TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/23 L501 2160037-1

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Veröffentlicht am 23.11.2020
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Entscheidungsdatum

23.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §13 Abs2
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L501 2160037-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene ALTENDORFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 1.9.2020 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides wie folgt zu lauten hat:

"Gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 haben Sie Ihr Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 20.03.2017 verloren."

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1.    Die beschwerdeführende Partei (in der Folge "bP") stellte im Gefolge ihrer illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 25.11.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Steiermark am 26.11.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache gab die bP an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehörige des Irak zu sein. Sie sei am XXXX in Bagdad geboren, Angehörige der arabischen Volksgruppe, Moslem der schiitischen Glaubensrichtung und ledig. Sie habe acht Jahre lang in Bagdad die Grundschule besucht. Zuletzt habe sie den Beruf des Malers ausgeübt. Ihre Eltern, ihre drei Schwestern und vier Brüder würden in Bagdad leben; ihr Bruder XXXX sei mit auf der Flucht. Ihre Wohnsitzadresse gab die bP mit Bagdad an.

Im Hinblick auf ihren Entschluss zur Ausreise und ihren Reiseweg brachte die bP zusammengefasst vor, dass sie im Jahr 2010 zum ersten Mal über eine Flucht nachgedacht und vor etwa einem Monat mit ihrem Bruder den Entschluss gefasst hätte, ihre Heimat endgültig zu verlassen. Sie hätte den Irak gemeinsam mit ihrem Bruder, ihrer Schwägerin und deren Mutter mit dem Flugzeug in Richtung Istanbul verlassen. Mit Hilfe eines Schleppers seien sie auf einem Boot auf die griechische Insel Samos und schließlich über Serbien, Mazedonien und andere Länder nach Österreich gelangt. Ausgereist seien sei mit einem irakischen Reisepass; die Schlepper hätten sie bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland gezwungen, die Reisepässe ins Meer zu werfen.

Zu den Gründen ihrer Ausreise befragt, führte die bP aus, dass sie in ihrem Dorf auf einem Markt gearbeitet habe; es habe fast täglich Anschläge und Entführungen gegeben. Im Jahr 2010 sei sie von Bombensplittern getroffen und verletzt worden. Damals habe es keine Gelegenheit zu fliehen gegeben. Jetzt hätten sie und ihr Bruder XXXX sich entschlossen, gemeinsam aus ihrem Heimatland zu fliehen. Bei einer Rückkehr in den Irak habe sie Angst, dass sie umgebracht oder entführt werde. Die Frage, ob es konkrete Hinweise gebe, dass ihr bei einer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohe bzw. ob sie im Falle ihrer Rückkehr in ihren Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, verneinte sie.

Die Amtshandlung fand im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache statt; die bP gab an, dass sie den Dolmetscher verstehe. Vor Abschluss der Befragung bestätigte die bP, dass die aufgenommene Niederschrift in eine für sie verständliche Sprache rückübersetzt wurde; Verständigungsprobleme habe es nicht gegeben.

I.2. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, (in der Folge "BFA") vom 14.4.2017 wurde der bP gemäß § 13 Abs. 2 AsylG der Verlust ihres Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet mitgeteilt. Begründet wurde dies mit dem Umstand, dass über die bP wegen des Verdachts der Tatbegehung nach § 27 Abs. 2a SMG am 8.4.2017 die Untersuchungshaft verhängt worden sei.

I.3.    Am 14.4.2017 wurde die bP vor dem BFA im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache niederschriftlich einvernommen. Zur Zeit der Einvernahme befand sich die bP aufgrund eines Beschlusses des Landesgerichtes Wien vom 11.4.2017 wegen des Verdachts auf Begehung eines Suchtmitteldeliktes nach § 27 Abs. 2a SMG, 15 StGB in Untersuchungshaft in der XXXX . Zum Zweck der gegenständlichen Einvernahme wurde die bP in das Polizeianhaltezentrum XXXX in Wien überstellt.

Zu Beginn der Amtshandlung wurde der bP der Grund der Einvernahme erläutert. Die bP gab eingangs ihrer Befragung an, den Dolmetscher sehr gut zu verstehen. Die bP bestätigte weiters, dass alle Angaben, die sei bei der Erstbefragung gemacht habe, stimmen würden.

Zur Person und ihren Lebensumständen befragt, gab die bP an, irakische Staatsangehörige, Araberin vom Stamm der XXXX und Moslem schiitischer Glaubensrichtung zu sein. Sie sei ledig und kinderlos. Sie habe sechs Jahre lang die Grundschule, anschließend drei Jahre die Mittelschule in Bagdad absolviert und sei von 2010 bis zu ihrer Ausreise als Malerin tätig gewesen. Ihr Vater sei pensionierter Offizier, die Mutter Hausfrau. Ihre Brüder würden folgende Berufe ausüben: XXXX sei Polizist, XXXX sei Maler, XXXX übe Gelegenheitsjobs aus, XXXX sei arbeitslos, XXXX sei Maler und übe auch Gelegenheitsjobs aus. Ihre Schwestern seien Hausfrauen. Die ganze Familie lebe noch in XXXX . Sie habe regelmäßig Kontakt mit ihren Angehörigen.

Über Befragen gab die bP an, sie sei weder politisch aktiv noch Angehörige einer Partei oder religiös tätig gewesen, auch Kontakt mit Islamisten habe sie nicht gehabt.

Zu den Gründen für das Verlassen ihrer Heimat führte die bP aus, dass ihr der Irak nichts im Leben gegeben hätte. Im Irak könne man nicht gut leben, es gebe Explosionen und Anschläge. Es gebe im Irak keine Sicherheit, wenn man auf die Straße gehe. Sie habe weder ihre Jugend noch ihr Leben leben können; mit 18 Jahren sei ein Freund von ihr bei einer Explosion gestorben, auch sie selbst sei bei diesem Anschlag verletzt worden. Sie habe Angst, das Leben dort sei zerstört. Es gebe den Kampf zwischen Sunniten und Schiiten. Sie habe viele Freunde in sunnitischen Gebieten, könne diese aber nicht besuchen und nur sehen, wenn sie sich in anderen Gebieten treffen würden. Auf dem Weg hierher habe sie den Tod vor sich gesehen, das Boot sei bei der Überfahrt untergegangen, in Serbien und Ungarn hätten sie Messer an ihren Hals gehalten. Die Frage, ob sie persönlich verfolgt oder bedroht worden sei, verneinte die bP. Auf die Frage, ob sie versucht habe, in einer anderen Ortschaft im Irak Fuß zu fassen, gab sie an, dass sie im Süden nicht leben könne, dort hätten sie ihre eigenen Traditionen. Sie habe ihre Haare gefärbt und ihre Bilder auf Facebook gestellt; deshalb sei sie beschimpft worden, weil sie im Süden ihre eigenen Sitten hätten. Im Norden könne sie nicht leben, dort brauche man ein hohes Einkommen. Die Frage, ob sie ausschließlich wegen der allgemeinen Sicherheitslage aus dem Irak geflüchtet sei, bejahte die bP. Sie wisse nicht, ob sie, wenn sie aus dem Haus gehe, am Abend zurückkehre. An schönen Orten im Irak würden Anschläge ausgeübt; die meisten Anschläge würden bei ihnen ausgeübt. Zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt gab die bP an, dass es ihr seelisch nicht gut gehen werde. Wenn sie ihren Ohrring sehen würden, würde die bP beschimpft.

I.4.    Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag der bP auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten als auch einer subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak fest (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.). Weiters sprach das BFA aus, dass die bP ihr Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 8.4.2017 verloren habe (Spruchpunkt V.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die bP glaubwürdiger Weise behauptet habe, dass sie wegen der allgemeinen Sicherheitslage aus Bagdad geflüchtet sei. Es habe nicht festgestellt werden können, dass sie einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung im Irak ausgesetzt gewesen sei oder eine solche künftig zu befürchten habe. Die bP könne in den Irak – insbesondere in die Stadt Bagdad – zurückkehren und würde bei ihrer Rückkehr nicht in eine Notlage geraten.

I.5.    Mit Verfahrensanordnung vom 3.5.2017 wurde der bP gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

I.6.    Mit Schriftsatz vom 29.5.2017 erhob die bP im Wege der ihr beigegebenen und von ihr bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation Beschwerde gegen den am 15.5.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des BFA.

In der Beschwerde machte die bP im Wesentlichen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, mangelhafte Länderfeststellungen, unrichtige Feststellungen und eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend.

Die bP brachte in der Beschwerde zusammengefasst vor, dass sie in Bagdad von konservativ eingestellten, extremistischen Gruppen beschimpft worden sei, da sie einen Ohrring trage. Auch als sie bereits in Österreich gewesen sei, sei sie von Personen, teilweise auch von Freunden, die noch im Irak lebten, beschimpft worden, weil sie ein Foto auf Facebook gestellt habe, auf welchem ihre Haare gefärbt seien. Sie trage außerdem ausgewaschene, zerrissene Jeans sowie moderne Hemden und fürchte im Falle einer Rückkehr Verfolgung durch extremistisch eingestellte Personen, da diese sie als homosexuell ansehen und deshalb verfolgen würden; sie fürchte Verfolgung aufgrund einer ihr unterstellten feindlichen, anti-islamistischen politischen und religiösen Gesinnung.

Die Länderfeststellungen würden sich nicht mit ihrem konkreten Fluchtvorbringen auseinandersetzen und habe es die belangte Behörde unterlassen, sich ausreichend mit der ihr (unterstellten) politischen und religiösen Gesinnung durch extremistische Gruppen bzw. Personen auseinanderzusetzen. Die Behörde habe außer Acht gelassen, dass sie aufgrund ihrer moderneren Einstellung, welche nicht in das traditionelle Bild passe, verfolgt werde. Weiters hätte sich das BFA mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob sie nicht schon alleine wegen ihrer Asylantragstellung in Österreich Verfolgung durch die irakische Regierung oder andere Akteure befürchten müsste.

Sie habe in ihrer Einvernahme angegeben, selbst als sie schon in Österreich gewesen sei, von Leuten, die noch im Irak lebten, aufgrund ihrer gefärbten Haare diskriminiert worden zu sein. Außerdem habe sie vorgebracht, dass sie im Falle einer Rückkehr in den Irak schon aufgrund dessen Verfolgung befürchte, da sie einen Ohrring trage. Die belangte Behörde hätte ergänzende Fragen zu ihrer westlichen Einstellung stellen müssen und hätte sie dann angegeben, dass sie auch aufgrund ihres Kleidungsstils – am liebsten trage sie zerrissene, ausgebleichte Jeans und moderne Hemden – von extremistisch eingestellten Gruppen oder Personen Verfolgung befürchte, da ihr von diesen unterstellt werden würde, homosexuell zu sein. Sie fürchte daher Verfolgung aufgrund einer ihr unterstellten feindlichen, anti-islamistischen politischen und religiösen Gesinnung.

Die belangte Behörde hätte darüber hinaus amtswegige Ermittlungen dahingehend anstrengen müssen, ob sie aufgrund der Asylantragstellung in Europa im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsse. Diesbezüglich sei auszuführen, dass sie vor einigen Tagen mit ihrem Bruder telefoniert und dieser ihr mitgeteilt habe, dass ein gemeinsamer Freund nach einer negativen Entscheidung über seinen Asylantrag in Finnland in den Irak zurückgekehrt und daraufhin verschwunden sei; seit seinem Verschwinden wisse keiner über dessen Aufenthalt Bescheid. Sie wolle ihre westliche Einstellung nicht aufgeben, könne mit einer solchen jedoch im Irak nicht auf Dauer überleben.

Es könne ihr nicht zugemutet werden, in den Irak zurückzukehren. Da sie überdurchschnittlich westlich eingestellt sei, würde ihr deshalb immer wieder Verfolgung drohen. Andererseits sei die Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet so prekär, dass sie jedenfalls in eine bedrohliche Lage geraten würde. Als Rückkehrerin aus dem westlichen Ausland sei sie zudem als besonders vulnerabel anzusehen.

Sie sei bereits sehr gut in Österreich integriert und sei außerdem seit sieben Monaten mit einer österreichischen Staatsbürgerin in einer Beziehung. Je nach Möglichkeit treffe sich das Paar jeden oder jeden zweiten Tag.

I.7.    Am 1.6.2017 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

I.8.    Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.8.2020 wurde die bP im Rahmen ihrer gesetzlichen Mitwirkungs- und Verfahrensförderungspflicht aufgefordert, bis zum 26.8.2020 die vom Gericht schriftlich übermittelten Fragen zu beantworten und ihre Behauptungen zur Glaubhaftmachung durch Bescheinigungsmittel zu belegen. Weiters wurde der bP das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, zur Stellungnahme bis zum 26.8.2020 übermittelt. Stellungnahmen langten jeweils nicht ein.

I.9.    Die der bP beigegebene und von ihr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation teilte dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 26.8.2020 mit, dass die erteilte Vollmacht zurückgelegt werde.

I.10.   Am 1.9.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der bP, ihrer beigegebenen Rechtsberaterin sowie einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden der bP ergänzende Erkenntnisquellen (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak vom 2.3.2020; ERRIN, Rückkehr- und Reintegrationsprogramm; Aktuelle Ereignisse – Briefing Notes des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge) zur Einsicht und Stellungnahme binnen einer Woche übergeben.

Die bP legte im Zuge der mündlichen Verhandlung Lichtbilder, die im Original und als Kopie (Blg./Aa – Am) zum Akt genommen wurden, eine Einstellungszusage (Bgl./B), sowie sieben Empfehlungsschreiben vor.

I.11.   Am 9.9.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine Teilnahmebestätigung über die Teilnahme der bP an einem Intensiv-Deutschkurs für Anfänger auf dem Sprachniveau A2 im Ausmaß von insgesamt 75 Stunden übermittelt. Eine Stellungnahme zu den Länderberichten langte nicht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Person der bP:

Die bP führt den Namen XXXX , ist am XXXX in Bagdad geboren, Staatsangehörige des Irak, Angehörige der arabischen Volksgruppe sowie Moslem der schiitischen Glaubensrichtung. Die bP spricht Arabisch als Muttersprache. Sie ist gesund.

Die bP ist ledig und hat keine Kinder. Sie hat fünf Brüder und drei Schwestern. Die bP besuchte neun Jahre lang die Schule in Bagdad, danach lernte sie Malerei und malte Privatwohnungen aus. Daneben übte sie verschiedene andere Tätigkeiten aus, z.B. als Kellnerin, Küchenhilfe oder Verkäuferin am Markt. Die bP lebte bis zu ihrer Ausreise gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Brüdern im Eigentumshaus ihrer Eltern in Bagdad. Die Eltern der bP werden auch von den Brüdern der bP finanziell unterstützt; der Vater der bP bezieht als ehemaliger Offizier eine staatliche Pension. Die drei Schwestern der bP sind verheiratet und leben ebenfalls in Bagdad. Die bP steht in regelmäßigem Kontakt zu einer ihrer Schwestern. Sie spricht auch mehrmals im Monat mit ihrer Mutter, bei diesen Gelegenheiten fallweise auch mit ihrem Vater. Mit ihren anderen Schwestern nimmt die bP anlassbezogen Kontakt auf.

Die bP reiste im November 2015 illegal und schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein. Ihr gemeinsam mit ihr eingereister Bruder XXXX ist bereits im Dezember 2016 wieder in den Irak zurückgekehrt. Die bP hat in Österreich keine Familienangehörigen oder sonstigen Verwandten. Sie hat im Jahr 2020 einen Deutschkurs für Anfänger auf dem Sprachniveau A2 besucht und verfügt über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache. Die bP hat in Österreich soziale und freundschaftliche Kontakte; eine bestehende Lebensgemeinschaft liegt nicht vor. Die bP hat keine Ausbildung absolviert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach, sie bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Sie legte eine Einstellungszusage als Hilfsarbeiterin für den Fall eines positiven Asylbescheides vor.

Von Seiten der Staatsanwaltschaft Wien wurde gegen die bP zum 20.3.2017 Anklage wegen § 27 Abs. 2a SMG beim Landesgericht für Strafsachen Wien erhoben. Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 11.4.2017, GZ: XXXX wurde über die bP die Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten nach § 27a Abs. 1, 2a und 3 SMG verhängt.

Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 14.4.2017 wurde der bP gemäß § 13 Abs. 2 AsylG der Verlust ihres Aufenthaltsrechtes im Bundesgebietes wegen Verhängung der Untersuchungshaft mitgeteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 4.5.2017, GZ: XXXX , wurde die bP als junge Erwachsene wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 2a, Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt nachgesehen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Das Urteil erwuchs am selben Tag in Rechtskraft.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 6.5.2019, GZ: XXXX , wurde die bP wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach § 127, 131 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 16 Monate bedingt nachgesehen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Das Urteil erwuchs am 21.11.2019 in Rechtskraft.

Am 13.2.2020 wurde die bP bei der Staatsanwaltschaft Wien wegen des Verdachts der Schlepperei als Mitglied einer kriminellen Vereinigung gemäß § 114 Abs. 4 FPG angezeigt.

Die bP wurde am 16.7.2020 aus der Strafhaft entlassen.

Die bP gehörte im Irak keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in ihrem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund ihrer arabischen Volksgruppenzugehörigkeit oder ihres schiitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Die bP hatte außerdem vor ihrer Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften ihres Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Die bP war vor ihrer Ausreise aus dem Irak keinen Zwangsrekrutierungsversuchen durch ihre Familie oder Angehörigen von Milizen ausgesetzt und wäre auch im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Zwangsrekrutierung ausgesetzt. Die bP war vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat dort keiner anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt oder wäre im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht ausgesetzt.

Der bP droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der bP festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Die bP verfügt in ihrem Herkunftsstaat über eine gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in ihrer Herkunftsregion Bagdad in Gestalt ihrer dort lebenden Familienangehörigen. Der bP ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung ihres Auskommens möglich und zumutbar.

II.1.2. Zur Lage im Irak:

II.1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl:

1 Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

1.1. Parteienlandschaft

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

2 Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

2.1     Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

2.2     Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

2.3     Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

3        Rechtsschutz / Justizwesen

Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

4        Sicherheitskräfte und Milizen

Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).

4.1     Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).

4.2     Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Aya

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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