TE OGH 2021/1/19 10ObS131/20t

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Veröffentlicht am 19.01.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Waisenpension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. August 2020, GZ 11 Rs 41/20h-25, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. März 2020, GZ 64 Cgs 6/19f-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1]       Der 1979 geborene Kläger ist seit seiner frühesten Kindheit infolge einer schweren Netzhautveränderung durch Frühgeburt (Frühgeborenenretinopathie) auf beiden Augen blind. Ihm ist lediglich ein rudimentäres Restsehvermögen geblieben, das eine grobe Orientierung ermöglicht. In den vergangenen Jahren erkrankte der Kläger zusätzlich an der Hornhaut (Keratokonus). Das Bundessozialamt stellte den Grad der Behinderung des Klägers mit 100 % fest. Der Kläger bezieht Pflegegeld der Stufe 4.

[2]            Der Kläger schloss ein Integrationsgymnasium ab und begann ein Studium der Wirtschaftsinformatik. Er absolvierte eine Fachhochschule für Gesundheits- und Sozialberufe und eine Ausbildung zum EDV-Trainer.

[3]            Ab März 2000 war er versicherungspflichtig erwerbstätig und zwar als Dienstnehmer mit freiem Dienstvertrag in einer Management GmbH, danach als Angestellter in einer Computerhotline und später in einem Callcenter. Der Kläger war als EDV-Trainer und später als Angestellter im Bürowesen bei einer Arbeitsgemeinschaft christlicher Ärzte tätig. Sein Tätigkeitsbild umfasste im Wesentlichen allgemeine Bürotätigkeit, Korrespondenz, Bearbeiten telefonischer Anfragen und Verfassen von Aussendungen. Zur Zeit absolviert der Kläger eine RISS-Reha-Ausbildung zum Bürokaufmann und eine EDV-Zusatzausbildung.

[4]       Alle bisherigen Beschäftigungen des Klägers waren aufgrund der Lohnförderung, die zumindest 50 % des Bruttolohns ausmachte, möglich.

[5]            Unter Einbeziehung der bisherigen Lohnförderung sowie bei Adaptierung des für den Kläger speziell erforderlichen Arbeitsplatzes durch Zurverfügungstellen der erforderlichen Hard- und Software, aller Peripheriegeräte und Softwareprogramme (zB Brailleschrift-Tastatur, akustische Ausgabe am PC etc) kann der Kläger die Tätigkeiten, die er bisher verrichtete, auch weiterhin ausüben. Konkret kann der Kläger Arbeiten im Bürowesen leisten, die er auch bisher ausgeübt hat: Korrespondenz, telefonische Kundenberatung, Tätigkeiten in einer Hotline und in einem Callcenter. Dafür benötigt der Kläger jedoch den dargestellten speziell eingerichteten Arbeitsplatz. Die Lohnförderung kompensiert den Nachteil, der durch die Verringerung der Arbeitsgeschwindigkeit des Klägers entsteht.

[6]       Das Ausmaß der Arbeitsfähigkeit des Klägers entsprach stets dem einer „gesunden und erblindeten Person“. Dies hat sich auch über die Jahre und vor allem nach Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht geändert. Die aktuellen Leistungsbeschränkungen des Klägers lagen immer schon vor. Eine Verschlechterung der Leistungsfähigkeit ist nicht anzunehmen. Die später aufgetretene Erkrankung der Hornhaut schränkt das Leistungskalkül nicht zusätzlich ein.

[7]            Nach dem Tod seiner Mutter am 10. 6. 2018 beantragte der Kläger am 3. 7. 2018 bei der beklagten Pensionsversicherungsanstalt die Zuerkennung einer Waisenpension.

[8]            Mit Bescheid vom 27. 1. 2018 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, weil der Kläger nicht erwerbsunfähig sei.

[9]       Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung einer Waisenpension in gesetzlichem Ausmaß. Er sei aufgrund seiner hochgradigen Sehbehinderung nie erwerbsfähig gewesen und erfülle daher die Kindeseigenschaft im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG.

[10]           Die Beklagte wandte dagegen ein, dass der Kläger erwerbsfähig sei und derzeit sogar ein Leistungskalkül für Blindenberufe am allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe. Erwerbsunfähigkeit habe auch vor dem 18. Lebensjahr nicht bestanden. Der Kläger habe in der Vergangenheit immer wieder einen Verdienst über der Erwerbslosigkeitsgrenze erzielt.

[11]     Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Auch wenn gewisse Rahmenbedingungen gegeben sein müssten, sei der Kläger immer wie eine gesunde und erblindete Person am Arbeitsmarkt einsetzbar gewesen, er sei dies auch jetzt noch. Bereits nach Abschluss seiner Schul- bzw Berufsausbildung sei der Kläger erwerbsfähig gewesen.

[12]           Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Auszugehen sei von der nicht bekämpften Feststellung, dass das Ausmaß der Arbeitsfähigkeit des Klägers stets dem einer gesunden und erblindeten Person entsprochen habe. Nach der Rechtsprechung zeige die Existenz von „Blindenberufen“, dass auch Blinde in der Lage seien, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommende Berufe auszuüben, dies ohne besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers. Beim Beruf eines Telefonisten handle es sich um einen für Blinde gängigen Verweisungsberuf; der Kläger habe auch als Telefonist gearbeitet. Bei Vorhandensein eines blindengerechten Arbeitsplatzes sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers in den genannten „Blindenberufen“ nicht eingeschränkt.

[13]     Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung der Klage anstrebt.

[14]     In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantrage die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Zurück-, hilfsweise die Abweisung der Revision.

[15]     Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts zulässig. Sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[16]     Der Revisionswerber macht geltend, dass er aufgrund seiner Blindheit am ersten Arbeitsmarkt nur dann einsetzbar sei, wenn der Arbeitgeber als Ausgleich für die Nachteile, wie zB die verringerte Arbeitsgeschwindigkeit, für den Kläger eine zumindest 50%ige Lohnförderung erhalte und ihm einen entsprechend adaptierten Arbeitsplatz mit einem hohen Kostenaufwand zur Verfügung stelle. Die Leistungsfähigkeit des Klägers müsse konkret beurteilt werden, es könne nicht von einem „pauschalen“ Leistungskalkül eines Blinden ausgegangen werden. Die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit dürfe nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden, dass ein Versicherter zumindest eine Lohnförderung von 50 % erhalte.

[17]     Dem kommt Berechtigung zu:

[18]            1.1 Nach ständiger Rechtsprechung ist erwerbsunfähig im Sinne des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG, wer infolge Krankheit oder Gebrechens nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen (RIS-Justiz RS0085536). Erwerbsunfähigkeit aufgrund geistiger oder körperlicher Gebrechen liegt vor, wenn jemand wegen des nicht nur vorübergehenden Zustands der körperlichen und geistigen Kräfte (und nicht etwa nur wegen der ungünstigen Lage des Arbeitsmarkts oder wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit) nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Erwerb zu erzielen (RS0085536 [T2]; RS0085556).

[19]            1.2 Die Erwerbsunfähigkeit nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG muss bereits vor den beiden in § 252 Abs 2 Z 1 und Z 2 ASVG genannten Zeitpunkten (Vollendung des 18. Lebensjahres oder Ablauf des in diesen Bestimmungen genannten Zeitraums) eingetreten sein und über diese Zeitpunkte hinaus andauern. Die Absicht des Gesetzgebers liegt darin, Versorgungsansprüche eines Kindes zu erhalten, nicht aber Versorgungsansprüche für Personen neu zu schaffen, die erst später ihre Erwerbsfähigkeit verloren haben. War im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit die Kindeseigenschaft nicht mehr gegeben, so kann sie nicht wieder aufleben (RS0113891).

[20]           2. Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach der hier maßgeblichen Gesetzesstelle kommt es also darauf an, ob das Kind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einem Erwerb nachgehen kann. Ausschlaggebend für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte. Darauf, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch – etwa auf Kosten seiner Gesundheit oder mit Hilfe anderer Personen – weiterhin ein Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bezieht, ist nicht Bedacht zu nehmen (10 ObS 206/92 SSV-NF 6/102; RS0085570; 10 ObS 59/16y SSV-NF 30/44 mwH; zustimmend Panhölzl, DRdA 2017/19, 199 [201 f]). Der Gesetzgeber wollte mit dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit in dieser Bestimmung ausdrücken, dass beim Kind ein Zustand vorhanden sein muss, der es ihm nicht gestattet, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten (Schrammel in Tomandl, SV-System [28. ErgLfg], 128 [2.1.1.3.2.C]).

[21]            3.1 Die bisher getroffenen Feststellungen genügen nicht, um den Anspruch des Klägers rechtlich beurteilen zu können.

[22]           3.2 Das Berufungsgericht erachtete die Feststellung, dass das Ausmaß der Erwerbsfähigkeit des Klägers stets dem einer „gesunden und erblindeten Person“ entspreche, als wesentlich.

[23]           Ebenso wenig jedoch, wie davon ausgegangen werden kann, dass eine seit Geburt blinde Person auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt immer nur aufgrund besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers beschäftigt werden könnte, kann davon ausgegangen werden, dass eine „gesunde und erblindete Person“ jedenfalls zu einem Erwerb im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG fähig ist. Die fast gänzliche Blindheit des Klägers lässt nämlich für sich allein genommen keinen Rückschluss auf die Verwertbarkeit seiner Arbeitsleistung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu (10 ObS 180/99i SSV-NF 13/97).

[24]           3.3 Nach den bisher getroffenen Feststellungen des Erstgerichts waren dem Kläger verschiedene Arbeitstätigkeiten möglich.

[25]           Allerdings ist bei der ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten vorzunehmenden Beurteilung der Erwerbsfähigkeit im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG nicht auf äußere Umstände – wie etwa die Ausübung einer Berufstätigkeit trotz (weiter) bestehender Erwerbsunfähigkeit, vgl ausführlich 10 ObS 59/16y SZ 30/44 – Bedacht zu nehmen.

[26]           3.4 Es steht fest, dass dem Kläger die von ihm bisher ausgeübten Tätigkeiten weiterhin möglich sind, dies aber nur dann, wenn er über einen speziell für Blinde adaptierten Arbeitsplatz verfügt und wenn der Nachteil seiner verringerten Arbeitsgeschwindigkeit durch eine „Lohnförderung“ von 50 % ausgeglichen wird.

[27]           Ist aber eine Erwerbstätigkeit nur um den Preis möglich, dass dadurch der Leidenszustand negativ beeinflusst wird, oder unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber dem Erwerbstätigen über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus entgegenkommt, so liegt dennoch Erwerbsunfähigkeit vor, wenn die Erwerbstätigkeit dem Versicherten unter Berücksichtigung seines Leidenszustands nicht zumutbar ist (10 ObS 206/92; 10 ObS 59/16y).

[28]           Feststellungen, ob dem Kläger die von ihm ausgeübten Berufstätigkeiten medizinisch auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dazu üblichen Bedingungen möglich und zumutbar gewesen wären, fehlen jedoch. Es erscheint zumindest zweifelhaft, lässt sich aber aus den bisher getroffenen Feststellungen ebenfalls noch nicht beurteilen, dass die Zurverfügungstellung eines für Blinde adaptierten Arbeitsplatzes verbunden mit der Erwirkung einer „Lohnförderung“ von 50 %, also der Hälfte des vom Arbeitgeber eigentlich für die Arbeitsleistung geschuldeten Lohns, den Verhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entspricht.

[29]           3.5 Um daher die Rechtsfrage der Erwerbsunfähigkeit im Sinn des § 253 Abs 2 Z 3 ASVG beurteilen zu können, werden im fortzusetzenden Verfahren Feststellungen über das medizinische Leistungskalkül des Klägers zum Zeitpunkt seines 18. Geburtstags – bzw allenfalls, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen, zu den in § 252 Abs 2 Z 1 und 2 ASVG genannten Zeitpunkten – und zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter zu treffen sein, aus denen (ausschließlich) zu beurteilen sein wird, ob der Kläger in der Lage war und ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst (§ 122 Abs 4 ASVG, RS0085556 [T2]) zu erzielen.

[30]           4. Das Verfahren erweist sich daher als ergänzungsbedürftig. Es ist daher der Revision Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[31]     Der Kostenvorbehalt beruht auf den § 2 ASGG, § 52 ZPO.

Textnummer

E130638

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00131.20T.0119.000

Im RIS seit

15.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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