TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/9 I414 2232094-1

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Veröffentlicht am 09.02.2021
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Entscheidungsdatum

09.02.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §43
BBG §45
B-VG Art133 Abs4

Spruch


I414 2232094-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian EGGER als Vorsitzender und den Richter Dr. Harald NEUSCHMID sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Elisabeth RIEDER als Beisitzerin über die Beschwerde von XXXX , vertreten durch Verein ChronischKrank Österreich, Kirchplatz 3, 4470 Enns, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Tirol (SMS) vom 13.05.2020, Zl. XXXX , in nicht öffentlicher Sitzung, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben. Der Gesamtgrad der Behinderung beträgt 70%.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Frau Michaela Maria AUER (in der Folge als Beschwerdeführerin bezeichnet) stellte am 14.02.2020 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses. Am 21.04.2020 wurde von der Sachverständigen Frau Dr.in N. ein Gutachten aufgrund der Aktenlage erstellt.

Dabei wurde unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Unterlagen nachfolgende Funktionseinschränkungen festgestellt:

„[…]

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Der GdB durch Leiden 1 erhöht sich durch Leiden 2 und 3 um 1 Stufe auf insgesamt 60%, da eine negative wechselseitige Beeinflussung vorliegt. Leiden 4 erhöht den GdB nicht, da es von geringer funktioneller Relevanz ist […]“.

Mit Schreiben vom 13.05.2020 wurde der Beschwerdeführerin ein Behindertenpass in Form einer Scheckkarte, welcher gemäß § 45 Abs 2 BBG Bescheidcharakter zukommt, mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60% zugestellt.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin, vertreten durch den Verein ChronischKrank Österreich, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Zusammengefasst wurde ausgeführt, dass betreffend Leiden 3 aus der Ambulanzkarte der Ambulanz für psychosomatische Medizin hervorgehe, dass sich die Beschwerdeführerin aus fachärztlicher Sicht in einem stark beeinträchtigenden psychischen Zustand befinde. Aufgrund ihres allgemein schlechten Gesundheitszustandes fehle ihr auch die Kraft für soziale Kontakte und sie ziehe sich immer mehr zurück. Seit einem Jahr befinde sie sich im Krankenstand und unterziehe sich einer Betreuung im Ausmaß von sieben Stunden pro Woche. Die Leistungsfähigkeit sei stark eingeschränkt und der soziale Kontakt nur schwer aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus werde im Aktengutachten das chronische Schmerzsyndrom, welches im Ärztebrief vom 07.01.2020 ausdrücklich als Hauptdiagnose angeführt worden sei, nicht berücksichtigt. Hinsichtlich des Leiden 2 wurde ausgeführt, dass entgegen der Einschätzung der Sachverständigen sehr wohl eine Erkrankung mit mittelgradigen Auswirkungen vorliege.

Vom erkennenden Gericht wurde Dr. T. mit der Erstellung eines ergänzenden Gutachtens beauftragt. Dieser beantwortete die ihm gestellten Fragen nach persönlicher Untersuchung der Beschwerdeführerin wie folgt:

„[…] Fragen a) und b):

Das psychische Leiden ist ein sehr komplexes, welches einerseits bereits Wurzeln in der Entwicklungsgeschichte der Beschwerdeführerin hat, wobei eine sichere Traumatisierung nicht festzustellen, letztlich aber zu vermuten ist. Auch handelt es sich nicht um eine bloße Depression, sondern um eine wiederum komplexe Symptomatik mit Ängsten, depressiven Symptomen, dem wiederkehrenden Verlust des vollständigen Realitätsbezuges im Sinne dissoziativer Phasen bis hin zu sogenannten Depersonalisationen, wo also die Betroffene sich bzw. die Umwelt sozusagen als entfernt oder unwirklich erlebt.

Das psychische Leiden ist besser unter dem Rahmensatz 03.05.02 einzuordnen, da überwiegend eine Anpassungsstörung, also eine neurotische Reaktion auf die Schmerzsymptomatik besteht, auch aber eine zumindest anteilige somatoforme Schmerzkomponente oder Schmerzverstärkung und eben auch der Verdacht auf eine posttraumatische Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur.

Der diesbezügliche Prozentsatz im Rahmen dieser Positionsnummer ist auf 50 % einzuschätzen, da zwar soziale Probleme bestehen, im Sinne von Rückzugstendenzen, aber keine soziale Desintegration.

Frage c) und d):

Der Begriff des chronischen Schmerzsyndroms ist relativ unscharf, hier liegt in jedem Fall ein solches vor, da definitionsgemäß Schmerzen bereits länger bestehen und in relativ intensiver Behandlung auch einer spezialisierten Ambulanz stehen. Allerdings lässt sich das

Schmerzsyndrom von der Ursache her nicht eindeutig zuordnen, sowohl die als onkologisch einzuschätzende Erkrankung des blutbildenden Systems als auch die Gelenksbeschwerden, die als Folge der Therapie verstanden werden und eben auch die bereits erwähnten psychischen Verstärker tragen zur Schmerzempfindung und zur Schmerzintensität bei.

Es findet sich in der EVO hier keine eindeutige Entsprechung, auch liegt eindeutig kein chronisches neurologisches Schmerzsyndrom vor, sodass die analog verwendete

Positionsnummer 02.02.03 wie im Gutachten der Frau Dr. N. bestätigt werden kann, auch hinsichtlich des Rahmensatzes von 50 %. Auch stellt das chronische Schmerzsyndrom aus heutiger Sicht das führende Leiden weiterhin dar.

Frage e) und f):

Es liegt eine myeloproliferative Erkrankung mit mittel- bis schwergradigen Auswirkungen vor, nicht zuletzt umfassen diese Auswirkungen wiederum Schmerzen bzw. Oberbauchbeschwerden, anhaltende Müdigkeit und gefühlte Erschöpfung sowie die Nebenwirkungen der medikamentösen Behandlung, in diesem Falle mit Jakavi.

Die hier angemessene Positionsnummer ist 10.02.03 (Polyzythämie mit schweren Auswirkungen bzw. Behandlungsbedürftigkeit mit gutem Therapieerfolg und mit schweren Auswirkungen auf die Belastbarkeit und Allgemeinzustand; auch hier ist ein höherer Rahmensatz von wiederum 50 % dem Leidenszustand der Beschwerdeführerin angemessen.

Frage g):

Die zu Diagnosen sind oben bereits wiedergegeben und durch ein Nebenleiden zu ergänzen, wobei das einseitige Kniegelenksleiden unter der Positionsnummer 02.05.18 mit 10 % bereits im Vorgutachten berechtigt anerkannt wurde.

Aus heutiger Sicht kann davon ausgegangen werden, dass sowohl das chronische Schmerzsyndrom (als Hauptleiden) als auch die Neubildung des blutbildenden Systems mit entsprechenden Auswirkungen und auch die psychische Begleitstörung Dauerzustände sind, eine Nachuntersuchung nicht angesetzt werden muss.

Frage i) und j):

Zusammengefasst wird also folgende Einschätzung des Grades der Behinderung empfohlen:

Unter der Positionsnummer 02.02.03 mit 50% das chronische Schmerzsyndrom als führendes Leiden mit 50 %

Unter der Positionsnummer 10.02.03 die myeloproliferative Erkrankung mit einem Rahmensatz von ebenfalls 50 % als das relevanteste Nebenleiden

Weiters unter der Positionsnummer 03.05.02 das psychische Leiden wie oben beschrieben ebenfalls mit einem Rahmensatz von 50 % und schließlich das geringfügige Knieleiden einseitig unter der Positionsnummer 02.05.18 mit 10 %.

Frage k):

Im Vergleich zu Vorgutachten kann keine Änderung des Gesundheitszustandes festgestellt werden, allerdings zeigt sich in der persönlichen Untersuchung, dass insbesondere die Auswirkungen der Bluterkrankung als auch die psychische Erkrankung höher einzuschätzen sind, insbesondere hier wieder das psychische Leiden. Nochmals darf darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein komplexes Zusammenwirken mehrerer körperlicher und psychischer Beschwerdebereiche und Ursachen handelt und es im Rahmen der Erstellung eines Aktengutachtens bzw. aus den Befunden heraus sehr schwierig ist, hier eine entsprechende Einschätzung vorzunehmen.

Der Gesamtgrad der Behinderung wird mit 70 % festgestellt, zur Begründung siehe unten

Frage m):

Da neben dem Schmerzsyndrom als Hauptleiden eine anhaltend behandlungsbedürftige und sich auf den Gesundheitszustand wesentlich und negativ auswirkende Erkrankung des blutbildenden Systems besteht und eine psychische Erkrankung, alle drei Leiden mit demselben Rahmensatz von 50 % einzuschätzen sind, ist in diesem Falle aufgrund der deutlich ausgeprägten und anhaltenden wechselseitig negativen Leidensbeeinflussung eine Erhöhung des gesamten Grades der Behinderung um zwei Stufen gerechtfertigt, woraus sich der oben festgestellte Gesamtgrad der Behinderung von nun 70 % rechtfertigt. […]“

Nach Hinweis der belangten Behörde, dass die vom Sachverständigen hinsichtlich Leiden 2 angegebene Positionsnummer in der Einschätzungsverordnung so nicht vergeben sei, korrigierte Dr. T. diese Angabe mit Schreiben vom 04.08.2020. Es handle sich um ein Versehen, die Positionsnummer werde nunmehr korrekt mit 10.03.08 angegeben, die Einschätzung bzw. der Rahmensatz ändere sich nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz im Inland und ist österreichische Staatsangehörige.

Sie beantragte die Ausstellung eines Behindertenpasses und wird im Verfahren durch den Verein ChronischKrank Österreich vertreten.

Die Beschwerdeführerin leidet an folgenden Gesundheitseinschränkungen:

Leiden 1: chronische Schmerzsyndrom, Positionsnummer 02.02.03 mit einem Grad der Behinderung von 50%

Leiden 2: myeloproliferative Erkrankung, Positionsnummer 10.03.08 mit einem Grad der Behinderung von 50%

Leiden 3: psychisches Leiden, Anpassungsstörung, Positionsnummer 03.05.02 mit einem Grad der Behinderung von 50%

Leiden 4: geringfügiges Knieleiden einseitig, Positionsnummer 02.05.18 mit einem Grad der Behinderung von 10 %

Leiden 1 bis 3 beeinflussen sich wechselseitig negativ und erhöht sich der Gesamtgrad der Behinderung um zwei Stufen, sodass dieser mit 70% einzustufen ist.

Es handelt sich um einen Dauerzustand.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsicht in den Akt der belangten Behörde, in die Gutachten und Stellungnahmen von Dr. N. und Dr. T., in den ausgestellten Behindertenpass in Scheckkartenformat, der als Bescheid anzusehen ist, sowie in den Beschwerdeschriftsatz der vertretenen Beschwerdeführerin.

Die Feststellungen zur Person und zum Antrag ergeben sich aus dem Veraltungsakt der belangten Behörde und sind unstrittig.

Den festgestellten Funktionseinschränkungen wurde letztlich nicht mehr entgegengetreten und ergeben sich diese aus dem Gutachten des Dr. T., insbesondere auch aus der korrigierten Eingabe vom 04.08.2020, die auch die belangte Behörde zur Kenntnis nahm.

Die getroffenen Einschätzungen basieren auf dem erhobenen klinischen Befund und den vorgelegten medizinischen Beweismitteln und entsprechen den festgestellten Funktionseinschränkungen nach der Einschätzungsverordnung. Insbesondere ergeben sich nach der Korrektur vom 04.08.2020 keine Zweifel mehr an der richtigen Subsumierung unter die vorgesehenen Positionsnummern nach der Einschätzungsverordnung. Der Sachverständige konnte sich auch durch persönliche Untersuchung der Beschwerdeführerin ein Bild vom aktuellen und ganzheitlichen Gesundheitszustand machen.

Daraus ergeben sich auch die Abweichungen zum Vorgutachten der Dr. N., die ihre Einschätzungen nach Aktenstudium und ohne Untersuchung der Beschwerdeführerin zu treffen hatte. Dr. T. führt nachvollziehbar aus, dass er den Feststellungen der Dr. N. hinsichtlich der Leiden an sich folgt, jedoch bei den Leiden 2 und 3 höhere Rahmensätze zur Anwendung bringt.

Bezüglich Leiden 1 führt er aus, dass die Einschätzungsverordnung für das chronische Schmerzsyndrom, dessen Ursache sich nicht eindeutig zuordnen lässt, keine eindeutige Entsprechung enthält und auch er der von Dr. N. bereits analog herangezogene Positionsnummer 02.02.03. sowie den Rahmensatz mit 50% bestätigen kann.

Auch Leiden 4 schätzt er unverändert im Vergleich zum Gutachten der Dr. N. mit 10% ein und stützt er sich hierbei auf die geringfügige Beeinträchtigung.

Die myeloproliferative Erkrankung schätzte Dr. T. im Gegensatz zu Dr. N. mit mittel- bis schwergradigen Auswirkungen ein und begründete dies mit Schmerzen bzw. Oberbauchbeschwerden, anhaltender Müdigkeit, gefühlte Erschöpfung sowie mit den Nebenwirkungen der medikamtenösen Behandlung. Alle Faktoren wirken sich negativ auf die Belastbarkeit und den Allgemeinzustand aus, weshalb der höhere Rahmensatz von 50% gerechtfertigt ist. Damit einhergehend ändert sich auch die Positionsnummer im Vergleich zum Vorgutachten und wurde diese, nach Korrektur, mit 10.03.08 angegeben.

Dr. T. setzte sich auch umfassend mit den psychischen Leiden auseinander und kam als Facharzt für Psychiatrie zum Schluss, dass Leiden 3 besser unter Positionsnummer 03.05.02 einzuschätzen ist, da überwiegend eine Anpassungsstörung, also eine neurotische Reaktion auf die Schmerzsymptomatik besteht. Mit einbezogen wurde auch das Vorliegen einer zumindest anteiligen somatoformen Schmerzkomponente und auch der Verdacht auf eine posttraumatische Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur. Der psychiatrische Sachverständige erklärte in der Folge schlüssig, dass ein Einzelgrad der Behinderung von 50% vorliegt, da zwar soziale Probleme im Sinne von Rückzugstendenzen bestehen, aber keine soziale Desintegration.

Dass Dr. T. insgesamt zu abweichenden Einschätzungen zum Vorgutachten gekommen ist, konnte er nachvollziehbar in der Komplexität der Erkrankungen erklären. Die Leiden 1 bis 3 greifen ineinander und zeigte sich erst in der persönlichen Untersuchung, dass insbesondere die Auswirkungen der Bluterkrankung als auch die psychische Erkrankung deshalb höher einzuschätzen sind.

Insgesamt ist festzuhalten, dass der Gutachter auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausreichend eingegangen ist und die Beeinträchtigungen im Sinne der Einschätzungsverordnung richtig eingestuft wurden.

Da es sich um ein komplexes Zusammenwirken mehrerer körperlicher und psychischer Beschwerdebereiche handelt und sich die Leiden 1 bis 3 gegenseitig negativ beeinflussen, ordnete der Sachverständige den Gesamtgrad der Behinderung schlüssig um zwei Stufen höher, also mit 70% ein.

Aufgrund der wechselseitigen Auswirkungen geht der Sachverständige auch von einem Dauerzustand der Leiden 1 bis 3 aus und konnte er keine Hinweise erkennen, die eine Nachuntersuchung notwendig machen würden.

Das Gutachten von Dr. T. wurde der Beschwerdeführerin sowie der belangten Behörde zur Stellungnahme übermittelt. Diese sind, abgesehen vom Hinweis auf die Angabe einer nicht existenten Positionsnummer, nicht entgegengetreten.

Das Gutachten steht mit den allgemeinen Gesetzen der Logik in Einklang, ist schlüssig und vollständig und ihm wurde nicht entgegengetreten. Aus diesen Gründen legt der erkennende Senat dieses Gutachten samt Stellungnahme (korrigierte Positionsnummer) unter freier Beweiswürdigung seiner Entscheidung zu Grunde.

Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:

Nach § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen (§ 24 Abs. 1 VwGVG). Wurde - wie im vorliegenden Fall - kein entsprechender Antrag gestellt, ist die Frage, ob von Amts wegen eine Verhandlung durchgeführt wird, in das pflichtgemäße - und zu begründende - Ermessen des Verwaltungsgerichts gestellt, wobei die in § 24 Abs. 2, 3, 4 und 5 normierten Ausnahmebestimmungen als Anhaltspunkte der Ermessensübung anzusehen sind (vgl. zur insofern gleichartigen Regelungsstruktur des § 67d Abs. 1 und 2 bis 4 AVG [alte Fassung] die Darstellung bei Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 17 und 29, mwH). Gemäß Abs. 3 leg.cit. hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Gemäß Abs. 4 leg. cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und dem eingeholten Ergänzungsgutachten. Zudem sind die Verfahrensparteien dem letztlich eingeholten Gutachten des Dr. T. nicht (mehr) entgegengetreten. Es wurde seitens der Beschwerdeführerin keine Stellungnahme abgegeben, die belangte Behöre wies lediglich auf die inkorrekte Positionsnummer hin und nahm die Änderung zur Kenntnis.

Dies lässt - gerade auch vor dem Hintergrund des Umstandes, dass eine mündliche Verhandlung von der vertretenen Beschwerdeführerin und auch von der belangten Behörde nicht beantragt wurde - die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern auch im Sinne des Gesetzes (§ 24 Abs. 1 VwGVG) liegt, weil damit dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

§ 7 Abs. 1 BVwGG lautet wie folgt:

„Senate

§ 7. (1) Die Senate bestehen aus einem Mitglied als Vorsitzendem und zwei weiteren Mitgliedern als Beisitzern. Für jeden Senat sind mindestens ein Stellvertreter des Vorsitzenden und mindestens zwei Ersatzmitglieder (Ersatzbeisitzer) zu bestimmen.“

§ 45 Abs. 3 und 4 Bundesbehindertengesetz (BBG), BGBl 1990/283 in der geltenden Fassung, lauten wie folgt:

„(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.“

Über die vorliegende Beschwerde war daher durch einen Senat, bestehend aus zwei Berufsrichtern und einem fachkundigen Laienrichter, zu entscheiden.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Die maßgeblichen Bestimmungen des BBG lauten wie folgt:

„§ 43 (1) Treten Änderungen ein, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpass berührt werden, hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen diese zu berichtigen oder erforderlichenfalls einen neuen Behindertenpass auszustellen. Bei Wegfall der Voraussetzungen ist der Behindertenpass einzuziehen.

(2) Der Besitzer des Behindertenpasses ist verpflichtet, dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen binnen vier Wochen jede Änderung anzuzeigen, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpass berührt werden, und über Aufforderung dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen den Behindertenpass vorzulegen.

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.“

§ 4 der Einschätzungsverordnung (EVO) in der geltenden Fassung, lautet wie folgt:

„Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.
(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.“

Dem vom Bundesverwaltungsgericht als schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei gewertete Sachverständigengutachten von Dr. T. vom 23.07.2020 und der dazu erstatteten ergänzenden Stellungnahme vom 04.08.2019 (Korrektur der Positionsnummer) folgend, beträgt der Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin nunmehr 70%.

Die Einschätzung der Leiden 1 bis 4 unter die Positionsnummern 02.02.03, 10.03.08 (nach Korrektur), 03.05.02 und 02.05.18 und die gewählten Rahmensätze entsprechen ebenfalls dem vorgegebenen Rahmen der Anlage zur Verordnung.

Auch bei der Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist der Gutachter nach den Vorgaben von § 3 Abs. 3 der Einschätzungsverordnung ausgegangen, wonach eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, (nur) dann vorliegt, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt oder zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen. Diesbezüglich hat der Gutachter angegeben, dass die Leiden 1 bis 3 sich wechselseitig negativ beeinflussen und begründete dies umfassend. Der Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin wurde daher zu Recht um zwei Stufen erhöht und mit 50% festgestellt. Da Leiden mit weniger als 20% bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung wegen Geringfügigkeit außer Acht zu bleiben haben, wurde das Leiden 4 richtigerweise nicht erhöhend miteinbezogen.

Eine Befristung kann ausgesprochen werden, wenn sich nachvollziehbar ergibt, dass eine Nachuntersuchung aufgrund von möglichen Änderungen einer oder mehrerer Funktionseinschränkungen notwendig ist. Auch dazu wurde schlüssig erklärt, dass er sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von drei Leiden um einen Dauerzustand handelt.

Zusammengefasst liegen die Voraussetzungen für die Ausstellung eines unbefristeten Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 70% vor.

Der Beschwerde war daher stattzugeben und spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, insbesondere zur Frage der Notwendigkeit der Einholung eines Ergänzungsgutachtens und der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Behindertenpass Grad der Behinderung Neufestsetzung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I414.2232094.1.00

Im RIS seit

05.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

05.03.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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