TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/23 I413 2232761-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.12.2020
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Entscheidungsdatum

23.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §13 Abs1
AsylG 2005 §13 Abs2 Z1
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I413 2232761-1/18E

Schriftliche Ausfertigung des am 14.12.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin ATTLMAYR, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX (alias XXXX), geb. XXXX, StA. NIGERIA, vertreten durch: RA Dr. Gregor KLAMMER gegen den Bescheid des BFA, RD NÖ Außenstelle St. Pölten vom 02.04.2020, Zl. XXXX, nach Beschwerdevorentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.12.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen und die Beschwerdevorentscheidung bestätigt, dass Spruchpunkt III. l. Satz (l. Spruchteil) lautet: „Eine Aufenthaltsberechtigung „besonderer Schutz" wird Ihnen nicht erteilt."

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 30.09.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er gab an, Staatsangehöriger von Somalia zu sein, sein Heimatland Gambia verlassen zu haben, weil er dort viele Probleme gehabt habe. Er sei immer als "Bastard" beschimpft worden und hätte nicht in Frieden leben können, weil er ständig beleidigt und diskriminiert worden sei. In Somalia hätte er niemanden und deswegen habe er dort nicht leben wollen, weil einige Gruppierungen andere aufforderten, sich anzuschließen, aus diesem Grunde sei er hier und stelle den Asylantrag. Im Rahmen der Erstvernehmung bezweifelte der Dolmetscher, dass der Beschwerdeführer aus Somalia stamme. Eine erkennungsdienstliche Behandlung des Beschwerdeführers ergab, dass dieser bereits am 10. Mai 2013 in Bulgarien sowie am 5. September 2013 in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, sodass ein Dublin-Konsultationsverfahren mit Bulgarien eingeleitet wurde.

2. Am 04.12.2013 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde einvernommen. Er gab zusammengefasst an, seine Mutter würde aus Gambia und sein Vater aus Somalia stammen und er deswegen die somalische Staatsbürgerschaft habe. Er habe keine identitätsbezeugenden Dokumente.

3. Mit Bescheid vom 06.12.2013 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten zurück, da für die Prüfung des Antrages Bulgarien zuständig sei und wurde aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Bulgarien ausgewiesen. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Bulgarien sei zulässig.

4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Asylgerichtshof.

5. Mit Beschluss vom 06.03.2014, W168 1439304-1/11E, behob das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid.

6. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 07.01.2014, 061 Hv 192/2013w, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der §§ 27 Abs 1 Z 1 8. Fall SMG, 27 Abs 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, sechs hiervon bedingt auf die Probezeit von drei Jahren nachgesehen, verurteilt.

7. Am 14.03.2014 wurde das Asylverfahren des Beschwerdeführers in Österreich zugelassen.

8. Am 09.05.2017 und am 24.05.2017 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde einvernommen. Hierbei gab er abermals an Staatsangehöriger von Somalia zu sein, jedoch keine Dokumente in Vorlage bringen zu können, da er sich zum Zeitpunkt der Einvernahme in Strafhaft befinde. Nach seiner Freilassung werde er jedoch seine Geburtsurkunde vorlegen, welche sich bei der Frau seines Onkels in Somalia befinde. Der Beschwerdeführer gab an, in Somalia geboren, jedoch im Alter von etwa drei bis vier Jahren mit seiner Mutter nach Gambia übersiedelt und dort aufgewachsen zu sein. Seine somalische Staatsangehörigkeit habe er von seinem Vater abgeleitet, seine Mutter sei gambische Staatsangehörige. Zusammengefasst gab er zu seinen Fluchtgründen an, er sei in Gambia beschimpft und gedemütigt und als "Bastard" bezeichnet worden und sei, da er dort niemanden mehr gehabt habe, nach Somalia gegangen. Er habe bei seinem Onkel in Somalia Leute von der Al-Shabaab getroffen und diese hätten gesagt, dass sie ihn in der Organisation haben wollten. Sein Onkel habe nein gesagt. Dennoch sei er gezwungen worden, mit ins Camp zu fahren. Nach zwei Tagen sei sein Onkel ins Camp gegangen und habe ihn mit dem Auto mitgenommen und habe ihn direkt zum Schiff in Mogadischu gebracht. Insgesamt seien dort zwei Autos gewesen. Er hätte in das hintere, zweite Auto steigen sollen, weil dort unter der Sitzbank ein Versteck gewesen sei. In Moadischu sei er wieder rausgelassen worden.

9. Mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 29.07.2014, 048 Hv 28/2014a, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens nach §§ 27 Abs 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.

10. Mit Aktenvermerk vom 18.09.2017 wurde seitens der belangten Behörde festgehalten, dass angesichts der Angaben des Beschwerdeführers in den beiden Einvernahmen am 9.05.2017 sowie am 25.05.2017 erhebliche Zweifel an der von ihm behaupteten, somalischen Staatsangehörigkeit bestünden und aufgrund dessen der nichtamtliche Sachverständige Dr. XXXX mit der Erstellung eines linguistischen sowie landeskundlichen Sachverständigengutachtens beauftragt werde.

11. Am 30.11.2017 wurde der linguistische Befund durch den nichtamtlichen Sachverständigen Dr. XXXX zur Sprachanalyse aufgenommen.

12. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 13.06.2016, 066 Hv 30/2016p, wurde der Beschwerdeführer wegen Vergehen nach §§ 27 Abs 1 Z 1 1., 2. Fall, 27 Abs 2 SMG und §§ 27 Abs 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten verurteilt.

13. Mit Eingabe vom 25.01.2018 beantragte der Beschwerdeführer die Ausfolgung einer Verfahrenskarte.

14. Am 07.05.2018 wurde über den Beschwerdeführer die Untersuchungshaft verhängt.

15. Am 02.07.2018 erstattete der nichtamtliche Sachverständige Dr. XXXX ein Gutachten zu den Sprachkompetenzen und den Landeskompetenzen des Beschwerdeführers, in dem der Sachverständige zusammengefasst zum Ergebnis kam, dass der Beschwerdeführer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Süden Nigerias hauptsozialisiert wurde und dass keine tragfähgen oder positiven Hinweise bestünden, dass der Beschwerdeführer in Gambia hauptsozialisiert worden sein könnte. Ebensowenig gebe es einen positiven oder tragfähigen Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer in einer väterlicherseits aus Somalia stammenden Familie sozialisiert sein könnte, oder dass er um das Jahr 2012/2013 von Gambia nach Somalia gereist wäre und sich dort drei oder vier Monate aufgehalten haben könnte.

16. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.08.2018, 072 Hv 70/2018t, wurde der Beschwerdeführer wegen Vergehen nach § 27 Abs 1 Z 1 2. Fall SMG, §§ 27 Abs 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt.

17. Am 01.10.2019 wurde der Beschwerdeführer durch die belangte Behörde einvernommen und ihm hierbei Parteiengehör zu dem eingeholten linguistischen sowie landeskundlichen Sachverständigengutachten gewährt. Hierbei bestätigte der Beschwerdeführer, dass er keine landesübliche gambische Sprache spreche, doch gebe es in Gambia so viele ethnische Sprachen, „da kann es schon sein, dass jemand die eine oder andere Sprache nicht spricht“. Dass er kein Suaheli spreche begründete er damit, dass er „ja nicht lange in Somalia gelebt“ habe. Jeglichen Bezug zu Nigeria stellte er in Abrede. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe verwies er abermals auf die Gefahr einer Rekrutierung in Somalia durch die Miliz Al-Shabaab. Überdies gab er abermals an, gegenwärtig keine Dokumente in Vorlage bringen zu können, um das Sachverständigengutachten zu entkräften, jedoch könne er die Frau seines Onkels in Somalia anrufen, dass diese ihm seine Geburtsurkunde postalisch übermittle. Dem Beschwerdeführer wurde eine Frist von drei Wochen eingeräumt, der Behörde identitätsbezeugende Dokumente vorzulegen. Diese Frist ließ er ungenutzt verstreichen.

18. Mit angefochtenem Bescheid vom 02.04.2020 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.) stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt IV.), erließ gegen den Beschwerdeführer ein Einreiseverbot in der Höhe von 8 Jahren (Spruchpunkt V.), stellte fet, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 30.07.2014 verloren hat (Spruchpunkt VI.) und aberkannte einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung (Spruchpunkt VII.).

19. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

20. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 19.06.2020 wies die belangte Behörde die Beschwerde als unbegründet ab und wiederholte die Spruchpunkte I. bis VII. des angefochtenen Bescheides.

21. Mit Schriftsatz vom 06.07.2020 beantragte der Beschwerdeführer die Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

22. Mit Schriftsatz vom 06.07.2020 legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.

23. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 12.10.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung I409 abgenommen und der Gerichtsabteilung I413 neu zugewiesen.

24. Am 14.10.2020 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht den nichtamtlichen Sachverständigen Dr. XXXX um Abgabe einer fachlichen Stellungnahme zu dem in der Beschwerde erstatteten Vorbringen bezüglich der Sprachkenntnisse des Beschwerdeführers und der damit in Frage gestellten Schlussfolgerung der Hauptsozialisierung des Beschwerdeführers im Süden Nigerias.

25. Am 15.10.2020 forderte das Bundesverwaltungsgericht die Strafakten 48 Hv 28/2014a des Landesgerichts Wiener Neustadt sowie die Strafakten 06 Hv 192/2013w, 066 Hv 30/2016p, 072 Hv 70/2018t des Landesgerichts für Strafrechtssachen Wien an. Diese Akten langten am 23.10.2020 bzw 12.11.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

26. Am 19.10.2020 langte eine polizeiliche Meldung betreffend eine Anhaltung des Beschwerdeführers durch Organe der Polizei ein, bei der beim Beschwerdeführer „eine für einen Asylwerber deutlich große Bargeldmenge in üblicher SG-Stückelung“ festgestellt, obwohl dieser „keiner Beschäftigung nachgeht und keine glaubwürdige Herkunft Bargeldbestandes angibt“ und eine Meldung an das BMI Abteilung V/8 – Referat Asyl und Betreuung zwecks Überprüfung der Rechtmäßigkeit der österreichischen Grundversorgung erging.

27. Am 09.10.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht die gutachterliche Stellungnahme des nichtamtlichen Sachverständigen Dr XXXX ein.

28. Am 14.12.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung durch, an der weder der Beschwerdeführer, noch dessen Rechtsvertreter noch die belangte Behörde teilnahmen. Die Ladungen an den Beschwerdeführer und an Rechtsvertreter wurden diesen am 19.10.2020 um 15:09 Uhr zugestellt. Es wurden keine Gründe vorgebracht, dass der Beschwerdeführer oder sein Rechtsvertreter an der Teilnahme zur mündlichen Verhandlung gehindert wären. Die belangte Behörde gab am 28.10.2020 bekannt, nicht an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Das Bundesverwaltungsgericht erörterte in dieser mündlichen Verhandlung nach Verlesung der am 09.12.2020 eingelangten fachlichen Stellungnahme die Schlussfolgerungen des Sachverständigen sowie die aktuelle Lage in Nigeria sowie die Identität, persönlichen Lebensumstände und Fluchtgründe sowie die Rückkehrsituation des Beschwerdeführers und verkündete in dieser mündlichen Verhandlung das gegenständliche Erkenntnis mündlich. Die Niederschrift wurde den Parteien am 14.12.2020 zugestellt.

29. Mit dem am 23.12.2020 eingelangten Schriftsatz vom 22.12.2020 beantragte der Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der in Punkt I. dargestellte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der volljährige Beschwerdeführer nennt sich XXXX. Er ist ledig, kinderlos, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Seine Identität steht nicht fest.

Er leidet an keiner lebensbedrohlichen oder dauerhaft behandlungsbedürftigen Gesundheitsbeeinträchtigung und ist erwerbsfähig.

Er unterzieht sich seit dem 08.08.2019 aufgrund einer strafgerichtlichen Weisung einer ambulanten gesundheitsbezogenen Maßnahme nach § 11 SMG bei einem Verein zur Rehabilitation und Integration suchtkranker Menschen, wobei die Behandlung wöchentliche Psychotherapiestunden und Harnuntersuchungen vorsieht. Der Beschwerdeführer steht nicht in medikamentöser Behandlung.

Er hält sich seit (zumindest) 30.09.2013 im Bundesgebiet auf. Er verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte und führt auch keine Lebensgemeinschaft mit einer taiwanesischen Staatsangehörigen.

Der Beschwerdeführer ging in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nach und bestreitet seinen Lebensunterhalt über die staatliche Grundversorgung. Er weist keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht auf.

Der Beschwerdeführer ist mehrfach einschlägig strafrechtlich vorbestraft. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 07.01.2014, 061 Hv 192/13w, wurde er wegen Begehens des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften (Kokain) nach § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, hiervon sechs Monate unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, verurteilt, weil er in Wien gewerbsmäßig zwei Kugeln Kokain mit 1,4 g brutto durch gewinnbringenden Verkauf anderen überlassen hat. Als erschwerend wurde kein Umstand gewertet, als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel und das reumütige Geständnis.

Mit Urteil des Landesgerichts Wr. Neustadt vom 29.07.2014, 48 Hv 28/14a, wurde der Beschwerdeführer wegen vorschriftswidrigen Überlassens von Suchtgift, und zwar von drei Kugeln Kokain mit 1,6 g brutto, durch gewinnbringenden Verkaufs an einem anderen gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 8. und Abs. 3 SMG zu einer zwölfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als strafmildernd wurde das Geständnis, als straferschwerend der rasche Rückfall und die einschlägige Vorstrafe gewertet. Außerdem widerrief das Gericht die mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 07.01.2014 gewährte bedingte Strafnachsicht.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 13.06.2016, 066 E Hv 30/16p, wurde der Beschwerdeführer weil er vorschriftswidrig gewerbsmäßig durch gewinnbringenden Verkauf von zwei Kugeln Kokain zu 0,6 g brutto, ca. hundert Kugeln Kokain anderen Suchtgift überließ sowie weil er eine nicht mehr festzustellende Menge Kokain zum Eigenkonsum erworben und besessen hat, gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall Abs. 3 SMG und § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall, Abs. 2 SMG zu einer 14-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als strafmildernd wertete das Gericht das teilweise Geständnis und die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes, als straferschwerend das Zusammentreffen mehrere Vergehen, die einschlägigen Vorstrafen und den raschen Rückfall. Außerdem beschloss das Gericht den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23.03.2015, 180 BE 128/15g verfügte bedingte Entlassung zu widerrufen.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.06.2018, 072 Hv 70/18t wurde der Beschwerdeführer wegen vorschriftswidrigen gewerbsmäßigen Überlassens von Kokain (insgesamt 35 Säckchen mit jeweils 0,5 g brutto Kokain) gegen Entgelt an andere sowie wegen des Besitzes von 48 Säckchen mit einer Gesamtmenge von 16,69 g brutto Kokain nicht ausschließlich zum persönlichen Gebrauch gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 3 SMG sowie gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall SMG sowie unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Als strafmildernd wertete das Gericht das reumütige Geständnis und die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes, als erschwerend die drei einschlägigen und sogar rückfallsbegründenden Vorstrafen, der rasche Rückfall, das Zusammentreffen von zwei Vergehen, die Tatwiederholung im Rahmen der Gewerbsmäßigkeit.

In Bezug auf das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und aufgrund der allgemeinen Lage im Land wird festgestellt, dass er in Nigeria nicht aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werden würde. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

1.2. Zu den Feststellungen zur Lage in Nigeria

1.2.1.  COVID-19

Die COVID-19-Situation in Nigeria ist nach wie vor angespannt. Die veröffentlichten absoluten Zahlen an bisherigen Infizierten (rund 62.000) geben angesichts der geringen Durchtestung der 200-Millionen-Bevölkerung ein verzerrtes Bild. Aussagekräftiger ist der Anteil der positiven Fälle gemessen an der Zahl der durchgeführten Tests. Dieser lag im Oktober 2020 landesweit bei mehr als drei Prozent, in der Metropole Lagos hingegen bei etwa 30 Prozent. Die Zahlen berücksichtigen noch nicht die Auswirkung der #EndSARS-Proteste, bei denen von den Demonstrierenden praktisch keine Schutzvorkehrungen gegen COVID-19 getroffen worden sind. Ein Anstieg an positiven Fällen ist hauptsächlich in der Südwestzone des Landes zu beobachten. In einigen Bundesstaaten herrscht überhaupt Skepsis an der Notwendigkeit von COVID-19- Maßnahmen. Die allgemeine Risikowahrnehmung und die Nachfrage nach Tests sind gering (ÖB 10.2020).

In Nigeria gibt es wie in anderen afrikanischen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020). Anfang September 2020 wurde die Phase 3 der Restriktionen im Zusammenhang mit der Coronakrise in Kraft gesetzt. Die Ausgangssperre gilt im ganzen Land nun von Mitternacht bis vier Uhr. Meetings bis zu maximal 50 Personen sind gestattet. In Lagos dürfen Restaurants, Klubs und Kirchen etc. unter bestimmten Auflagen öffnen (WKO 25.9.2020).

Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abzuschätzen (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 Prozent gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 Prozent erwartet (WKO 14.9.2020).

Quellen:

?        AfricaCDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (13.10.2020): Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC, https://africacdc.org/covid-19/, Zugriff 13.10.2020

?        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2020): Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 5.10.2020

?        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, htt- ps://www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020

?        WKO - Wirtschaftskammer Österreich (25.9.2020): Coronavirus: Situation in Nigeria - Aktuelle Informationen und Info-Updates, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/co ronavirus-info-nigeria.html , Zugriff 13.10.2020

?        WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.9.2020): Die nigerianische Wirtschaft, https: //www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html, Zugriff 13.10.2020

1.2.2.  Politische Lage

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2019; vgl. AA16.1.2020; GIZ 9.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 9.2020a; vgl. AA16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 9.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 16.1.2020).

Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem starken exekutiven Präsidenten (Präsidialsystem nach US-Vorbild) (AA24.5.2019a). Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten - zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte - und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 16.1.2020). Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen ihre Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 4.3.2020).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 9.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten des Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 9.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes. Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Abubakar focht das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof aufgrund von Unregelmäßigkeiten an (GIZ 9.2020a).

Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress" (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party" (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).

Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 9.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Dieser Einfluss wird von der jüngeren Generation aber zunehmend in Frage gestellt (AA 24.5.2019a).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

?        AA-Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt .de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844 , Zugriff 30.9.2020

?        AA-Auswärtiges Amt (24.5.2019b): Nigeria - Überblick, https://www.auswaertiges-amt.d e/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeria/205786 , Zugriff 30.9.2020

?        BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co .uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3 , Zugriff 12.4.2019

?        DW - Deutsche Welle (11.3.2019): EU: Nigerian state elections marred by ’systemic fai- lings’, https://www.dw.com/en/eu-nigerian-state-elections-marred-by-systemic-failings/a- 47858131 , Zugriff 9.4.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020

?        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html , Zugriff 30.9.2020

?        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

?        Stears News (9.4.2020): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng. com/governor/2019 , Zugriff 9.4.2020

1.2.3.  Sicherheitslage

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insur- genz. Im „Middlebelt" kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra") bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).

Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).

In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/lo- cal/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_- abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_- 2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020

?        AA-Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise

?        (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-n ode/nigeriasicherheit/205788#content_5,16.4.2020

?        BBC News (26.10.2020): Nigeria protests: Police chief deploys ’all resources’ amid street violence, https://www.bbc.com/news/world-africa-54678345, Zugriff 28.10.2020

?        CFR - Council on Foreign Relations (2020): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/ nigeria/nigeria-security-tracker/p29483 , Zugriff 8.10.2020

?        DS - Der Standard (16.10.2020): Berüchtigte „Sars“-Polizeieinheit in Nigeria nach Protesten abgeschafft, https://www.derstandard.at/story/2000120951836/beruechtigte-sars-pol izeieinheit-in-nigeria-nach-protesten-abgeschafft, Zugriff 28.10.2020

?        EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_C OI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020

?        Garda - Gardaworld (23.6.2020): Nigeria: Gunmen attack village in Zamfara State on June 20, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/353501/nigeria-gunmen-attack-viNage-in -zamfara-state-on-june-20 , Zugriff 8.10.2020 (siehe „context“)

?        Guardian, The (11.10.2020): Nigeria to disband Sars police unit accused of killings and brutality, https://www.theguardian.com/world/2020/oct/11/nigeria-to-disband-sars-police -unit-accused-of-killings-and-brutality, Zugriff 28.10.2020

?        UKFCDO - United Kingdom Foreign, Commonwealth & Development Office (26.9.2020): Foreign travel advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria , Zugriff 8.10.2020

1.2.4.  Nigerdelta

Im Nigerdelta, dem Hauptgebiet der Erdölförderung, bestehen zahlreiche bewaffnete Gruppierungen, die sich neben Anschlägen auf Öl- und Gaspipelines auch auf Piraterie im Golf von Guinea und Entführungen mit Lösegelderpressung spezialisiert haben (ÖB 10.2019).

Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Ölinfrastruktur) durchzusetzen. 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar’Adua mit einem Amnestieangebot eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Es kam zur Wiederaufnahme der Attacken gegen die Ölinfrastruktur (AA 16.1.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020). Im Herbst 2016 konnte mit den bewaffneten Gruppen ein neuer Waffenstillstand vereinbart werden, der bislang großteils eingehalten wird (ÖB 10.2019). Das Amnestieprogramm ist bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen (AA 16.1.2020).

Die Lage bleibt aber sehr fragil, da weiterhin kaum nachhaltige Verbesserung für die Bevölkerung erkennbar ist (AA 16.1.2020). Angriffe auf Erdöleinrichtungen stellen weiterhin eine Bedrohung für die Stabilität und die Erdölproduktion dar (ACCORD 17.4.2020). Der Konflikt betrifft die Staaten des Nigerdeltas, darunter Abia, Akwa, Ibom, Bayelsa, Cross River, Delta, Edo, Imo, Ondo und Rivers (EASO 2.2019).

Das Militär hat auch die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u.a. gegen militante Gruppierungen im Nigerdelta eingesetzt wird. Auch wenn sie stellenweise recht effektiv vorgeht, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelte es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 16.1.2020).

Das Risiko von Entführungen ist hoch und besteht landesweit (AA 8.10.2020), so wurden auch im Jahr 2019 Zivilisten entführt um Lösegeld zu erhalten (USDOS 11.3.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (8.10.2020): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise,

?        https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherhei t/205788#content_5 , Zugriff 8.10.2020

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

?        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentati- on (17.4.2020): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.n et/de/dokument/2028159.html , Zugriff 17.4.2020

?        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf , Zugriff

?        17.4.2020

?        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

?        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020

1.2.5.  Middle-Belt inkl. Jos/Plateau

In Zentralnigeria bestehen Konflikte zwischen Hirten und Bauern um Land und Ressourcen. In einzelnen Fällen forderten diese Auseinandersetzungen mehrere hundert Tote. Der Konflikt nimmt durch die fortschreitende Wüstenbildung in Nordnigeria, Bevölkerungswachstum und die angespannte wirtschaftliche Lage zu (AA 24.5.2019a).

Seit Jahrzehnten kommt es in Nigeria - vorwiegend im Middle-Belt - zu religiös motivierter Gewalt zwischen christlichen, sesshaften Bauern und nomadisch lebenden, muslimischen Viehhirten. Ursprünglich ein Konflikt um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land, hat der Konflikt zunehmend eine ethnisch-religiöse Dimension bekommen (EASO 2.2019). Der Konflikt lädt sich immer stärker ideologisch auf und verstärkt den Antagonismus zwischen Christen und Muslimen bzw. verschiedenen Ethnien (AA 16.1.2020).

2019 gab es weniger Berichte über religiös motivierte interkommunale Gewalt im Middle Belt als im Jahr 2018. Es gab jedoch Berichte über Angriffe von kommunalen oder ethnischen Milizen auf ganze Gemeinden, wie in Kaduna zwischen christlichen Adara und muslimischen Fulani Gruppen, sowie in Zamfara und Taraba (USCIRF 4.2020). Bei bewaffneten Zusammenstößen zwischen Bauern und Viehhirten über immer knapper werdende Ressourcen wurden 2019 mindestens 96 Menschen getötet (AI 8.4.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

?        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt .de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/innenpolitik/205844 , Zugriff 30.9.2020

?        AI - Amnesty International (8.4.2020): Amnesty Report, Nigeria, 2019, https://www.am nesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669032 , Zugriff

?        16.4.2020

?        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf , Zugriff

?        17.4.2020

?        USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2020): United States Commission on International Religious Freedom 2020: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2028970/Nigeria.pdf, Zugriff 9.10.2020

1.2.6.  Nordnigeria - Boko Haram

Boko Haram ist seit Mitte 2010 für zahlreiche schwere Anschläge mit Tausenden von Todesopfern verantwortlich (AA 24.5.2019a). Im August 2016 spaltete sich Boko Haram als Folge eines Führungsstreits in Islamic State West Africa (ISIS-WA) und Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad (JAS) auf (EASO 11.2018a).

Dem Konflikt fielen bisher unterschiedlichen unabhängigen Schätzungen zufolge zwischen 20.000 und 30.000 Menschen zum Opfer (AA 24.5.2019a; vgl. HRW 14.1.2020; EASO 11.2018a). Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende ISIS-WA terrorisieren die Zivilbevölkerung weiterhin durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel (AA 16.1.2020). Diese Gruppen sind auch weiterhin für Angriffe auf militärische und zivile Ziele in Nordnigeria verantwortlich (USDOS 24.6.2020).

Seit der Angelobung von Präsident Buhari im Mai 2015 wurden effektivere Maßnahmen gegen die Aufständischen ergriffen (ACCORD 17.4.2020). Die von Boko Haram betroffenen Staaten (v.a. Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria) haben sich im Februar 2015 auf die Aufstellung einer circa 10.000 Mann starken Multinational Joint Task Force (MNJTF) zur gemeinsamen Bekämpfung von Boko Haram verständigt (AU-EU o.D.). In den vergangenen Jahren wurde die Militärkampagne gegen die Islamisten auf Druck und unter Beteiligung der Nachbarstaaten intensiviert und hat laut Staatspräsident Buhari zu einem von der Regierung behaupteten „technischen Sieg" geführt (ÖB 10.2019). Tatsächlich gelang es dem nigerianischen Militär und Truppen aus den Nachbarländern Tschad, Niger und Kamerun, Boko Haram aus einigen Gebieten zu verdrängen (GIZ 9.2020a). Nach dem Rückzug in unwegsames Gelände und dem Treueeid einer Splittergruppe gegenüber dem sogenannten Islamischen Staat ist Boko Haram mittlerweile zur ursprünglichen Guerillataktik von Überfällen auf entlegenere Dörfer und Selbstmordanschlägen - oft auch durch Attentäterinnen - zurückgekehrt (ÖB 10.2019; vgl. ACCORD 17.4.2020). Insgesamt hat sich die Sicherheitslage im Nordosten nach zeitweiliger Verbesserung (2015-2017) seit 2018 wieder verschlechtert. Die nigerianischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, ländliche Gebiete zu sichern und zu halten und beschränken sich auf das Verteidigen einiger urbaner Zentren im Bundesstaat Borno (AA 16.1.2020).

Einige Gebiete stehen immer noch unter der Kontrolle der verschiedenen Fraktionen der Gruppe. JAS scheint im Nordosten in Richtung Kamerun am aktivsten zu sein, während ISIS-WA hauptsächlich in der Nähe der Grenze zu Niger operiert (EASO 2.2019). Im Jahr 2019 führten Boko Haram und ISIS-WA Angriffe auf Bevölkerungszentren und Sicherheitskräfte im Bundesstaat Borno durch. Boko Haram führte zudem in eingeschränktemAusmaßAnschläge im Bundesstaat Adamawa durch, während ISIS-WA Ziele im Bundesstaat Yobe angriff. Boko Haram kontrolliert zwar nicht mehr so viel Territorium wie zuvor, jedoch ist es beiden Gruppen im Nordosten des Landes weiterhin möglich, Anschläge auf militärische und zivile Ziele durchzuführen (ACCORD 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

ISIS-WA scheint im Juni 2020 im nordöstlichen Nigeria wieder an Stärke zu gewinnen. Im Juni 2020 wurden mehr als 120 Menschen innerhalb einer Woche von der Gruppe getötet (AP 26.6.2020). Allein im Jahr 2019 sind ca. 640 Zivilisten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Boko Haram getötet worden. Außerdem entführte die Gruppe mindestens 16 Menschen (HRW 14.1.2020). Laut einer anderen Quelle wurden bei mindestens 31 bewaffneten Angriffen der Boko Haram im Jahr 2019 mindestens 378 Zivilpersonen getötet (AI 8.4.2020). Im Jahr 2018 kamen beim Konflikt im Nordosten zumindest 1.200 Personen ums Leben, knapp 200.000 Personen wurden intern vertrieben (HRW 17.1.2019).

IOM zählt derweil etwa 1,6 Millionen IDPs, ca. 200.000 nigerianische Flüchtlinge befinden sich in den Nachbarländern (AA 24.5.2019a). Andere Quellen berichten von circa zwei Millionen IDPs und mehr als 240.000 nigerianischen Flüchtlingen in den angrenzenden Staaten (USDOS 11.3.2020).

Auch wenn die zivile Bürgerwehr Civilian Joint Task Force stellenweise recht effektiv gegen Boko Haram vorging, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/localy2 025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie berelevante_LageJn_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29 %2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020

?        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt .de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/innenpolitik/205844 , Zugriff 30.9.2020

?        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentati- on (17.4.2020): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.n et/de/dokument/2028159.html , Zugriff 17.4.2020

?        AI - Amnesty International (8.4.2020): Amnesty Report, Nigeria, 2019, https://www.am nesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669032 , Zugriff 16.4.2020

?        AP - The Associated Press (26.6.2020): In Nigeria, an Islamic State-linked group steps up attacks, https://apnews.com/article/d72560593efce0a51e15190c95ac3705 , Zugriff 9.10.2020

?        AU-EU - African Union-EU Partnership (o.D.): Multinational Joint Task Force (MNJTF) against Boko Haram, https://www.africa-eu-partnership.org/en/projects/multinational-join t-task-force-mnjtf-against-boko-haram , Zugriff 9.10.2020

?        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf , Zugriff 17.4.2020

?        EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_C OI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 12.4.2019

?        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020a): Nigeria - Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/nigeria/geschichte-staat/, Zugriff 30.9.2020

?        HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2022679.html , Zugriff 17.4.2020

?        HRW - Human Rigths Watch (17.1.2019): World Report 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/en/document/2002184.html , Zugriff 11.4.2019

?        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ec oi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020

?        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020

?        USDOS - U.S. Department of State (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 - Chapter 1 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032436.html , Zugriff 9.10.2020

1.2.7.  Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020; ÖB 10.2019). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 16.1.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2019). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 16.1.2020). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 11.3.2020).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 16.1.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law" oder „Customary Law") durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte" neben „Common Law"- und „Custo- mary Courts" geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2019).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020; ÖB 10.2019; USDOS 11.3.2020). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020). Vor allem auf Bundesstaatsund Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020) sowie die insgesamtzu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020; USDOS 11.3.2020; ÖB 10.2019; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 4.3.2020).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 16.1.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 11.3.2020). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 16.1.2020).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 16.1.2020). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 16.1.2020).

Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und -fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

?        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.n et/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020

?        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

?        UKHO - United Kingdom Home Office (3.2019): Country Policy and Information Note - Nigeria: Actors of protection, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/upload s/system/uploads/attachment_data/file/794316/CPIN_-_NGA_-_Actors_of_Protection.fi nal_v.1.G.PDF , Zugriff 29.4.2020

?        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020

1.2.8.  Scharia

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 16.1.2020).

Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen. Bei den Scharia-Gerichten kommt die Bedingung hinzu, dass beide Parteien Muslime sein müssen (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 10.6.2020). Mindestens ein Bundesstaat, Zamfara, schreibt vor, dass Zivilverfahren, bei denen alle Prozessparteien Muslime sind, vor Scharia-Gerichten verhandelt werden, wobei die Möglichkeit besteht, gegen jede Entscheidung beim Zivilgericht Berufung einzulegen (USDOS 11.3.2020). Nicht-Muslime haben die Möglichkeit, ihre Fälle vor den Scharia-Gerichten verhandeln zu lassen, wenn sie dies wünschen (USDOS 10.6.2020). Nicht-Muslime haben aber jedenfalls das Recht auf ein Verfahren vor einem säkularen Gericht (BS 2020). Die Statuten der Scharia schreiben schwere Strafen für Vergehen im Bereich der Pressefreiheit vor. Frauen sind durch diese ebenfalls stark benachteiligt (FH 4.3.2020).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, sodass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Dabei erregten Ermittlungen und Anklagen wegen sogenannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 16.1.2020).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- undAmputationsurteile in andere Strafen um (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2020). Im Jahr 2019 gab es keine Berichte über ausgeführte Prügelstrafen (USDOS 11.3.2020). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 16.1.2020). Urteile von Scharia-Gerichten können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 11.3.2020). Es gibt Hisbah- Verbände zur Durchsetzung der Scharia, die sich stark zwischen den Staaten unterscheiden (USCIRF 12.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/localy2 025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie berelevante_LageJn_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29 %2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020

?        AA-Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt .de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE /Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html , Zugriff 30.9.2020

?        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.n et/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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