TE Vwgh Erkenntnis 2021/1/29 Ra 2020/01/0422

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Veröffentlicht am 29.01.2021
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Index

19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §17
AVG §41 Abs1
AVG §43 Abs4
AVG §45 Abs3
AVG §8
MRK Art3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §18
VwGVG 2014 §29 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. September 2020, Zl. G305 2155787-2/26E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A A, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A) II. bis A) IV., wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 23. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid der revisionswerbenden Partei vom 29. Jänner 2018 wurde der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 gewährt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.) und eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.).

3        Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

Angefochtenes Erkenntnis

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. September 2020 wies das BVwG die dagegen erhobene Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.) und gab der Beschwerde im Übrigen statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.), behob die übrigen Spruchpunkte ersatzlos (Spruchpunkt A) IV.) und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

5        Begründend führte das BVwG zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus, dass der Mitbeteiligte unter Berücksichtigung der individuellen Umstände bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Es liege eine über das Maß einer schwierigen Lebenssituation hinausgehende Gefahr vor.

Zulässigkeit

6        Gegen die Spruchpunkte A) II. bis A) IV. des angefochtenen Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

7        Sie bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte abgewichen. Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Herkunftsstaat des Mitbeteiligten erfordere die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht. Das BVwG habe aber die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vor dem Hintergrund der Umstände des Einzelfalles begründet, weshalb nicht nachvollziehbar sei, wie das BVwG zu seiner Entscheidung gekommen sei. Darüber hinaus sei das BVwG nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehalten, auf die Argumente der revisionswerbenden Partei einzugehen, wenn es von deren Entscheidung abweichen will. Derartiges sei dem angefochtenen Erkenntnis ebenfalls nicht zu entnehmen.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9        Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

Begründungspflicht

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 7.10.2020, Ra 2019/20/0358, mwN).

11       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 12.10.2020, Ra 2020/20/0001, mwN).

12       Im Hinblick auf das Vorliegen einer allgemein prekären Sicherheitslage hat der Verwaltungsgerichtshof - unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung von EGMR und EuGH - zum Vorliegen eines realen Risikos iSd Art. 3 EMRK ausgesprochen, dass diese Voraussetzung nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) erfüllt ist. In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, mwN).

Auseinandersetzung mit dem Bescheid des BFA

13       Gemäß § 18 VwGVG ist Partei (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) auch die belangte Behörde. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist damit zumindest ein Zweiparteienverfahren, in dem der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, die gleichen Parteirechte (unter anderem Recht auf Akteneinsicht, Parteiengehör, Ladung zur Verhandlung, Fragerecht an die Parteien, Zeugen und Sachverständigen, Zustellung der Entscheidung) wie dem Beschwerdeführer zukommen. Es stehen sich damit der Beschwerdeführer und die belangte Behörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber. Wenn das BVwG von der Entscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) abweichen will, ist es daher gehalten, auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. VwGH 15.5.2019, Ra 2019/01/0012, mwN).

Einzelfallbezogene Beurteilung

14       Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:

15       Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass der Mitbeteiligte gesund und arbeitsfähig sei, er über Arbeitserfahrung verfüge sowie familiäre Anknüpfungspunkte im Irak habe. Dem Erkenntnis ist auch zu entnehmen, dass der Mitbeteiligte homosexuell sei, wobei nicht feststellbar sei, dass ihm aufgrund seiner sexuellen Orientierung im Herkunftsstaat von staatlicher Seite eine Verfolgung oder Bedrohung drohe.

16       Wie die Revision zutreffend aufzeigt, ist dem angefochtenen Erkenntnis keine nachvollziehbare Begründung für die Annahme zu entnehmen, dass dem Mitbeteiligten im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis beschränken sich auf die Feststellung, dass beim Mitbeteiligten eine über das Maß einer schwierigen Lebenssituation hinausgehende Gefahr vorläge, eine solche Behandlung zu erfahren. Daraus geht weder hervor, ob das BVwG die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf die allgemeine Versorgungs- oder Sicherheitslage stützte, noch in welchen individuellen tatsächlichen Umständen des Einzelfalls es die Grundlage dafür erblickte.

17       Im vorliegenden Fall kam die revisionswerbende Partei im Rahmen der Beweiswürdigung zu dem Ergebnis, dass dem Mitbeteiligten bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenen Handlung drohe. Sie begründete dies damit, dass sich durch Einsichtnahme in die aktuellen Länderberichte sowie auch aufgrund der Angaben des Mitbeteiligten keine entsprechende Gefährdung ergebe. Zudem lebe praktisch die gesamte Familie des Mitbeteiligten im Irak und bestehe zu dieser ein gutes Verhältnis. Der Mitbeteiligte sei ein gebildeter, agiler und sportlicher Mann, der am Erwerbsleben teilnehmen könne. Es sei ihm möglich, im Irak Fuß zu fassen. Der Irak sei ausreichend sicher, zumal vermehrt Iraker freiwillig in ihr Land zurückkehren würden.

18       Zu Recht rügt die Amtsrevision daher, dass das BVwG davon abweichend - und wie oben dargestellt begründungslos - zu dem Schluss kam, dass eine Rückkehr des Mitbeteiligten aufgrund der individuellen Umstände des Einzelfalles nicht möglich sei. Aufgrund welcher Argumente das BVwG dabei von den oben dargestellten Beweisergebnissen der mitbeteiligten Partei abging, ist dem Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen.

Ergebnis

19       Das angefochtene Erkenntnis war somit ausgehend von diesen Grundsätzen infolge eines wesentlichen Begründungsmangels sowohl hinsichtlich des Spruchpunktes A) II. als auch hinsichtlich der Spruchpunkte A.) III. und A.) IV., weil diese mit der Aufhebung des Spruchpunktes A.) II. ihre rechtliche Grundlage verlieren (vgl. VwGH 5.11.2019, Ra 2018/01/0188), gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 29. Jänner 2021

Schlagworte

Parteibegriff - Parteienrechte Allgemein diverse Interessen Rechtspersönlichkeit Parteiengehör Allgemein

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010422.L00

Im RIS seit

16.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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