TE Vwgh Erkenntnis 2020/12/22 Ra 2020/21/0174

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Veröffentlicht am 22.12.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §37
AVG §45 Abs3
AVG §56
AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §22a Abs3
BFA-VG 2014 §22a Abs4
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A A in W, vertreten durch Dr. Ernst Brandl, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Mariahilfer Straße 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. April 2020, W283 2227263-3/3E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, gemäß seinen Behauptungen ein marokkanischer Staatsangehöriger, stellte am 30. September 2014 nach unrechtmäßiger Einreise nach Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 26. November 2015 vollumfänglich abgewiesen wurde. Unter einem ergingen eine Rückkehrentscheidung und die Feststellung gemäß § 52 Abs. 9 FPG, dass die Abschiebung nach Marokko zulässig sei. Am 12. April 2016 stellte der Revisionswerber unter einer anderen Identität in Deutschland einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Am 3. Mai 2016 wurde er in Österreich festgenommen und stellte während der Anhaltung neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz, der im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2019 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde. Die Entscheidung wurde abermals mit einer Rückkehrentscheidung verbunden, und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Marokko zulässig sei.

2        Mit Strafurteil vom 7. Dezember 2016 war der Revisionswerber wegen Vergehen nach dem Suchtmittelgesetz (SMG) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitstrafe von neun Monaten verurteilt worden. Mit Strafurteil vom 16. Oktober 2017 war er wegen mehrerer Verbrechen und Vergehen nach dem SMG, versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt, schwerer Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Im Strafverfahren hatte der Revisionswerber eine dritte Identität angegeben.

3        Im Anschluss an die Strafhaft wurde über den Revisionswerber mit sogleich in Vollzug gesetztem Bescheid des BFA vom 11. November 2019 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Die gegen diesen Bescheid und die Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 15. Jänner 2020 als unbegründet ab, und es stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. März 2020 wurde gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG festgestellt, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft zum Zeitpunkt der Entscheidung verhältnismäßig sei.

4        Am 8. April 2020 legte das BFA neuerlich gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG die Akten zwecks Prüfung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung vor und erstattete eine Stellungnahme insbesondere zum Stand des Verfahrens zur Erlangung eines Heimreisezertifikats für den Revisionswerber.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 9. April 2020 stellte das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei.

6        Zur Frage der Erlangbarkeit eines Heimreisezertifikats führte das Bundesverwaltungsgericht wörtlich Folgendes aus:

„Das Bundesamt pflegt eine intensive Zusammenarbeit mit der marokkanischen Botschaft und setzt, gemeinsam mit dem Außen- und Innenministerium zahlreiche Schritte um die Kooperation zu intensivieren. Regelmäßige Antworten und Zustimmungen in Form von Verbalnoten von der marokkanischen Botschaft an das Bundesamt werden übermittelt. Bei konstruktiver Mitwirkung des Fremden bei der Personenfeststellung (Vorlage von Dokumenten, richtige Personenangaben) sollte die Identifizierung rasch erfolgen können. Die Botschaft hat noch nicht bekannt gegeben, ob für den [Revisionswerber] ein Identifizierungsinterview erforderlich sein wird. Eine Ablehnung der marokkanischen Vertretungsbehörde für den [Revisionswerber] ein Heimreisezertifikat auszustellen ist beim Bundesamt bisher nicht eingelangt. Die Erlangung eines Heimreisezertifikats ist weiterhin möglich.“

Anschließend hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass sich eine Änderung der Umstände seit der Feststellung vom 11. März 2020, dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft weiterhin vorlägen, im Verfahren nicht ergeben habe.

7        Zur Begründung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft verwies das Bundesverwaltungsgericht zunächst auf die Straftaten des Revisionswerbers und führte sodann aus, dass die Dauer der Schubhaft durch das Verhalten des Revisionswerbers selbst bedingt sei. Er habe keine Dokumente zum Nachweis seiner Identität vorgelegt und bisher unterschiedliche und falsche Angaben zu seiner Identität gemacht. Diese falschen Angaben hätten insbesondere zur Folge gehabt, dass er in der Strafhaft als staatenloser Fremder geführt worden sei, weshalb während dieser keine Urgenz an die marokkanische Botschaft erfolgt sei. Seit 8. November 2019 übermittle das BFA in regelmäßigen Abständen Urgenzen an die Vertretungsbehörde. Die Aufrechterhaltung der seit 11. November 2019 bestehenden Anhaltung erscheine vor dem Hintergrund der zulässigen Schubhafthöchstdauer verhältnismäßig.

8        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9        In der Revision wird unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG vorgebracht, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, indem es nicht beachtet habe, dass eine Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung nur dann rechtmäßig sein könne, wenn eine Abschiebung auch tatsächlich in Frage komme. Zudem habe das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung nicht ausreichend begründet.

10       Damit ist der Revisionswerber im Ergebnis im Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.

11       Im Erkenntnis VwGH 26.11.2020, Ra 2020/21/0070, wurde bereits unter Rn. 13 festgehalten, die Frage der rechtzeitigen Erlangbarkeit eines Heimreisezertifikats sei bei länger andauernden Schubhaften, die gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG überprüft werden, typischerweise entscheidend für die (weitere) Verhältnismäßigkeit der Anhaltung, was entsprechende Ermittlungen und eine fundierte Auseinandersetzung mit den erlangten Ergebnissen erfordere. Bloße Bemühungen der Behörde genügen demnach für die Annahme einer rechtzeitigen Erlangbarkeit des Heimreisezertifikats nicht, sie müssen vielmehr zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgversprechend sein, wobei für den zu verlangenden Wahrscheinlichkeitsgrad auch die bisherige Dauer der Schubhaft und die Schwere der Gründe für ihre Verhängung und Aufrechterhaltung eine Rolle spielen können. Frühere Erfahrungswerte mit der jeweiligen Vertretungsbehörde können wesentliche Anhaltspunkte für die in dieser Hinsicht vorzunehmende Beurteilung bieten; das setzt aber voraus, dass diese Erfahrungswerte nachvollziehbar festgestellt und nicht nur ohne jede Konkretisierung behauptet werden.

12       Diesen Erfordernissen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Es wird darin nur unsubstantiiert auf die „intensive Zusammenarbeit mit der marokkanischen Botschaft“ und „regelmäßige Antworten und Zustimmungen in Form von Verbalnoten“ verwiesen, ohne etwa zu konkretisieren, in wie vielen Fällen und in welcher Zeitspanne üblicherweise tatsächlich - trotz vorheriger erfolgloser Urgenzen wie im vorliegenden Fall - mit der Ausstellung eines Heimreisezertifikats zu rechnen ist. In einem Verfahren nach § 22a Abs. 4 BFA-VG genügt es typischwerweise auch nicht, darauf zu verweisen, eine Änderung der Umstände seit der letzten Feststellung nach § 22a Abs. 4 BFA-VG (bzw. seit dem Fortsetzungsausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG) habe sich nicht ergeben. Vielmehr ist darzulegen, warum trotz des weiteren Zeitablaufs noch von einer ausreichenden Erfolgswahrscheinlichkeit der behördlichen Bemühungen zur Erlangung eines Heimreisezertifikats ausgegangen wird (vgl. in diesem Sinn auch VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0309, Rn. 9, mwN).

13       Dazu kommt, dass das Bundesverwaltungsgericht es unterlassen hat, die gemäß § 22a Abs. 4 vierter Satz BFA-VG aus Anlass der Aktenvorlage erstattete Stellungnahme des BFA dem Parteiengehör zu unterziehen (siehe zu dieser Pflicht des Näheren VwGH 26.11.2020, Ra 2020/21/0070, Rn. 11, mit dem Hinweis auf VwGH 27.8.2020, Ro 2020/21/0010, Rn. 9). Dieser Verfahrensfehler war - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - auch (potentiell) relevant für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. Dezember 2020

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Parteiengehör Parteiengehör Erhebungen Ermittlungsverfahren Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210174.L00

Im RIS seit

08.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.02.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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