separatismus.

Im Übrigen werde er in Russland wegen seiner Nationalität diskriminiert, sowohl im beruflichen als auch im täglichen Leben. Weitere Gründe habe er nicht.

Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor einer Verhaftung bzw. Verurteilung.

Die BF2 gab im Zuge der Erstbefragung im Wesentlichen an, dass ihr Ehemann, der BF1, für 15 Tage bei einer Polizeidienststelle eingesperrt worden sei. Nachdem sie 100.000,- Rubel an die Polizei gezahlt habe, sei er entlassen worden. Ihr Mann sei unschuldig, er habe nur seine politische Meinung am Arbeitsplatz geäußert. Der Leiter der Polizeidienststelle würde den Akt nur dann schließen, wenn sie 1.000.000,- Rubel an ihn bezahlen würden. Das hätten sie aber nicht tun können. Aus Angst vor einer Verurteilung habe ihr Mann beschlossen, zu fliehen. Zudem würden sie wegen ihrer Nationalität diskriminiert werden. Sie stelle auch einen Asylantrag für ihre beiden Kinder, BF3 und BF4, welche die selben Fluchtgründe hätten.

Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Mann verhaftet und verurteilt werden würde.

3. Am 20.03.2018 wurde der BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen. Unter einem wurden Unterlagen vorgelegt.

Der BF1 brachte anlässlich jener Einvernahme zusammenfassend und sinngemäß vor, dass er in einem Cafe gearbeitet habe. Am 03.03.2017 sei es unter den Gästen zu einem Gespräch über die Krim gekommen. Er habe dazu seine Meinung geäußert. Er habe gesagt, dass Russland es nicht richtig gemacht habe, indem sie die staatliche Unversehrtheit von der Ukraine verletzt habe und die Krim annektiert habe. Drei Gäste seien deswegen sehr aggressiv geworden und einer habe ihn attackiert. Im Cafe gebe es einen Notfallknopf, bei dem die Security alarmiert werde. Diese habe dann auch die Polizei gerufen. Die Polizei habe dann die drei Männer und ihn mitgenommen. Dort habe er dann seine Meinung über die Krim wiederholt. Die drei Männer seien freigelassen worden und er sei festgenommen worden. Er habe später erfahren, dass er nach dem „§ 280 Abs. 1“ festgenommen worden sei. Ihm sei erklärt worden, dass er zum Zerfall der Russischen Föderation aufgerufen habe. Ihm sei sein Handy abgenommen worden und so habe er seine Frau nicht verständigen können. Am zweiten Tag sei sie selbst zur Polizei gekommen. Der BF1 habe gesagt, sie solle einen Anwalt engagieren. Es sei nämlich so, dass jeder der ein Cafe betreibe, der Polizei ca. 200 Euro im Monat bezahle, um in Ruhe arbeiten zu können. Wenn es mit dem Anwalt nicht funktionieren solle, sollte seine Frau den Polizisten namens „ XXXX “ kontaktieren. Diesen Polizisten habe er monatlich die 200 Euro gegeben. Seine Frau sei dann bei dem Anwalt gewesen. Dieser sei ein guter Freund. Der Anwalt habe jedoch gesagt, dass sie gegen diesen Paragraphen keine Chance hätten. Deswegen habe seine Frau den Polizisten angerufen. Seine Frau habe „ XXXX “ 100.000 Rubel zahlen müssen, damit dieser mit seinem Chef namens „ XXXX “ rede. 15 Tage nach der Festnahme sei der BF1 wieder freigelassen worden. Zwei Tage später habe er sich mit „ XXXX “ in einem Cafe getroffen. Er habe ihm gesagt, dass er gegen eine Bezahlung von 1.000.000 Rubel die Anklageerhebung gegen diesen Paragraph „280 Abs. 1“ gegen ein Bagatelldelikt ändern werde. Der BF1 habe jedoch „auf die Schnelle“ nicht so viel Geld gehabt und habe, um eine Frist bis Ende Juni gebeten. Der BF1 habe ihm gesagt, dass er auch eine Wohnung habe. Im schlimmsten Fall würde er diese verkaufen. Nach seiner Freilassung, noch vor dem Treffen mit „ XXXX “, habe seine Frau die Visa für die Familie beantragt. Am 10. April hätten sie die Visa bekommen und seien am 2. Juni in XXXX angekommen. Im Übrigen sei er immer wieder mit Rassismus konfrontiert gewesen. Bei einer Rückkehr würde er von der Polizei verhaftet bzw gefoltert werden.

Am selben Tag wurde die BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen.

In dieser Einvernahme gab sie im Wesentlichen und sinngemäß an, dass sie hauptsächlich wegen ihres Mannes geflohen sei. Er liebe es über Politik zu reden. Ihr Sohn sei auch immer beleidigt worden, weil er kein typischer Russe sei. Wenn man erfahren hätte, dass sein Vater wegen dieses Vorfalls im Gefängnis gewesen sei, wäre er noch mehr diskriminiert worden. Gefragt, ob es sonstige Fluchtgründe gebe, verneinte sie dies.

4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 05.04.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz der BF1 bis BF4 sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkte II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen BF1 bis BF4 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.). In den Spruchpunkten V. wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF1 bis BF4 in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist. Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VI.).

Der Begründung ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die Identität der BF1 bis BF4 feststehe. Es könne nicht festgestellt werden, dass sie zu befürchten hätten, in der Russischen Föderation verfolgt zu werden. Dies wurde insbesondere mit widersprüchlichen Angaben zwischen BF1 und BF2 sowie nicht glaubhaften Angaben begründet. Weiters werde davon ausgegangen, dass ihnen keine Gefahren drohen würden, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Zudem sei die Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA-VG zulässig.

5. Dagegen wurden fristgerecht Beschwerden eingebracht, in welchen zusammengefasst ausgeführt wurde, dass den Beschwerdeführern eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werde, weshalb ihnen in ihrem Heimatland eine Verfolgung drohe. Im Übrigen hätten die Beschwerdeführer seit jeher mit Diskriminierungen zu kämpfen, da die Vorfahren des BF1 aus Aserbaidschan stammen würden. Weiters würden sich die Beschwerdeführer, um eine Integration bemühen. Der BF1 und die BF2 würden einen Deutschkurs besuchen, die BF2 habe ehrenamtlich für ein Seniorenheim gearbeitet. Die Kinder würden die Schule besuchen. Zudem sei ein Kind in einem Judo-Verein. Weiters wurde vorgebracht, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft gewesen sei. Die belangte Behörde sei nicht auf die Diskriminierungen eingegangen. Zudem werde im Bescheid der BF2 auf die „Feststellungen in dem zeitgleich erlassenen Bescheid“ des Gatten verwiesen. Auch in den Bescheiden der Kinder würden sich ähnliche Formulierungen finden. Im Übrigen seien teilweise keine aktuellen Länderfeststellungen zugrunde gelegt worden. Diese Länderfeststellungen seien auch unvollständig, da sich darin keine Berichte zur Situation von Personen mit aserbaidschanischen Vorfahren finden würden. Eine korrekte Auswertung der Länderberichte bezugnehmend auf die Meinungsfreiheit sei von der belangten Behörde nicht vorgenommen worden. Weiters rügten die Beschwerdeführer, dass unrichtige Feststellungen aufgrund mangelhafter Beweiswürdigung vorliegen würden. Zu den behaupteten Widersprüchen sei auszuführen, dass die BF2 ihren Gatten während der Haft besucht habe und während der Haft des BF1 auch einen Anwalt kontaktiert habe. Die BF2 habe während der niederschriftlichen Einvernahme oft Probleme gehabt, die Dolmetscherin gut zu verstehen, was auch umgekehrt ein Problem gewesen sein hätte dürfen. Die herangezogene Dolmetscherin stamme aus Armenien, Russisch sei nicht ihre Muttersprache gewesen und sie habe während den Einvernahmen immer wieder im Wörterbuch die passenden Übersetzungen finden müssen, wodurch die Missverständnisse wohl entstanden seien. Auch sei die Begründung für die Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführer keinesfalls haltbar.

6. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich der BF1 bis BF4 langte am 23.05.2018 mitsamt den bezughabenden Verwaltungsakten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am XXXX wurde der BF5 geboren.

8. Mit Schreiben vom 17.05.2019, eingelangt am 21.05.2019, stellten der BF1 und die BF2 als gesetzliche Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 für den BF5.

9. Mit Bescheid vom 28.05.2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz des BF5 sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF5 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Im Spruchpunkt V. wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF5 in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist. Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Der Begründung ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die Identität des BF5 feststehe. Da das Vorliegen von wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK nicht glaubhaft gemacht werden habe können, könne ein internationaler Schutz nicht gewährt werden. Die belangte Behörde gehe auch davon aus, dass dem BF5 keine Gefahren drohen würden, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Zudem sei eine Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA-VG zulässig.

10. Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und zusammengefasst ausgeführt, dass die belangte Behörde es unterlassen habe, ein ordnungsgemäßes eigenständiges Ermittlungsverfahren in Bezug auf den minderjährigen BF5 durchzuführen.

11. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich des BF5 langte am 05.07.2019 mitsamt den bezughabenden Verwaltungsakten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

12. Am 11.10.2019, am 14.10.2019 und am 05.06.2020 wurden Urkunden durch die Beschwerdeführer vorgelegt.

13. Am 28.07.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts in Anwesenheit eines Dolmetschers für die russische Sprache und in Anwesenheit der beschwerdeführenden Parteien eine mündliche Verhandlung durch. Das Bundesamt war ordnungsgemäß geladen worden, hatte jedoch bereits im Vorfeld schriftlich mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung zu verzichten.

14. Die gegenständlich relevanten Teile der Verhandlung gestalteten sich wie folgt:

„R: Möchten Sie Ihrem bisherigen Verfahren etwas hinzufügen oder korrigieren? Wurden Sie durch die Beamten bisher korrekt behandelt?

BF1: Es gibt Momente, die ich berichtigen würde. Ich wurde gefragt, warum sprechen Sie davon, dass die Krim ein Teil der Ukraine ist. Sie haben doch gewusst, dass diese Aussage gefährlich sein kann, dass es dir zum Nachteil wird. Warum hast du das gesagt? Ich habe meine Meinung geäußert. Der Verhandlungsleiter hat 3-4 Mal mich gefragt, bist du damit einverstanden, dass du das nicht aussagen hättest sollen. Schlussendlich habe ich nachgeben müssen und zugegeben, dass ich das nicht hätte sagen sollen, im Hintergrund habe ich gedacht, von diesen Personen würde mein Schicksal abhängen. Nachgefragt gebe ich an, dass meine Aussagen ansonsten vollständig und richtig waren. Ich muss einräumen, dass ich das Gefühl hatte, dass ich den Beamten des BFA unsympathisch war, aber ein echtes Fehlverhalten kann ich nicht anführen.

R: Bitte schildern Sie mir in kurzen Worten Ihren Lebenslauf bis Ihre Probleme begonnen haben.

BF: Ich wurde in der UdSSR geboren. Als ich 4 Jahre alt war, haben sich meine Eltern scheiden lassen. Meine Mutter ist zu ihrem Bruder nach Russland gezogen. Mein Vater hat die Familie verlassen. Ich bin in XXXX geboren und in XXXX aufgewachsen. Ich habe 9 Klassen der Schule abgeschlossen. Dann habe ich 3 Jahre ein College besucht. Dann an der Universität Tourismus 5 Jahre lang studiert. Nach dem Abschluss habe ich mich in dieser Branche versucht, aber ich wurde wegen meiner Nationalität, meiner Abstammung nirgendwo aufgenommen. Nachgefragt gebe ich an, dass ich Aseri bin. Meine Frau ist sibirische Tatarin. Da ich nirgendwo aufgenommen wurde, habe ich mit meinem Bruder einen Lebensmittelladen aufgemacht. Da eine Novelle im Gesetz herausgegeben wurde, dass man keinen Alkohol in diesen Lebensmittelläden verkaufen durfte, haben wir den Laden in ein Cafe umstrukturiert, mit Bier, Getränke usw. Der Lebensmittelladen ist bessergegangen, das Cafe nicht schlecht. Wir haben das an der U-Bahnstation eröffnet, die Fluktuation der Kunden war ausreichend. Unsere wirtschaftliche Lage war sehr mittelmäßig. Meine Frau hat mehr verdient als ich. Ich habe einen Kredit gehabt und eine Wohnung gekauft. Ich habe so viel verdient, dass es ausreichend war um den Kredit zurückzuzahlen, und auch die Familie zu erhalten. Meine Frau war Kosmetikerin. Zuerst hat sie in einer Klinik als Schwester gearbeitet, aber die Bezahlung war miserabel. Daher hat sie Kurse belegt und sich zur Kosmetikerin ausbilden lassen. Dann hat sie als Kosmetikerin zu arbeiten begonnen und sich schließlich selbständig gemacht.

R: Bitte schildern Sie mir detailliert und chronologisch richtig aus welchen Gründen Sie Ihre Heimat verlassen haben.

BF: Als ich in diesem Cafe gearbeitet hatte, man unterhält sich. Ich weiß nicht wie Österreich ist, aber Russland ist politisiert, dh die Leute sprechen über Politik. Das war im März 2017. Die Rede war über die Krim. Und ein Klient hat gesagt, XXXX hat super und richtig gehandelt. Ich habe meine Meinung geäußert, dass ich das nicht korrekt finde. Erstens nach diesem Vorgang wurde Russland als Aggressor weltweit angesehen. Und ich bin der Meinung, dass die territoriale Integrität eines Landes nicht angetastet werden solle. In Russland gibt es viele Regionen die nicht in der Russischen Föderation dabei sein wollen, aber diese Möglichkeit besteht nicht. Ich bin der Meinung, dass Grenzen nicht verändert werden sollen. Nach dieser Aussage wurde einer der Klienten aggressiv und drei Männer haben mich angegriffen, mit der Aussage ‚Du liebst Russland nicht. Warum lebst du hier. Du sprichst gegen Russland.‘ Obwohl ich gar nichts gegen Russland habe. Ich habe nur meine Meinung in dieser Sache geäußert. Ich wurde geschlagen. Ich wurde verprügelt, mit Fäusten. Ich habe mich geschützt, mein Gesicht geschützt. Meine Verkäuferin hat den Notknopf gedrückt. Die Security war schnell da. Ich habe keine sichtbaren Verletzungen davongetragen, weil die Security schnell da war. Die Mitarbeiter der Security sind dazwischen gegangen. Die Security hat die Polizei gerufen. Ich und die drei Personen, die mich angegriffen haben, wurden abgeführt. Es war mein Wort gegen das Wort der drei Personen. Ich wurde als Separatist dargestellt, dass ich gegen Russland bin. Ich wurde in eine Zelle gesteckt, so dass ich erst am nächsten Tag mit meiner Frau sprechen durfte. Mein Telefon wurde beschlagnahmt. Ich nehme an, dass meine Frau ständig versucht hat mich zu erreichen. Normalerweise komme ich sehr spät nach Hause, daher hat meine Frau nur telefonisch versucht mich zu erreichen. Schließlich hat am nächsten Morgen einer der Polizeibeamten den Anruf meiner Frau auf meinem Handy entgegengenommen. Man hat mir auch Paragraphen genannt (Ich glaube §281) weswegen ich festgehalten wurde. Das ist Aufruf zur territorialen Auflösung. Ich kann auch falsch liegen, wegen dem Paragraphen. Es war ein neuer Paragraph. Als meine Frau kam, habe ich ihr gesagt, sie möge unbedingt einen Rechtsanwalt kontaktieren. Meine Frau ist am Morgen gekommen, bis 10 Uhr ca. Nachgefragt gebe ich an, dass die Polizeistation in unserem Bezirk in der Straße XXXX war. Ich war im Erdgeschoss. Das Gebäude hatte 4 oder 5 Stockwerke. Es war ein Zimmer mit einer Glaswand und ich konnte mit meiner Frau durch eine Glaswand kommunizieren. Meine Frau war ca. 15-20 Minuten da. Ich habe ihr erklärt, was passiert ist. Ich habe sie gebeten, dass sie einen Rechtsanwalt beizieht. Außerdem, als Cafe-Inhaber habe ich Kontakt zu Polizisten, da ich monatliche Schutzgeldleistungen leisten musste. Meine Frau war erschrocken, sie hat gesagt ‚Warum hast du das gesagt. Warum mischst du dich in die Politik, du kannst eh nichts verändern.‘. Ich habe zuhause ein Notizbuch, wo alle Kontakte aufgeschrieben sind. Ich habe ihr gesagt, wenn sie kontaktieren soll, es war ein hoher Polizeibeamter der XXXX geheißen hat. Er hat sich auf seinen Kanälen erkundigt, was man machen könnte. Er hat 100.000 Rubel für diese Gefälligkeit von meiner Frau genommen. Es wurde dieser Paragraph auf einen anderen Paragraphen geändert, als ob ich ein Hooligan wäre. Diese 100.000 Rubel waren, dass ich freigelassen wurde und der Paragraph geändert wurde. Der Polizist betrachtete sie als Anzahlung. Ich wurde dann aufgrund des geänderten Paragraphen (Schlägertum) für 15 Tage inhaftiert. Nachdem ich freigelassen wurde, habe ich mich mit dem Obersten Chef der Polizeikette getroffen und er hat gesagt eine Million Rubel, damit der Fall für immer geschlossen wird. Die Person mit der ich mich traf hieß XXXX . 15 Tage ist eine normale Inhaftierung nach dem Tatbestsand des Rowdytums. Der Vorgang in Russland ist so, dass ich zB 200 EUR monatlich den Polizisten zahlte, sie würden sonst immer etwas finden, was nicht stimmt. Die 100.000 waren eine Anzahlung. Es war einfach um meinen Zahlungswillen zu zeigen, dass ich es auf dieser Ebene schlichten möchte. Dann als ich freigelassen wurde, habe ich mich persönlich mit ihm getroffen. Er hat dann neue Konditionen aufgestellt. Wir haben Geld sowohl am Konto gehabt, als auch zuhause. Sie hat das Geld XXXX gegeben. Ich weiß nicht wo sie sich mit ihm getroffen hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie es mir erzählt hat.

R: Wie viele Tage lagen zwischen Freilassung und dem Treffen mit XXXX ?

BF: 5 Tage. Alle Gespräche liefen durch XXXX . Ich habe keinen direkten Kontakt gehabt. XXXX sagte in welchem Cafe wir uns treffen.

R: Im erstinstanzlichen Verfahren haben Sie von 2 Tagen gesprochen.

BF: Nein, 5 Tage. Drei Jahre sind vergangen, ich kann das nicht mehr so genau in Erinnerung halten. Ich nehme seit 5, 6 Monaten Tabletten. Ich habe echt Probleme mit meinem Erinnerungsvermögen. Ich nehme Schlaftabletten namens Tritico. Wenn ich in der Früh Tabletten nehme bin ich wie „stoned“.

R: War Ihre Frau bei dem Treffen dabei?

BF: Nein.

R: Wann haben Sie Ihre Frau darüber informiert, dass man eine Million Rubel von Ihnen fordern würde?

BF: Am selben Tag, nach dem Treffen. Das war am Abend, dass ich es meiner Frau erzählte. Das Treffen mit dem Polizisten war nach dem Mittagessen in einem Cafe.

R: Wo haben Sie damals mit Ihrer Frau gesprochen?

BF: Zuhause in unserer Wohnung.

R: Wie hat Ihre Frau reagiert?

BF: Sie war schockiert. Es ist so, dass jeder vom Freundeskreis gesagt hat, hättest du bezahlt. Aber ich kann mich nicht auf diese Menschen verlassen, sie hätten mich weiter erpresst.

R: Welche weitere Vorgehensweise hat Ihre Frau vorgeschlagen?

BF: Wir haben solche Angst gehabt, dass wir uns entschieden haben Russland zu verlassen.

R: Sofort an diesem Tag?

BF: Nicht sofort zu verlassen. Wir haben uns aber an diesem Abend entschieden, dass wir Russland verlassen.

R: Wie ist das Gespräch mit Ihrer Frau genau abgelaufen?

BF: Ich habe gesagt, ich sehe keinen Sinn das zu zahlen, weil es wird nie aufhören. Sie finden immer wieder was Neues. Meine Frau hätte eventuell gewollt, dass das mit der Zahlung erledigt ist. Aber ich war verängstigt und wusste nicht ob das gehen wird. Meine Frau hat mich dann in meiner Entscheidung unterstützt.

R: Sie haben vorhin angegeben, dass Ihre Frau 100.000 Rubel an einen Polizisten gezahlt hätte und Sie nicht wüssten woher sie das Geld genommen hätte.

BF: Wir haben ein gemeinsames Konto gehabt und Cash haben wir auch gemeinsam zuhause gehabt. Eine andere Quelle hätte sie nicht gehabt.

R: Haben Sie Ihrer Frau gesagt, woher sie das Geld nehmen solle?

BF: Nein, habe ich nicht.

R: Haben Sie ihr gesagt, dass sie 100.000 Rubel zahlen solle?

BF: Nein, ich nicht, XXXX .

R: Sie hat dann selbständig das Geld aus dem gemeinsamen Vermögen genommen?

BF: Ja.

R: Von den 100.000 Rubel haben Sie erst nach der Übergabe erfahren?

BF: Nachdem ich freigelassen wurde.

R: Wie oft wurden Sie von Ihrer Frau in der Haft besucht?

BF: Jeden Tag. Vielleicht hat sie einen Tag ausgesetzt. Sie hat auch Essen gebracht.

R: Wann wurden die 100.000 Rubel übergeben?

BF: Sie hat mit mir nie darüber gesprochen, dass sie 100.000 gezahlt hat. Sie hat gesagt, darüber sprechen wir, wenn du freigelassen wirst. Indem Besprechungsraum hat sie es nie gesagt.

R: Hat Sie abgesehen von persönlichen Dingen auch über Ihr Verfahren gesprochen bzw. welche Schritte sie unternehmen möchte?

BF: Sie hat nur gesagt, dass ich 15 Tage absitzen muss.

Die Verhandlung wird um 14:47 Uhr unterbrochen.

Die Verhandlung wird um 14:55 Uhr fortgesetzt.

R wiederholt die Frage.

BF: Sie hat schon gesagt, dass sie ihn getroffen hat, aber sie hat nicht über Geld gesprochen. Sie hat gesagt es ist alles okay. Sie hat mir gesagt, dass ich 15 Tage hier verbringen werde. Das ist das mindeste was man in meiner Lage absitzen müsse.

R: Nach wie vielen Tagen hat sie Ihnen das gesagt?

BF: Ich schätze nach 2-3 Tagen hat sie mir das gesagt.

R: Können sie sich noch erinnern an welchem Tag der Vorfall in Ihrem Cafe war?

BF: Es war Anfang März. Der ziemliche Anfang, 2., 3. März. Den Wochentag kann ich nicht angeben.

RV: Ist es richtig, dass Ihre Entscheidung das Land zu verlassen erst nach dem Gespräch mit XXXX gefällt wurde?

BF: Korrekt.

RV: Beim BFA haben Sie angegeben, dass Ihre Frau schon vor dem Treffen mit XXXX die Visa beantragt hätte. Und auch Ihre Frau hat angegeben, dass nach Ihrer Freilassung Sie beschlossen hätten, das Land zu verlassen und sie hätte dann Visa beantragt. Sind Sie sich sicher, wann die Ausreiseentscheidung gefallen ist?

BF: Ich habe das Gefühl gleich gehabt, als ich freigelassen wurde, dass das nichts wird, dass ich keinerlei Rechte in diesem Land habe. Nicht einmal ein Rechtsanwalt konnte mir hier helfen.

RV: Zum Anwalt gibt es unterschiedliche Aussagen von Ihnen und Ihrer Frau vor dem BFA. Wer hat wann den Anwalt kontaktiert?

BF: Meine Frau hat den Kontakt aufgenommen.

RV: Wie ist Ihre Frau auf die Idee gekommen?

BF: Beim ersten Treffen in der Polizeistation habe ich das mit ihr besprochen.

RV: Sie sagen das war ein Bekannter. Wer war das?

BF: Ja. Das ist ein Familienfreund, der als Rechtsanwalt tätig war. Es ist ein guter Freund vom Vater meiner Frau gewesen.

RV: Sie selbst haben mit ihm nicht gesprochen?

BF: Nein.

RV: Haben Sie vom Ergebnis des Gespräches zwischen Anwalt und Ihrer Frau erfahren und wenn ja, wann?

BF: Als sie mich besuchen kam.

RV: Was war das Resultat?

BF: Sie hat mir ausgerichtet, dass der Rechtsanwalt gesagt hat, nach diesem Paragraph gibt es keine Möglichkeit, dass er mir hilft. Deshalb habe ich ihr vorgeschlagen, dass sie sich mit XXXX trifft. Weil gegen diesen Paragraph gibt es keine Möglichkeit vorzugehen.

RV: Bitte schildern Sie das Treffen mit XXXX genau.

BF: 3 Stunden hat dieses Treffen gedauert. Es war allgemein drei Stunden, nicht nur wegen meiner Sache, er hat auch gefragt, wo ich arbeite, was ich verdiene, wir haben allgemein gesprochen. Soweit ich mich erinnere, war seine Aussage, dass bei diesem Paragraphen 4-5 Jahre Haft mir drohen. Selbstverständlich habe ich dann nachgefragt, welche Lösung es gäbe. Dann hat er die Summe genannt. Ich habe um Zeit gebeten, damit ich die Gelder sammeln kann. Er hat mich gewarnt, ich möge kein Spiel spielen, weil sie finden dann bestimmt Möglichkeiten, sei es mit anderen Paragraphen mich hinter Gitter zu bringen, sei es mit Drogen oder was auch immer. Also keine Spielchen. Nach diesem Gespräch habe ich mehr Angst gehabt, es war keine Lösung da.

RV: Können Sie sich sonst noch an Inhalte des Gespräches erinnern?

BF: Er hat mich eingeschüchtert. Er ist ein Militärangehöriger. Er hat mich immer wieder mit Aussagen „du hast nicht gedient, du bist hier aufgewachsen, warum bist du nicht dankbar.“ Mit solchen Aussagen hat er mich eingeschüchtert.

R: In welchem Cafehaus fand das Treffen statt?

BF: Im oberen Teil der Stadt, es ist die letzte U Bahnstation gewesen.

R: Haben Sie Ihrer Frau gesagt, wo das Treffen stattgefunden hat?

BF: Nein, ich habe das mit meiner Frau nicht abgesprochen. Ich habe nur mit XXXX gesprochen.

R: Haben Sie über das Treffen mit Ihrer Frau überhaupt gesprochen?

BF: Sie wusste, dass ich mich treffe, aber ich habe keine Details gesagt.

R: Sie haben vorher angegeben, dass Sie von Ihrer Frau fast täglich in der Haft besucht wurden. Ist das richtig?

BF: Vielleicht hat sie einen Tag ausgesetzt. Aber sie hat mich mehrfach besucht.

R: Ihre Frau hat demgegenüber im erstinstanzlichen Verfahren angegeben, dass sie Sie überhaupt nicht in der Haft gesehen hätte.

BF: Sie hat mich an dem Tag, als ich mitgenommen wurde nicht gesehen. Die restlichen Tage hat sie mich schon gesehen.

RV: Dies wurde bereits in der Beschwerde moniert, Seite 9.

RV: Hatten Sie und Ihre Frau die gleiche Dolmetscherin beim BFA?

BF: Ja.

RV: War es eine Armenierin?

BF: Das habe ich erst nach dem Interview erfahren.

RV: Haben Sie die gleiche Erfahrung wir Ihre Frau gemacht, nämlich, dass sie immer wieder im Wörterbuch nachschlagen musste?

BF: Ja. Sie hat immer wieder gesagt „Ich verstehe dich nicht“.

R: Schildern Sie mir den Tag Ihrer Freilassung.

BF: Ich bin nach Hause gekommen. Es war in der Früh. Ich bin um ca. 8 Uhr freigelassen worden. Ca. eine halbe Stunde später war ich zuhause. Ich bin zu Fuß nach Hause gegangen. Meine Frau war zuhause. Ich weiß nicht, ob es ein Wochentag oder Wochenende war.

R: Wer hat sich um das Cafe gekümmert, während Sie inhaftiert waren?

BF: Mein Bruder.

R: War Ihre Frau damals selbständig?

BF: Sie hat nicht den Salon gehabt, sie hat von zuhause gearbeitet. Sie hat einen Tag Termine gemacht und einen Tag hat sie nicht gearbeitet, und sich um die Kinder gekümmert. Meine Schwiegermutter hat sich immer um die Kinder gekümmert.

R: Haben Sie sich überlegt, über das Verhalten der Polizeibeamten in Russland Beschwerde einzulegen?

BF: Das bedeutet den Tod.

R: Wäre es eine Option gewesen in einen anderen Teil Russland zu übersiedeln?

BF: Es ist egal wohin du umziehst, du musst registriert werden. Sie haben eine Datenbank, es ist ein System.

R: Wann haben Sie das erste Mal mit Ihrer Frau über eine Auswanderung gesprochen?

BF: Ich habe diese Gedanken schon nachdem ich freigelassen worden bin gehabt. Nachdem ich zurück nach Hause kam, habe ich mit meiner Frau darüber gesprochen. Wir haben viel darüber gesprochen, was wir tun können. Wir haben alle möglichen Optionen besprochen. Sie hat mir selbstverständlich zuerst zu essen gegeben. Das war vor dem Treffen mit XXXX .

RV: Keine weiteren Fragen.

BF1: Ich habe eine Bitte. Ständig war ich in Russland Rassismus und Nationalismus ausgesetzt. Mein Sohn wurde auch damit konfrontiert in Russland. Ich bin echt müde. Ich will mit meinem Leben Schluss machen. Lassen Sie meine Frau und Kinder da. Mein Sohn ist gut im Gymnasium. Ich brauche nichts. Es ist besser, ich werde hier sterben. In Russland gibt es kein Leben für mich. Wenn Sie am Schluss mindestens das verkünden können, kann ich ruhig gehen, reinen Gewissens gehen.

Der BF1 verlässt um 15:32 Uhr den Saal.

Beginn der Befragung der BF2

R: Waren Ihre Aussagen vor dem BFA vollständig und richtig?

BF2: Ja, ich habe die richtigen Aussagen getätigt. Da ich eine Frage nicht richtig verstanden habe, gibt es unrichtige Angaben.

R: Es gab Probleme bei der Übersetzung?

BF2: Die russische Sprache ist nicht einfach. Als ich gefragt wurde, ob wir uns gesehen haben, ich habe die Frage so aufgefasst, als ob wir gesessen und gesprochen hätten. Obwohl kein Gespräch stattgefunden hat, wir haben uns flüchtig gesehen. Das ist nicht richtig rübergekommen.

R: Wie haben Sie Ihren Mann gesehen?

BF: Als er abgeholt wurde, habe ich nichts davon gewusst. Ich habe das erst später erfahren. Als ich davon erfahren habe, war ich bei der Polizeistation, um mindestens zu erfahren was mit ihm los ist.

R: Wie haben Sie es erfahren?

BF: Als ich ihn auf sein Handy angerufen habe, hat man dort abgehoben und hat man mir gesagt, dass er sich auf der Station befindet.

Die Verhandlung wird um 15:38 Uhr auf Ersuchen der BF2 für ein Gespräch mit der RV unterbrochen.

Die Verhandlung wird um 15:50 Uhr fortgesetzt.

R: Fühlen Sie sich physisch und psychisch in der Lage die Verhandlung fortzusetzen?

BF2: Ja.

R: Bitte schildern Sie mir in kurzen Worten Ihren Lebenslauf.

BF2: Ich bin in der Stadt XXXX geboren. Später wurde diese Stadt XXXX umbenannt. Dort habe ich die Schule und dann das medizinische College abgeschlossen. Eine Zeit lang habe ich in der medizinischen Einrichtung gearbeitet und dann als Kosmetikerin.

R: Bitte schildern Sie mir chronologisch und detailliert warum Sie Ihre Heimat verlassen haben.

BF2: Mein Mann hatte Probleme.

R: Wann haben Sie von den Problemen erfahren?

BF2: Ich habe ihn angerufen und als auf der anderen Seite abgehoben wurde, wurde mir gesagt, dass er sich bei der Polizeistation befindet.

R: Was haben Sie daraufhin gemacht?

BF: Ich habe zuerst versucht zu verstehen was passierte. Ich bin bei der Station gewesen, habe mich nach dem Grund der Festnahme erkundigt. Als ich meinen Mann besuchte, hat er mir gesagt, dass ich einen Rechtsanwalt konsultieren soll und erfahren soll, was die Situation bedeutet.

R: Wann haben Sie Ihren Mann erstmals in der Haft besucht?

BF: Am Tag nach seiner Festnahme.

R: Wann fand das Telefonat statt, im Rahmen dessen Sie von der Festnahme informiert wurden?

BF: Am selben Tag, als er festgenommen wurde. Ich habe den ganzen Tag versucht ihn zu erreichen. Irgendwann hat man dann abgehoben.

R: Wann wurde abgehoben am selben Tag oder am nächsten Morgen?

BF2: In der Früh am nächsten Tag. Er wurde am Abend festgenommen.

R: Wann sind Sie zur Polizeistation gekommen?

BF: Gleich nach dem Telefonat.

R: Beschreiben Sie mir bitte den Raum, in dem Sie Ihren Mann gesehen haben und wie Sie mit ihm gesprochen haben.

BF: Es war ein leerer Raum, Tisch, Stühle.

R: Konnten Sie ungehindert mit ihrem Mann sprechen, oder war ein Gitter oder ein Glas zwischen Ihnen?

BF: Eine Glaswand war zwischen uns. Gitter war auf den Fenstern.

R: Wie lange hat das Gespräch ungefähr gedauert?

BF: Nicht lange. Ich kann jetzt nicht sagen wie viele Minuten. Er hat mir gesagt, dass ich den Rechtsanwalt kontaktieren soll und erfahren soll wie man das ganze lösen kann. Ich kann mich nicht erinnern. Ca. 10 bis 15 Minuten, vielleicht etwas länger.

R: Hat Ihnen Ihr Mann erzählt was im Cafehaus passiert ist?

BF2: Klar. Ich musste ja diese Informationen holen, damit ich es dem Anwalt darlege.

R: Wie haben Sie darauf reagiert? Haben Sie verstanden, dass Ihr Mann sich so für die Sache der Ukraine eingesetzt hat, oder haben Sie ihm Vorhalte gemacht?

BF2: Es ist seine Meinung gewesen. Ich kann mich nicht erinnern. Es kann schon sein, dass er unrecht hat. Selbstverständlich war ich böse auf ihn, er hat sich in die Lage gebracht mit dieser Aussage. Es ist furchtbar, dass sich mein Mann in Haft befindet. Selbstverständlich habe ich das auch gesagt. Ich respektiere, dass es seine Meinung ist. Selbstverständlich habe ich ihm das vorgeworfen. Unsere Meinungen können auseinandergehen, er ist mein Mann.

R: Fahren Sie fort.

BF: Er hat gesagt, dass ich einen Anwalt kontaktieren soll und erfahren soll, wie das gelöst werden kann. Als der Anwalt gesagt hat, dass diese Situation sehr schwierig zu lösen sein wird, habe ich mich dann mit seinen bekannten Polizisten in Verbindung gesetzt. Es war ein Bekannter. Es kann schon sein, dass ich die Nummer nicht direkt hatte, aber als mein Mann mir den Namen genannt hat, wusste ich von wem die Rede ist. Ich weiß nicht mehr, von wo ich die Nummer hatte. Ich habe mich mit ihm in einem Cafe getroffen. Ich habe ihm Geld übergeben, 100.000 Rubel. Ich habe das Geld zuhause gehabt. Ich habe die 100.000 Rubel übergeben, damit mein Mann freigelassen wird. Man kann solche Sachen dort mit Bestechung lösen. 100.000 waren dafür gedacht, dass er freigelassen wird später, damit die ganze Sache beendet wird wurde eine Million verlangt. Bei der Übergabe der 100.000 war mir klar, dass es nur ein erster Schritt ist, um meinen Mann zwischenzeitlich frei zu bekommen und dass weitere Schritte notwendig wären um das Ganze zu bereinigen.

R: Wie oft haben Sie Ihren Mann in der Haft besucht?

BF2: Ich habe ihn öfter besucht.

R: Was haben Sie mit ihm während dieser Besuche besprochen?

BF2: Über die Situation. Was mit dem Rechtsanwalt, was wie was. Wir haben versucht eine Lösung zu finden.

R: Schildern Sie bitte wie Ihr Mann freigelassen wurde bzw. unter welchen Umständen Sie ihn dann wiedergesehen haben.

BF2: Er ist nach Hause gekommen, nachdem er freigelassen wurde. Nachgefragt gebe ich an, dass ich mich nicht an die Tageszeit erinnern kann.

R: Waren Sie zuhause?

BF: Ja, ich war zuhause.

R: Wie ging es weiter?

BF: Wir haben die ganze Zeit diskutiert, wie wir diese Situation lösen können. Es ist klar, dass er in Haft nicht gut behandelt wurde und dass man diese Situation lösen muss. Im Anschluss hat er auch mit Anwalt ein Treffen gehabt. Er hat versucht sich da Beratung zu holen, aber es war ohne mich.

R: Hat er sonst noch jemanden getroffen?

BF: Soweit ich weiß, hat er Beratung bei verschiedenen Stellen bekommen, weil man musste eine Lösung finden. Er hat mehrere Personen darauf angesprochen. Ich weiß, dass er sich mit dem Anwalt getroffen hat, er hat andere Personen getroffen, die eventuell helfen können.

R: Wann haben Sie erstmals daran gedacht, dass Sie und Ihr Mann die Russische Föderation verlassen müssen?

BF: Als ihm gesagt wurde, dass diese Situation ganz schwierig zu lösen ist.

R: Sagt Ihnen der Name XXXX etwas?

BF: Ja. Mein Mann hat auch mit ihm Rat gehalten. Auch XXXX hat er konsultiert.

R: was ist bei diesen Gesprächen rausgekommen?

BF: Es war klar, dass die Situation ganz, ganz schwierig ist. Um eine Lösung zu bekommen, hat man eine sehr hohe Summe haben wollen, damit die Situation bereinigt wird. Die Summe war eine Million.

R: Hatten Sie Sachwerte in der Höhe von einer Million Rubel?

BF2: Wir haben eine Wohnung gehabt. Aber wir konnten doch die Wohnung nicht verkaufen, wir haben ja dort gelebt.

R: Haben Sie und Ihr Mann überlegt sich in einem anderen Teil der Russischen Föderation niederzulassen?

BF2: Es ist sehr kompliziert. Es ist alles im Computer, die Datenbank verändert sich nicht indem du deinen Wohnort veränderst. Es ist automatisch, dass man sich registrieren lassen muss, hier ist es glaube ich auch so.

R: Sind Sie oder Ihr Mann in der Russischen Föderation einer Diskriminierung aufgrund Ihrer Abstammung ausgesetzt gewesen?

BF: Ja, eindeutig, ja. Einmal wurde mein Mann von Skinhead zusammengeschlagen. Auch mein Sohn wurde diskriminiert in der Schule. Er wurde geschimpft. Immer wieder. Als ich klein war wurde ich auch geschimpft. Mein Aussehen ist nicht so typisch, wie das von meinem Mann. Meinem Mann sieht man an, dass er nicht slawisch ist. Wenn man Namen und Nachnamen hört, ordnet man mich aber dementsprechend ein.

R: Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

BF: Ich möchte angeben, dass mein Ehemann psychisch belastet ist und ich mir wünschen würde, dass meine Kinder ihren Vater ohne solche Belastungen sehen würden.

R: Möchten Sie sonst noch etwas sagen?

BF: Nein.

RV: Keine Fragen.

Der BF1 sowie B3-BF5 betreten um 16:33 Uhr den Saal.

R: Sind Sie vorbestraft?

BF1+BF2: Nein.

R: Leiden Sie unter schweren oder chronischen Krankheiten?

BF1: Ich habe als Kind schon Herzprobleme gehabt. Mir schmerzt das Herz. Nachgefragt, war ich einmal beim Arzt wegen der Schlafstörungen, der schickte mich zum Psychologen. Ich bin aber ansonsten gegenwärtig nicht beim Arzt.

BF2: Ich bin gesund. Meine Kinder sind auch gesund.

R: Haben Sie Verwandte in der Russischen Föderation?

BF1: Ja.

BF2: Ja.

Weiters vorgelegt wird das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 27.03.2020).

RV verzichtet auf eine Stellungnahme.

R: Möchten Sie noch etwas anmerken?

BF1: Ich habe alles gesagt.

BF2: Ich auch.

R: Liegen betreffend BF2 bis BF5 eigene Fluchtgründe vor?

RV: Nein.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF1 ist der Ehegatte der BF2, beide sind die Eltern der minderjährigen BF3 – BF5. Die Ehe zwischen BF1 und BF2 hat bereits vor der Einreise bestanden.

Die Identität der Beschwerdeführer steht fest. Der BF1 ist Aseri und die BF2 ist sibirische Tatarin. Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.

Die BF1 bis BF4 stellten am 12.06.2017 Anträge auf internationalen Schutz. Für den am XXXX geboren BF5 wurde in weiterer Folge ebenso ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Im März 2017 kam es im Kaffeehaus des BF1 zu einer politischen Diskussion zum Thema Krim. Ein Gast hat gesagt, XXXX hat super und richtig gehandelt. Der BF1 hat seine Meinung geäußert, dass er das nicht korrekt findet. Der Beschwerdeführer wurde von den Gästen angegriffen. Die Polizei wurde gerufen. Der BF1 und drei Personen, die ihn angegriffen haben, wurden abgeführt. Der BF1 wurde als Separatist dargestellt, dass er gegen Russland ist. Er wurde deswegen für 15 Tage eingesperrt. Gegen eine Bezahlung von 100.000,- Rubel wurde der BF1 aus der Haft entlassen. Der oberste Chef der Polizeikette hat dem BF1 gesagt, dass ihm mehrere Jahre Haft drohen würden und forderte vom BF1 1.000.000,- Rubel, damit der Fall für immer geschlossen wird. Während des Gespräches mit dem obersten Chef der Polizeikette, der Militärangehöriger ist, wurde der BF1 mit Aussagen, wie „Du hast nicht gedient, du bist hier aufgewachsen, warum bist du nicht dankbar“ eingeschüchtert.

Die Beschwerdeführer waren zudem in der Vergangenheit Diskriminierungen aufgrund ihrer Abstammung ausgesetzt.

Im Hinblick auf den BF1 kann eine im Falle der Rückkehr zu erwartende Verfolgung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, zumal dieser in das Blickfeld der Polizisten bzw. obersten Chef der Polizeikette geraten ist und bereits vor seiner Ausreise inhaftiert und bedroht wurde.

Der BF1 verfügt über keine Möglichkeit, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen.

Hinsichtlich BF2 bis BF5 bestehen keine individuellen Fluchtgründe bzw. Rückkehrhindernisse.

Die BF1 und der BF2 sind strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 27.03.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tsc

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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