TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/5 W236 2236429-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.11.2020
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Entscheidungsdatum

05.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W236 2236429-1/3E
W236 2236427-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Lena BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1) XXXX , geb. XXXX ,

2) XXXX , geb. XXXX ,

beide StA. Ukraine, vertreten durch Weh Rechtsanwalt GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.09.2020, ZIen.

1) 1266878908/200674012,

2) 1266878102/200674047

zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden werden mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt VII. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.09.2020, ZI. 1266878102/200674047, zu lauten hat:

„Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über Ihren Antrag auf internationalen Schutz wird gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.“

II. Die Anträge auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung werden als unzulässig zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers (beide gemeinsam werden fortan als Beschwerdeführer bezeichnet). Beide reisten am 08.03.2020 legal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 03.08.2020 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag wurde die Erstbeschwerdeführerin von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und gab dabei an, dass sie im März 2020 gemeinsam mit dem minderjährigen Zweitbeschwerdeführer eigentlich nur auf Besuch gekommen sei; aufgrund des Coronavirus sei ihr Rückfahrticket storniert worden und seien sie deshalb bei dem Freund der Erstbeschwerdeführerin geblieben. Zu ihrem Fluchtgrund befragt erklärte die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst, dass sie in der Ukraine Probleme mit der Familie ihres Exmannes habe; diese wolle ihr ihren Sohn wegnehmen. Sie sei die fünfte Frau ihres Exmannes; mit den Frauen davor sei es zu den gleichen Problemen gekommen. Seit 2015 sei sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammen. Sie habe mit ihrem Sohn alleine in Odessa gelebt; im Dezember 2019 sei die Scheidung gewesen. Im Fall einer Rückkehr in die Ukraine habe sie Angst, dass ihr ihr Sohn weggenommen werde. Sie sei schon mehrmals bedroht worden. Sie wolle nicht, dass ihr Sohn bei der Familie ihres Exmannes aufwachse. Ihren Freund in Österreich kenne sie seit einem Jahr. Sie sei vorher dreimal für jeweils ein bis zwei Wochen auf Besuch hier gewesen. Dieses Mal habe sie auch ihren Sohn mitgenommen; ihr Exmann habe eingewilligt, dass ihr Sohn mit auf eine Urlaubsreise dürfe.

3. Am 13.08.2020 fand eine erste niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Die Erstbeschwerdeführerin gab dabei zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie Angst vor ihrem ehemaligen Ehemann und dessen Familie habe; sie befürchte, dass diese sie seelisch, körperlich und sexuell belästigen würden. 2010 hätte sie ihren Exmann geheiratet, es handle sich dabei um ihren zweiten Ehemann. Sie habe aus erster Ehe bereits eine 17jährige Tochter, die bei ihren Eltern in Odessa lebe. 2011 habe sie durch körperliche Gewalt durch ihren zweiten Ehemann eine Fehlgeburt gehabt. Sie sei danach bei der Polizei gewesen, die ihr jedoch mitgeteilt habe, dass sie nichts machen könne, solange es keine Leiche gebe. Da die Familie ihres Exmannes erfahren habe, dass die Erstbeschwerdeführerin bei der Polizei gewesen sei, sei die Situation schlimmer geworden. Die Eltern und ihr Ehemann seien einflussreiche Menschen und hätten die Erstbeschwerdeführerin ständig bedroht. Nachdem ihr Sohn auf die Welt gekommen sei, hätten sie immer gesagt, sie würden die Erstbeschwerdeführerin in eine Heilanstalt für psychisch Kranke einsperren und ihr den Sohn wegnehmen. Die Erstbeschwerdeführerin habe eines Tages ihren Ehemann und ihre Schwiegermutter im Bett erwischt; dies sei auch ein Grund gewesen, warum die Erstbeschwerdeführerin bedroht worden sei, da ihr Ehemann und ihre Schwiegermutter nicht gewollt hätten, dass die Erstbeschwerdeführerin dies weitererzähle. Als ihr Sohn drei Jahre alt gewesen sei, habe die Erstbeschwerdeführerin die Möglichkeit bekommen, zu fliehen und sei in eine andere Wohnung nicht weit von ihrem Exmann gegangen, da sie gewollt habe, dass ihre Tochter weiterhin in deren Schule gehen könne. Ihr Ehemann habe sie lange gesucht und habe den Eltern der Erstbeschwerdeführerin viel Stress gemacht. Zirka drei Jahre habe ihr Mann nicht gewusst, wo sie seien. Erst als die Erstbeschwerdeführerin zu ihren Eltern gezogen sei, um ihren Vater nach einem Schlaganfall zu pflegen, habe ihr Ehemann erfahren, wo sie seien. Er habe die Telefonnummer der Erstbeschwerdeführerin erfahren und sie angerufen. Als er zur Wohnung der Eltern der Erstbeschwerdeführerin gekommen sei, hätten sie nie aufgemacht; sie habe ihn nie persönlich getroffen. Im Frühjahr 2019 habe die Erstbeschwerdeführerin die Scheidung beantragt; ihr Mann sei damit nicht einverstanden gewesen. Der Scheidungsprozess habe bis Dezember 2019 gedauert, dann seien sie jedoch offiziell geschieden gewesen. Im Winter 2019/2020 habe die Erstbeschwerdeführerin ihren Exmann gefragt, ob er ihr eine Vollmacht für den gemeinsamen Sohn zum Verlassen des Landes geben könne, da sie gern mit ihm als Touristen in andere Länder reisen wolle. Ihr Exmann habe das Papier problemlos unterschrieben. Ihr Ehemann habe ihrem Sohn ein Handy geschenkt und diesen immer wieder angerufen. Als die Erstbeschwerdeführerin die Tickets nach Österreich gekauft habe, habe ihr Sohn ihrem Exmann erzählt, dass er zum Bräutigam seiner Mutter nach Österreich fahre. Ihr Exmann habe sie dann wieder bedroht, sei jedoch nicht in der Stadt gewesen und die Erstbeschwerdeführerin und ihr Sohn hätten in Ruhe ausreisen können. Sie habe von Anfang an nicht geplant, in Österreich zu bleiben, ihre Tickets seien jedoch dann storniert worden. Als ihrem Exmann klargeworden sei, dass die Erstbeschwerdeführerin und ihr Sohn in Österreich festsitzen würden, habe er die Erstbeschwerdeführerin immer bedroht; diese Bedrohungen habe auch ihr Freund gehört. Nach diesen Bedrohungen habe ihr Freund Angst bekommen und der Erstbeschwerdeführerin einen Heiratsantrag gemacht; er habe gemeint, sie solle bei ihm bleiben. Wegen Corona hätten sie leider nicht sofort heiraten können und habe sie derzeit Probleme, da die Dauer der Erlaubnis ihres Aufenthaltes hier abgelaufen sei. Im Fall einer Rückkehr in die Ukraine würde ihr Exmann sie in eine Heilanstalt für psychisch Kranke sperren, oder man fände sie in einer Grube im Wald. Am meisten habe sie Angst um ihren Sohn; sie wolle nicht, dass er mit seinem Vater aufwachse. Eigene Fluchtgründe wurden für den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer nicht geltend gemacht.

4. Am 02.09.2020 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. In dieser erklärte die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst, dass sie bezüglich der Vollmacht für die Ausreise ihres Kindes klarstellen wolle, dass ihr Exmann auf sie zugegangen sei und nicht die Erstbeschwerdeführerin wegen dieser Sache zu ihm gekommen sei. Durch eine List habe die Erstbeschwerdeführerin von ihrem Exmann das Schriftstück bekommen; sie habe gesagt, der Grund der Ausreise sei ein Urlaub im Ausland. Das Treffen habe in der Öffentlichkeit stattgefunden und auch ein Jurist sei anwesend gewesen. Befragt, ob die Erstbeschwerdeführerin nie versucht habe, herauszufinden, ob es jemanden gebe, der ihr helfen könnte, erklärte diese, dass sie Angst gehabt habe und es für sie einfacher gewesen wäre, wegzulaufen. Nur im Jahr 2011 sei sie einmal bei der Polizei gewesen, nachdem sie das Kinder verloren habe.

5. Mit den oben genannten, gegenständlich angefochtenen Bescheiden vom 25.09.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 03.08.2020 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, (Spruchpunkte 1. bzw. I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte 2. bzw. II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 jeweils nicht erteilt (Spruchpunkte 3. bzw. III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurden gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkte 4. bzw. IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkte 5. bzw. V.). Es wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkte 6. bzw. VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidungen über die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG (Bescheid betreffend die Erstbeschwerdeführerin Spruchpunkte 7.) bzw. § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG (Bescheid betreffend den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer Spruchpunkt VII.) die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Begründend wird im angefochtenen Bescheid betreffend die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin an keinen Krankheiten oder Beschwerden leide, die einer Außerlandesbringung in die Ukraine entgegenstehen würden und die Erstbeschwerdeführerin nicht zu einer Corona-Risikogruppe für schwere Krankheitsverläufe zähle. Es könne von Seiten der Behörde keine gegenwärtig vorliegende Bedrohung bei einer Rückkehr in die Ukraine durch den Exmann der Erstbeschwerdeführerin oder dessen Familie in Bezug auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine festgestellt werden; der Erstbeschwerdeführerin stehe in der Ukraine eine innerstaatliche Schutz- bzw. Fluchtalternative offen. Die Erstbeschwerdeführerin werde in der Ukraine nicht aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention verfolgt. Es könne nicht festgestellt werden, dass die Erstbeschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr in die Ukraine einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt sei. Der ukrainische Staat sei schutzfähig und schutzwillig; die Erstbeschwerdeführerin sei in der Lage und habe die Möglichkeit dazu, im Fall einer Bedrohung durch ihren Exmann bei den ukrainischen Behörden Schutz zu suchen. Die Erstbeschwerdeführerin würde im Fall einer Rückkehr in die Ukraine keiner Gefährdung ausgesetzt sein und nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten; sie sei auch bisher in der Lage gewesen, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder durch selbständige Tätigkeit zu sichern. In Bezug auf den Freund der Erstbeschwerdeführerin könne kein schützenswertes Privatleben iSd Art. 8 EMRK festgestellt werden. Die Ukraine gelte als sicherer Herkunftsstaat und bedürfe die Erstbeschwerdeführerin nicht des Schutzes Österreichs; die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde sei daher abzuerkennen gewesen. Im angefochtenen Bescheid betreffend den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer wird zusammengefasst ausgeführt, dass der minderjährige Zweitbeschwerdeführer gesund sei und nicht zu einer Corona-Risikogruppe für schwere Krankheitsverläufe zähle. Die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Ukraine vorgebracht. Es könne nicht festgestellt werden, dass durch die Überstellung des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers in die Ukraine zu einer Verletzung des Art. 8 EMRK führen würde.

6. Gegen diese Bescheide wurden am 27.10.2020 fristgerecht gleichlautende Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht in vollem Umfang erhoben, wobei begründend ausgeführt wird, dass es zu konkreten Drohungen gegen die Erstbeschwerdeführerin gekommen sei, welche von ihrem Lebensgefährten wahrgenommen worden seien; die belangte Behörde habe dies als Schutzbehauptung abgetan, ohne den Zeugen dieser unmittelbaren Bedrohungen zu vernehmen. Hätte die belangte Behörde ein ordnungsgemäßes Ermittlungsgefahren geführt, wäre sie zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erstbeschwerdeführerin Opfer von Gewalt geworden und die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich sei; das Vorliegen der Voraussetzungen werde im angefochtenen Bescheid nicht geprüft. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde sei willkürlich erfolgt; vor Reisen in die Ukraine werde im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus ausdrücklich gewarnt und gelte für die Ukraine nach Abfrage des Außenministeriums die höchste Sicherheitsstufe 6. Aufgrund der COVID-19 bedingten Einschränkungen habe die Erstbeschwerdeführerin noch nicht sämtliche relevanten Beweisunterlagen beibringen können; sie habe ihrer Rechtsvertreterin angekündigt, entsprechende Verurteilungen und aktuelle E-Mails bzw. SMS-Nachrichten über gefährliche Drohungen durch den geschiedenen Ehemann zu übermitteln. Die Erstbeschwerdeführerin behalte sich daher die Ergänzung der Beschwerde vor. Die Ausreise sei den Beschwerdeführern aufgrund der COVID-19 Situation weder möglich noch zumutbar.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage der Verwaltungsakten der belangten Behörde, der Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes und Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister, das Grundversorgungs-Informationssystem sowie das Strafregister wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Folgendes festgestellt:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführer reisten jeweils unter Verwendung eines gültigen ukrainischen biometrischen Reisepasses am 08.03.2020 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 03.08.2020 Anträge auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 25.09.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine ab und erteilte ihnen jeweils keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen die Beschwerdeführer wurden Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Ukraine zulässig sei. Es wurde ausgesprochen, dass keine Frist für freiwillige Ausreise bestehe; einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidungen wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Gegen diese Bescheide wurden fristgerecht gleichlautende Beschwerden in vollem Umfang erhoben.

1.2. Zu den Personen der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Ukraine, stammen aus Odessa, bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben und führen die im Spruch ersichtlichen Personalien. Ihre Identität steht fest. Die Erstbeschwerdeführerin ist von ihrem in der Ukraine lebenden Exmann, dem Vater des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers, geschieden.In der Ukraine verfügt die Erstbeschwerdeführerin noch über ihre Eltern und ihre 17jährige Tochter aus erster Ehe, die bei ihren Eltern lebt und in Odessa studiert. Zuletzt lebten die Beschwerdeführer bei den Eltern der Erstbeschwerdeführerin.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Sie beherrscht Russisch sowie Ukrainisch und spricht weiters etwas Englisch und Deutsch. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer ist in der Ukraine geboren und bis zur Einreise nach Österreich im Familienverband mit seiner Mutter in der Ukraine aufgewachsen. Die Erstbeschwerdeführerin hat im Herkunftsstaat eine mehrjährige Schul- und Berufsausbildung absolviert und zuletzt selbständig in der Maniküre und Pediküre gearbeitet. Sie war bis zu ihrer Reise nach Österreich in der Lage, durch diese Erwerbstätigkeit den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern.

Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer Einreise am 08.03.2020 im österreichischen Bundesgebiet auf. In Österreich lebt der Lebensgefährte der Erstbeschwerdeführerin, ein ukrainischer Staatsangehöriger, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet geduldet ist. Ein gemeinsamer Haushalt der Beschwerdeführer mit dem Lebensgefährten der Erstbeschwerdeführerin besteht nicht. Die Erstbeschwerdeführerin hat ihren Lebensgefährten vor etwas mehr als einem Jahr aus der Ukraine über soziale Netzwerke kennengelernt und ihn seitdem insgesamt – ihre zuletzt erfolgte Einreise am 08.03.2020 eingerechnet – viermal in Österreich besucht. Über sonstige soziale Anknüpfungspunkte verfügen die Beschwerdeführer in Österreich ebenso wenig wie über Bezugspunkte familiärer oder wirtschaftlicher Natur. Die Beschwerdeführer leben aktuell in einer Flüchtlingsunterkunft im Bundesgebiet, beziehen Leistungen aus der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.

Die Erstbeschwerdeführerin leidet an einer Allergie, bezüglich derer sie Medikamente nimmt bzw. eine Therapie macht; sie stand diesbezüglich bereits in der Ukraine in Behandlung. Abgesehen von der bestehenden Allergie ist die Erstbeschwerdeführerin gesund. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer ist gesund.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zum Fluchtgrund und einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

Die Erstbeschwerdeführerin hat im Verfahren angegeben, von ihrem Exmann misshandelt und von diesem sowie dessen Eltern bedroht worden zu sein, zuletzt auch in Österreich per Telefon; ihr Exmann wolle ihr überdies den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer wegnehmen. Die Beschwerdeführer können im Herkunftsstaat vor einer Bedrohung oder Misshandlung durch den Exmann der Erstbeschwerdeführerin bzw. dessen Eltern staatlichen Schutz der ukrainischen Behörden in Anspruch nehmen; die ukrainischen Behörden sind diesbezüglich schutzfähig und –willig. Den Beschwerdeführern droht zudem nicht im gesamten Staatsgebiet der Ukraine eine Bedrohung oder Verfolgung durch den Exmann der Erstbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer können sich in einem anderen Teil der Ukraine niederlassen.

Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht konkret vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.

Die Beschwerdeführer sind im Fall der Rückkehr in die Ukraine nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden und sind nicht von der Todesstrafe bedroht. Sie würden bei einer Rückkehr in die Ukraine nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Die Beschwerdeführer sind körperlich gesund und gehören mit Blick auf ihr Alter von 38 und acht Jahren sowie aufgrund des Fehlens einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Ukraine eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würden.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine:

Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Politische Lage

Letzte Änderung: 27.5.2020

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).

Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).

Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail

- Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/, Zugriff 22.5.2020

- DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020

- DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-for-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine,
https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020

- Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/looming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020

- KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cn-reloaded=1, Zugriff 25.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-year-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html, Zugriff 25.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.5.2020

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020

- SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 27.5.2020

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 6.7.2020

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).

Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).

In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraines-powerful-interior-minister-avakov-under-fire-over-police-reform-failures/, Zugriff 6.7.2020

- AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2028174.html, Zugriff 20.5.2020

- BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020, https://www.bti-project.org/de/berichte/country-report-UKR.html, Zugriff 22.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 19.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Korruption

Letzte Änderung: 27.5.2020

Die Ukraine wird im 2019 Corruption Perceptions Index von Transparency International mit 30 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 2019). Die Gesetze sehen strafrechtliche Sanktionen für Korruption vor, aber die Behörden setzen diese nicht effektiv um, und viele Beamte sind ungestraft korrupt, weniger in der Regierung, aber auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und der Justizbehörden. Trotz Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption durch die Regierung, bleibt diese ein Problem für Bürger und Unternehmen (USDOS 13.3.2019).

Korruption ist in der Ukraine weit verbreitet und stellt seit vielen Jahren ein inhärentes Problem dar. Korruption war ein zentrales Thema während der Proteste in Kiew im Herbst/Winter 2013/2014, die im Februar 2014 mit einem Regimewechsel endeten. In den Jahren 2014 und 2015 wurden im Rahmen einer nationalen Antikorruptionsstrategie mehrere neue Gremien zur Bekämpfung der Korruption auf verschiedenen Ebenen des Regierungsapparats eingerichtet. Darüber hinaus wurden Reformen in Polizei und Justiz eingeleitet, die beide stark von Korruption betroffen sind. Bis heute gibt es je nach Zuständigkeitsbereich eine Reihe von Stellen, die Korruptionsfälle untersuchen und strafrechtlich verfolgen. Es kam jedoch, wenn überhaupt, nur zu sehr wenigen Verurteilungen (Landinfo 2.3.2020). Bis vor kurzem gab es keine separaten Gesetze zum Schutz von Informanten, weshalb viele Bürger Korruption nicht anzeigen wollten. Im Jänner 2020 trat ein neues bzw. geändertes Gesetz zum Schutz von Informanten bezüglich Korruption in Kraft (Landinfo 2.3.2020; vgl. RFE/RL 14.11.2019).

Im Juni 2018 unterzeichnete der Präsident das Gesetz über das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC) (USDOS 13.3.2019). Das HACC nahm im September 2019 seine Arbeit auf. Mit der Schaffung des HACC wurde das System der Organe des Landes zur Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vervollständigt und zwei zuvor geschaffene Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, ergänzt. Die neuen unabhängigen Antikorruptionsbehörden sehen sich politischem Druck ausgesetzt, der das Vertrauen der Öffentlichkeit untergräbt, Bedenken hinsichtlich des Engagements der Regierung im Kampf gegen die Korruption aufkommen ließ und die Zukunftsfähigkeit der Institutionen bedroht (USDOS 11.3.2020). Mit der Errichtung des Hohen Antikorruptionsgerichts wurde der Aufbau des institutionellen Rahmens für die Bekämpfung der endemischen Korruption abgeschlossen (AA 29.2.2020). Das HACC hat jedoch bisher noch keine Ergebnisse erzielt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ende Februar 2019 hat das ukrainische Verfassungsgericht Artikel 368-2 des ukrainischen Strafgesetzbuches, welcher illegale Bereicherung durch ukrainische Amtsträger kriminalisierte, aufgehoben, weil er gegen die Unschuldsvermutung verstoßen habe. In der Folge musste NABU 65 anhängige Ermittlungen gegen Parlamentarier, Richter, Staatsanwälte und andere Beamte einstellen, die teilweise schon vor Gericht gekommen waren. Die EU zeigte sich über diese Entscheidung besorgt (Hi 3.3.2019). Am 26. November 2019 unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Gesetz, das die strafrechtliche Verantwortung für die unrechtmäßige Bereicherung von Regierungsbeamten wieder einführte (USDOS 11.3.2020).

Das Gesetz schreibt vor, dass hohe Amtsträger Einkommens- und Ausgabenerklärungen vorlegen müssen und diese durch die Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NAPC) geprüft werden. Die NAPC überprüft neben diesen Finanzerklärungen auch die Parteienfinanzierung. Beobachter stellen jedoch zunehmend infrage, ob die NAPC die Fähigkeit und Unabhängigkeit besitzt, diese Funktion zu erfüllen (USDOS 11.5.2020; vgl. ÖB 2.2019).

Durch den Reformkurs der letzten Jahre wurden mehr Transparenz und gesellschaftliches Bewusstsein für Korruption erreicht. Dennoch sind Korruption, Oligarchie und teilweise mafiöse Strukturen weiterhin Teil des Alltags der Menschen in der Ukraine, ob im Gesundheits- oder Bildungsbereich, in der Wirtschaft, im Zollwesen sowie in der Medienlandschaft (KAS 2019). Korruption ist nach wie vor ein ernstes Problem und trotz des starken Drucks der Zivilgesellschaft ist der politische Wille gering, dagegen anzugehen. Antikorruptionsagenturen wurden wiederholt in politisch belastete Konflikte mit anderen staatlichen Stellen und gewählten Vertretern verwickelt (FH 4.3.2020). Im Mai 2020 wurde bekannt, dass die Spezialstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung gegen den ehemaligen ukrainischen Generalstaatsanwalt Ruslan Ryaboshapka, der zwei Monate zuvor in einem parlamentarischen Misstrauensvotum aus dem Amt gezwungen wurde, ermittelt (RFE/RL 6.5.2020).

Die Ukraine hat einige Fortschritte bei der Förderung der Transparenz erzielt, zum Beispiel durch die Verpflichtung der Banken, die Identität ihrer Eigentümer zu veröffentlichen, und indem 2016 ein Gesetz verabschiedet wurde, das Politiker und Beamte dazu verpflichtet, elektronische Vermögenserklärungen abzugeben. Es ist jedoch möglich, einige Vorschriften zu umgehen, zum Teil, weil unterentwickelte Institutionen nicht in der Lage sind, Verstöße zu erkennen und zu bestrafen (FH 4.3.2020). Trotz der Bemühungen um eine Reform des Justizwesens und der Generalstaatsanwaltschaft bleibt Korruption unter Richtern und Staatsanwälten weit verbreitet (USDOS 11.3.2020).

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der seit 2019 im Amt ist, hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019; vgl. AA 29.2.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- Hi – Hromadske international (3.3.2019): You Can Now Get Rich Illegally in Ukraine. What Does This Mean?, https://en.hromadske.ua/posts/ukraine-legalizes-illegal-enrichment, Zugriff 20.5.2020

- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (2019): Die Ukraine – Transparent, aber korrupt?, KAS Auslandseinformationen 4/2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2026806/Die+Ukraine+%E2%80%93++transparent%2C+aber++korrupt.pdf, Zugriff 20.5.2020

- Landinfo (2.3.2020): Ukraina, Korrupsjonsbekjempelse og beskyttelse for varslere av korrupsjon, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025536/Temanotat-Ukraina-Korrupsjonsbekjempelse-og-varslere-02032020.pdf, Zugriff 20.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (11.4.2019): Ukraine's President Creates Anti-Corruption Court, https://www.rferl.org/a/ukraine-s-president-poroshenko-creates-anti-corruption-court/29875480.html?ltflags=mailer, Zugriff 20.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (14.11.2019): Ukraine's Zelenskiy Signs Law On Corruption Whistle-Blowers, https://www.rferl.org/a/ukraine-s-zelenskiy-signs-into-force-law-on-corruption-whistle-blowers/30270529.html, Zugriff 20.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (6.5.2020): Ukrainian Ex-Prosecutor Ryaboshapka Under Investigation, https://www.rferl.org/a/ukrainian-ex-prosecutor-ryaboshapka-under-investigation/30597499.html, Zugriff 20.5.2020

- TI – Transparency International (2019): Corruption Perceptions Index 2019, Ukraine, https://www.transparency.org/en/cpi, Zugriff 20.5.2020

- UA - Ukraine Analysen (27.2.2019): Präsidentschaftswahlen 2019, per E-Mail

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

- USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 20.5.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 27.5.2020

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).

Die Möglichkeit von NGOs, sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, IDPs, Roma, Menschen mit Behinderungen, und von Russland inhaftierte politische Gefangene. Sie ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdrücklich vor. Auch im Übrigen gibt es keine rechtlichen Benachteiligungen. Nach ukrainischem Arbeitsrecht genießen Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Tatsächlich werden sie jedoch häufig schlechter bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert. Nach 2018 kam es auch am 8. März 2019 bei Veranstaltungen und Paraden zum Frauentag in mehreren Städten zu Zwischenfällen mit rechten Gruppierungen (AA 29.2.2020). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember 2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum ausreichend psychosoziale und medizinische (Notfall-) Einrichtungen mit geschultem Personal (ÖB 2.2019). Frauen und Mitglieder von Minderheitengruppen können am politischen Leben in der Ukraine teilnehmen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Diese Rechte werden jedoch durch Faktoren wie Diskriminierung, den Konflikt im Osten, Analphabetismus und das Fehlen von Ausweisdokumenten (häufig bei Roma) geschmälert. Das Gesetz über Kommunalwahlen schreibt eine 30%-Quote für Frauen auf Parteilisten vor, die jedoch nicht wirksam durchgesetzt wird (FH 4.3.2020). Nach den Parlamentswahlen vom Juli 2019 stieg der Anteil der Frauen im Parlament von 12 auf 20% (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich an politischen Prozessen und Wahlprozessen zu beteiligen (FH 4.3.2020).

Die Aktivitäten von Oppositionsparteien und -gruppen sowie die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen keinen rechtsstaatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Medienlandschaft zeichnet sich durch einen be

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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