TE Vwgh Erkenntnis 2020/12/22 Ra 2020/21/0307

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Veröffentlicht am 22.12.2020
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
20/09 Internationales Privatrecht
24/01 Strafgesetzbuch
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ABGB §24 Abs2
AVG §10 Abs1
AVG §10 Abs2
AVG §38
AVG §52
AVG §56
AVG §63 Abs1
AVG §63 Abs5
AVG §66 Abs4
AVG §9
BFA-VG 2014 §10 Abs1
IPRG §12
IPRG §9
StGB §21 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwRallg
ZustG §9 Abs1
ZustG §9 Abs3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des M P in W, vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Schubertring 6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. Juli 2020, I422 2231442-1/5E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein polnischer Staatsangehöriger, hält sich seit April 2013 in Österreich zur Ausübung von Erwerbstätigkeiten auf. Ihm wurde am 24. November 2016 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt.

2        Der Revisionswerber leidet an einer schweren Geisteskrankheit in Form einer bipolaren affektiven Störung im Sinne einer Manie in Kombination mit einem schädlichen Gebrauch von Alkohol. Die Krankheit brach erstmals im Jahr 2012 aus. Deshalb befand er sich zunächst in Polen und dann während seines Aufenthalts in Österreich wiederholt in psychiatrischen Abteilungen verschiedener Krankenhäuser in Wien in stationärer Behandlung.

3        Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 10. Februar 2020 wurde der Revisionswerber gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dem lag zugrunde, er habe im Zeitraum Ende September 2019 bis Ende Oktober 2019 unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes, der auf einer geistigen Abartigkeit von höherem Grad beruhe, seine ehemalige Arbeitgeberin durch die (teils fernmündlichen) Äußerungen, er werde sie und ihre Mitarbeiter umbringen sowie die Firma und den Reitstall in Brand setzen, mit dem Tod und mit einer Brandstiftung gefährlich bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Darüber hinaus habe er die Genannte durch wiederholte (telefonische und persönliche) Forderungen, sie solle ihm Geld geben, sonst werde er sie umbringen, ihre PKW-Reifen aufschlitzen und ihren Reitstall in Brand setzen, zur Übergabe von Bargeld zu nötigen versucht. Dadurch habe der Revisionswerber Taten begangen, die ihm, wäre er zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB und als Verbrechen der versuchten schweren Erpressung nach §§ 15, 144 Abs. 1, 145 Abs. 1 Z 1 StGB zuzurechnen wären, wobei nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Taten zu befürchten sei, dass er in Zukunft unter dem Einfluss seiner geistigen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.

4        Noch während der Revisionswerber in Bezug auf dieses Verfahren in Untersuchungshaft angehalten wurde, beabsichtigte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), nachdem es von der diesbezüglichen Anklageerhebung verständigt worden war, gegen den Revisionswerber für den Fall einer rechtskräftigen Verurteilung ein Aufenthaltsverbot zu erlassen. Davon setzte das BFA den Revisionswerber in Kenntnis und gab ihm dazu mit Schreiben vom 31. Jänner 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zehn Tagen, wobei der Revisionswerber um die Beantwortung von mehreren Fragen zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen ersucht wurde. Diese Mitteilung wurde dem Revisionswerber am 4. Februar 2020 zugestellt.

5        Nachdem der Revisionswerber von dieser Äußerungsmöglichkeit nicht Gebrauch gemacht hatte und dem BFA das erwähnte strafgerichtliche Urteil vom 10. Februar 2020 übermittelt worden war, erließ es gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 28. März 2020 gemäß § 67 Abs. 1 und 3 FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Dieser Bescheid wurde gemeinsam mit der Mitteilung über die Bestellung eines Rechtsberaters dem Revisionswerber in der Justizanstalt zugestellt.

6        Mit Schriftsatz vom 27. Mai 2020 erhob der Revisionswerber, vertreten durch die von ihm am 5. Mai 2020 schriftlich bevollmächtigte Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, eine Beschwerde gegen den Bescheid vom 28. März 2020. In der Beschwerde wurde (unter anderem) bemängelt, im Verfahren vor dem BFA sei das Recht auf Parteiengehör verletzt worden. Der Revisionswerber habe nämlich nur die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme gehabt, die ihm in Anbetracht seines psychischen Gesundheitszustandes unmöglich gewesen sei. Aufgrund der Kenntnis des BFA von der Einweisung des Revisionswerbers in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher hätte es massive Zweifel an seiner Dispositionsfähigkeit hegen müssen. Das BFA habe daher seine Ermittlungspflicht dadurch verletzt, dass es kein fachärztliches Gutachten zur Beurteilung der psychischen Gesundheit des Revisionswerbers eingeholt habe.

7        Dieser Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 6. Juli 2020 insoweit Folge, als es die Befristung des Aufenthaltsverbotes auf zehn Jahre herabsetzte. Im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

9        Die Revision erweist sich - wie die weiteren Ausführungen zeigen - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig und auch als berechtigt.

10       Gemäß § 10 Abs. 1 BFA-VG ist für den Eintritt der Handlungsfähigkeit in Verfahren vor dem BFA und (u.a.) in einem Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes vor dem BVwG ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Fremden österreichisches Recht maßgeblich. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine lex specialis zum „Internationalen Privatrechts-Gesetz“ (so die ErläutRV zum FNG 1803 BlgNR 24. GP 12); diese Aussage bezieht sich auf § 12 IPRG, wonach die Rechts- und Handlungsfähigkeit einer Person nach deren Personalstatut (§ 9 IPRG) zu beurteilen ist. Im gegenständlichen Verfahren vor dem BFA und dem BVwG war daher die prozessuale Handlungsfähigkeit (Prozessfähigkeit) des Revisionswerbers ungeachtet seiner polnischen Staatsangehörigkeit vor dem Hintergrund des § 9 AVG - weil für den vorliegenden Fall in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - nach den (österreichischen) Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Danach ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens und die dort stattfindenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was neben den von ihr gesetzten aktiven Verfahrenshandlungen auch Unterlassungen erfasst (vgl. jüngst unter Bezugnahme auf Vorjudikatur VwGH 15.9.2020, Ra 2017/22/0152, Punkt 5.1. der Entscheidungsgründe; siehe auch VwGH 28.7.2020, Ra 2019/01/0330, Rn. 11). Insoweit musste somit beim Revisionswerber Entscheidungsfähigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 ABGB bestehen.

11       Die Frage des Vorliegens der Prozessfähigkeit ist von der Behörde bzw. vom Gericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen. Bei begründeten Bedenken in Bezug auf das Fehlen der Prozessfähigkeit der betreffenden Person ist daher diese Frage von Amts wegen zu prüfen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren - in der Regel durch Einholung eines diesbezüglichen Sachverständigengutachtens - zu führen (vgl. neuerlich VwGH 15.9.2020, Ra 2017/22/0152, nunmehr Punkt 5.2. der Entscheidungsgründe; siehe in diesem Sinn auch VwGH 28.7.2020, Ra 2019/01/0330, Rn. 12, jeweils mwN).

12       Derartige Zweifel an der Prozessfähigkeit hätte im vorliegenden Fall schon das BFA im Hinblick auf das ihm bekannte Strafurteil vom 10. Februar 2020 haben müssen, aus dem sich ergibt, dass der Revisionswerber an der in Rn. 2 erwähnten schweren Geisteskrankheit leidet, deshalb im Zustand der Zurechnungsunfähgkeit bestimmte Straftaten beging und dass für die Zukunft zu befürchten sei, er werde unter dem Einfluss seiner geistigen Abartigkeit eine strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen, weshalb er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen wurde. Jedenfalls hätte aber das BVwG im Hinblick auf das in Rn. 6 wiedergegebene Beschwerdevorbringen zur mangelnden Dispositionsfähigkeit des Revisionswerbers Ermittlungen auch zur Prozessfähigkeit anstellen müssen, zumal ihm überdies das beigeschaffte, im Strafverfahren erstattete Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vorlag, in dem zusammenfassend das in Rn. 2 angeführte psychiatrische Zustandsbild diagnostiziert und der Revisionswerber im Tatzeitraum für nicht diskretions- und dispositionsfähig gehalten wurde. Letztlich indiziert eine fehlende Prozessfähigkeit des Revisionswerbers, dass für ihn nunmehr mit Beschluss des Bezirksgerichtes Favoriten vom 28. Juli 2020 mit sofortiger Wirkung ein Rechtsanwalt zum einstweiligen Erwachsenenvertreter (unter anderem) mit dem Aufgabenkreis Vertretung vor Gerichten und Behörden bestellt wurde. Der bestellte Erwachsenenvertreter genehmigte - wie zur Vollständigkeit anzumerken ist - nachträglich die vom Revisionswerber beim Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Stellung eines Verfahrenshilfeantrags betreffend die gegenständliche Revision.

13       Im Hinblick auf die somit geboten gewesene, vom BVwG jedoch unterlassene Auseinandersetzung mit der Frage der Prozessfähigkeit des Revisionswerbers war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, wobei zur Zulässigkeit der Revision noch darauf hinzuweisen ist, dass das angefochtene Erkenntnis jedenfalls rechtswirksam dem BFA zugestellt wurde (vgl. dazu noch einmal VwGH 28.7.2020, Ra 2020/01/0330, nunmehr Rn. 20).

14       Im vom BVwG fortzusetzenden Verfahren wird zunächst zu prüfen sein, ob der Revisionswerber im Verfahren vor dem BFA prozessfähig war, insbesondere ob er in der Lage war, das ihm mit Schreiben vom 31. Jänner 2020 eingeräumte Parteiengehör wahrzunehmen, und ob ihm der Bescheid des BFA vom 28. März 2020 wirksam zugestellt werden konnte. Ist Letzteres zu verneinen, so wäre die Beschwerde mangels Vorliegens eines tauglichen Anfechtungsgegenstandes vom BVwG als unzulässig zurückzuweisen (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0254, Rn. 12, mwN). Wurde der genannte Bescheid gegenüber dem Revisionswerber jedoch wirksam erlassen, dann stellt sich in Bezug auf die Beschwerde die Frage, ob die hierfür am 5. Mai 2020 durch den Revisionswerber erfolgte Vollmachtserteilung an die einschreitende Vertreterin wirksam vorgenommen wurde, also ob er damals das Wesen - Bedeutung und Tragweite - einer solchen Bevollmächtigung zu verstehen vermochte (vgl. auch dazu VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0254, nunmehr Rn. 16, mwN).

15       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. Dezember 2020

Schlagworte

Allgemein Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Beginn Vertretungsbefugnis Vollmachtserteilung Handlungsfähigkeit Prozeßfähigkeit Handlungsfähigkeit Prozeßfähigkeit natürliche Person Öffentliches Recht Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Inhalt der Berufungsentscheidung Voraussetzungen der meritorischen Erledigung Zurückweisung (siehe auch §63 Abs1, 3 und 5 AVG) Parteiengehör Rechtsgrundsätze Allgemein Anwendbarkeit zivilrechtlicher Bestimmungen Verträge und Vereinbarungen im öffentlichen Recht VwRallg6/1 Verfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Offizialmaxime Mitwirkungspflicht Manuduktionspflicht VwRallg10/1/1 Vertretungsbefugnis Inhalt Umfang Zustellung Voraussetzungen des Berufungsrechtes Berufungslegitimation Person des Berufungswerbers Voraussetzungen des Berufungsrechtes Bescheidcharakter der bekämpften Erledigung Vorhandensein eines bekämpfbaren Bescheides Zeitpunkt der Bescheiderlassung Eintritt der Rechtswirkungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210307.L00

Im RIS seit

08.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.02.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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