TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/13 W159 2199124-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.11.2020
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Entscheidungsdatum

13.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W159 2199124-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.10.2020 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet abgewiesen.

II.      Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 idgF wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV.     In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, ein Staatsangehörige von Afghanistan, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und schiitische Muslimin, gelangte mit drei von sechs Kindern (Sohn XXXX zu diesem Zeitpunkt mj.) und ihrer Schwiegertochter, illegal ins österreichische Bundesgebiet und stellte am 21.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am gleichen Tag wurde sie dazu vor der Landespolizeidirektion XXXX einer niederschriftlichen Erstbefragung zugeführt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen an, dass ihr Mann krank gewesen sei und sie von ihrem Sohn unterstüzt worden seien. Sie sei dann zu ihrem Sohn in den Iran gezogen und habe sich dort illegal aufgehalten. Aus wirtschaftlichen Gründen seien sie und ihr Sohn vom Iran aus geflüchtet.

Am 23.02.2018 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion (RD) Tirol, niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie zu Protokoll, sie habe Depressionen und sei zuckerkrank, weswegen sie in ärztlicher Behandlung sei und auch Medikamente bekommen würde.

Die Beschwerdeführerin brachte ihre Tazkira, eine Deutschkursbestätigung und div. Arztbriefe in Vorlage.

Zu ihrem Fluchtgrund gab die Beschwerdeführerin an, auf dem Weg zu einer Hochzeit, sei das Auto vor ihnen explodiert. Ihr Fahrer habe die Kontrolle über das Auto verloren und sie seien verunfallt. Nach dem Krankenhausaufenthalt, habe ihr Mann beschlossen, dass Haus zu verkaufen um Geld zu lukrieren, sodass die Familie Afghanistan verlassen könne. Zwischenzeitlich sei ihr Bruder und ihre Mutter gestorben. Nach fünf Monaten hätte ihr Mann aufgrund von Kopfverletzungen einen Schlaganfall erlitten und sei auch verstorben. Nach diesen Vorfällen sei sie mit ihrem Sohn in den Iran gereist. Im Iran hätte sie das Ersparte für eine Magenoperation ihres Sohnes ausgegeben. Dann habe ihr Sohn die Reisekosten für Europa erarbeiten müssen.

Sie gab des Weiteren an, ihr Mann habe entschieden, dass die Familie aufgrund der schlechten Sicherheitslage nach Europa gehen würde. Ein Jahr später hätten sie das Herkunftsland verlassen. Die Beschwerdeführerin ergänzte, sie sei in ihrem Heimatland weder vorbestraft noch habe sie Strafrechtsdelikte begangen, sie werde nicht von der Polizei, der Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht und sei nie verhaftet worden. Sie hätte keine Probleme mit den Behörden gehabt, sei kein Mitglied einer politischen Gruppierung und Partei gewesen. Sie sei von staatlicher Seite nie wegen ihrer politischen Gesinnung, ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden. Die Beschwerdeführin gab an, müsste sie nach Afghanistan zurückkehren, hätte sie niemanden dort und keine Sicherheit, jedoch hätte sie keine Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden.

Befragt nach ihrem Tagesablauf, gab die Beschwerdeführerin an, sie würde in der Früh aufstehen und frühstücken. Ihre Kinder würden den Einkauf übernehmen. Sie würde kochen und sich um den Haushalt kümmern. Manchmal würde sie am Nachmittag einen Spaziergang unternehmen oder sich mit einer Frau aus dem Heim unterhalten. Am Abend würde sie fernschauen.

Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 24.05.2018 wies das BFA den Antrag der Beschwerdeführerin sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gem. §§ 3 Abs. 1 bzw. 8 Abs. 1 jeweils iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 leg. cit. nicht (Spruchpunkt III.), erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG); Spruchpunkt IV.), stellte gem. § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte gem. § 55 Abs. 1–3 die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

Beweiswürdigend führte das BFA aus, es sei im gesamten Verfahren keine persönlich gegen die Person der Beschwerdeführerin gerichtete Verfolgung für das Heimatland Afghanstan geltend gemacht worden. Da im gesamten Staatsgebiet Afghanistans aufgrund der Länderfeststellungen keine allgemeine Gefahr festgestellt werden hätte können, gehe das BFA davon aus, dass im Heimatstaat der Beschwerdeführerin keine individuelle bzw. konkrete Bedrohung i.S. des Art. 2 bzw. 3 EMRK zu erwarten sei.

Die belangte Behörde habe festgestellt, dass die Beschwerdeführerin Afghanistan aufgrund der allgemeinen Lage verlassen habe. Ihre Heimatprovinz Herat sei indes als relativ friedliche Provinz gewertet und so stelle die Stadt Herat sogar eine innerstaatliche Fluchtalternative dar.

Rechtlich begründend führte das BFA zu den Spruchpunkten I. und II. aus, dass die Beschwerdeführerin keinen asylrelevanten Fluchtgrund nach der Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf ihr Heimatland vorgebracht habe. Der Verwaltungsgerichshof verlange exzeptionelle Umstände für die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art 3 EMRK. Zudem sei festzuhalten, dass bloß die Tatsache, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Frau handeln würde, für sich alleine genommen ohne Berücksichtung der konkreten und individuellen Lebensumstände im Herkunftsstaat, ihrer persönlichen Einstellung und Wertehaltung, dem bisherigen Verhalten, sowie ohne gesamtheitliche Beurteilung der Glaubhaftigkeit des individuellen Fluchtvorbringens nicht ausreiche, um mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgung ausschließlich aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgehen zu können. Zu Spruchpunkt III. hielt es rechtlich fest, § 57 AsylG 2005 sei nicht erfüllt. In der Begründung zu Spruchpunkt IV. kam das BFA nach Durchführung einer Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers überwiegen würden und daher die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Zu Spruchpunkt V. führte das BFA mit näherer Begründung aus, dass sich keine Gründe nach § 50 Abs. 1–3 FPG ergeben hätten, weshalb die Abschiebung zulässig sei. Spruchpunkt VI. begründete das BFA damit, dass keine Gründe hervorgekommen seien, wonach eine längere als die 14tägige Frist gesetzt hätte werden könnte.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin durch den XXXX innerhalb offener Frist gegenständliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wird neben einer Wiederholung des Vorbringens im speziellen darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin und ihre Familie auf der sogenannten „Todesstraße“ zur Hochzeit unterwegs gewesen seien. In den Länderfeststellungen werde unter dem Punkt Bewegungsfreiheit ausgeführt, dass in manchen Teilen des Landes die fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung darstelle. In manchen Teilen würden Gewalt von Aufständischen, Landminen und improvisierte Sprengfallen das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht machen. Die Beschwerde führt weiters aus, bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte das BFA erkennen müssen, dass aufgrund der schlechter werdenden Sicherheitslage der Beschwerdeführerin bei einer Zurückweisung, Zurück- bzw. Abschiebung nach Afghanistan eine reale Gefahr einer Verletzung nach Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 bzw. Nr. 13 drohen würde. Bezüglich des Gesundheitszustands leide die Beschwerdeführerin immer noch an Depressionen und an Diabetes. Sie befürchte, dass sich ihre Depressionen bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Stresssituation noch weiter verschlechtern würden. Es sei auch in Afghanistan eine Behandlung von Depressionen schwer möglich, da man über diese Krankheit nicht sprechen würde. Außerdem würde aus den Länderfeststellungen hervorgehen, dass Folgebehandlungen in Bezug auf Depressionen of schwierig zu leisten seien, traditionell mangle es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke.

Die Beschwerde beantragt, der Beschwerdeführerin den Status des Asylberechtigten, in eventu, den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu, einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen gem. §§ 55, 57 AsylG 2005 zu erteilen. Die gegen die Beschwerdeführerin ausgesprochenen Rückkehrentscheidungen gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und der Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan gem § 46 FPG mögen aufgehoben werden.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 06.10.2020 eine öffentliche, mündliche Verhandlung durch. Die Beschwerdeführerin erschien mit ihrem Sohn, auch als Beschwerdeführer, der Rechtsvertretung, „ XXXX “, das BFA hatte mit Schreiben vom 31.08.2020 die Abstandnahme von der Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung erklärt.

Die Beschwerdeführerin hielt die Beschwerde und ihr bisheriges Vorbringen aufrecht. Sie brachte eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs sowie eine ärztliche Bestätigung einer Ärztin für Allgemeinmedizin in Vorlage. Die Beschwerdeführerin brachte bei der Übersetzung der Tazkira vor, dass ihr bei der Verhandlung als Beschwerdeführer anwesender Sohn am XXXX geboren worden sei.

Sie gab an sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei sunnitische Muslima, praktiziere ihre Religion in Österreich aber nicht. Sie erzählte, sie habe ihr gesamtes Leben in der Stadt XXXX gelebt. Zweimal sei sie außer Landes gewesen. Sie habe vier Jahre während der Talibanherrschaft und einmal 17 Monate vor ihrer Ausreise nach Europa im Iran gelebt. Den Lebensunterhalt habe ihr Mann als Ziegelbrenner verdient, sie sei Hausfrau gewesen. Sie habe nie - so wie es beim BFA protokolliert worden sei - als Näherin gearbeitet.

Befragt gab sie an, sie sei mit dreizehn Jahren verheiratet worden und habe mit fünfzehn Jahren ihr erstes Kind bekommen. Die Eheschließung sei nur traditionell gewesen. Von ihren sechs Kinder – drei Söhne und drei Töchter – sei ihr ältestes Kind in Afghanistan verschollen, zwei Töchter seien im Iran aufhältig, eine Tochter und zwei Söhne würden hier in Österreich leben. Im gemeinsamen Haushalt würde nur mehr ihr jüngster Sohn leben. Ihr siebentes Kind sei von den Taliban überfahren worden. Ihr Sohn, welcher verschollen sei, habe als Polizist gearbeitet. Er sei von seiner Arbeit nicht mehr nach Hause gekommen. Zu diesem Zeitpunkt sei sie schon im Iran gewesen.

Befragt gab sie an, sie habe persönlich in Afghanistan keine Probleme mit staatichen Behörden, wie Polizei oder Militär gehabt. Sie habe in Afghanistan auch keine persnliche Probleme mit Privatpersonen, z.B. wegen Famiienfehden oder Grundstückstreitigkeiten gehabt. Sie habe in Afghanistan auch keine persönlichen Probleme mit den Taliban gehabt, sie wisse jedoch, dass die Taliban ihre Tochter getötet hätten.

Die Beschwerdeführerin gab befragt zu ihrer Fluchtgeschichte an, dass 2011 ein Auto vor der Familie in die Luft gesprent worden sei. Die Familie sei zum Fest eines Freundes unterwegs gewesen. Der Fahrer habe die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Der Kopf ihres Mannes sei durch diesen Unfall verletzt worden und er sei 2012 daran verstorben. Ihr Sohn XXXX habe sein Ohr verloren. Sie habe sich die linke Schulter verletzt. In Afghanistan habe das Geschäftliche ihr Mann erledigt, sie sei vorwiegend zu Hause geblieben und habe hin und wieder nur mit einem Tschador das Haus verlassen. Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes sei sie mit ihrem jüngsten Sohn und ihrer Tochter in den Iran gezogen. Ihr Ziel sei es gewesen, nach Europa zu gelangen. Ihr Sohn XXXX hätte sich einer Magenoperation unterziehen müssen, deswegen seien sie einige Zeit im Iran aufhältig gewesen.

Angesprochen auf ihre gesundheitlichen Beschwerden gab die Beschwerdeführerin an, sie leide unter Zuckerkrankheit, habe zu hohe Cholesterinwerte und leide an psychischen Problemen, aufgrund des in Afghanistan erlittenen Schocks. Sie nehme deswegen auch Medikamente. Sie würde mindestens einmal monatlich ärztliche Behandlungen benötigen. Sie sei durch ihre Erkrankungen in ihrem Alltag eingeschränkt. Wenn sie unter Stress stehe, würde es ihr nicht gut gehen, weswegen sie auch in eine Gesprächstherapie gehe. Ihr Sohn helfe ihr ihren Alltag zu bewältigen. Ihr Ziel sei es in Österreich auf eigenen Beinen zu stehen. Zurzeit würde sie einen Deutschkurs besuchen.

Angesprochen auf ihren Alltag in Österreich, gab die Beschwerdeführerin an, sie kümmere sich nach dem Aufwachen um das Zimmer und die Wohnung. Sie koche etwas für das Mittagsessen. Sie gehe öfters hinaus, um sich die Beine zu vertreten, denn würde sie zu lange zu Hause bleiben, würde sie zuviel nachdenken und sich so wieder gestresst fühlen.

Seit sie in Österreich sei, fühle sie, dass sie leben könne. Auf die Frage des Richters: „Sehen Sie sich selbst als eine mit den afghanischen Traditionen verbundene Frau, die diese auch in Österreich beibehalten mochte oder als eine westlich orientierte Frau, die ihre Grundrechte in Anspruch nimmt?“ antwortete die Beschwerdeführerin: „Ich versuche eher, das zu praktizieren, wie man hier lebt.“ Auf die Frage des Richters, ob sich ihre Töchter ihre Männer selbst aussuchen können, antwortete sie, in Afghanistan sei es nicht möglich gewesen, zwei ihrer Töchter hätten das getan, was ihr Ehemann gewollt hätte. Sie würde es jedoch erlauben, dass sich ihr jüngstes Kind seine Partnerin selbst aussuchen würde.

Folgende Stellungnahme wurde zur COVID Situation in Afghanistan vorgebracht:

„Festgestellt wird: Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zu COVID-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist den Beschwerdeführern derzeit eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Es ist den Beschwerdeführern aktuell nicht möglich in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.

Die angeführten Städt verfügen zwar jeweils über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese Städte weitgehend gefahrenfrei erfolgen könnte, jedoch ist die Reisefreiheit bzw. Reisemöglichkeit durch die COVID-19 Pandemie auf unbestimmte Zeit eingeschränkt. Ein Trend zur Normalisierung der globalen Reisefreiheit ist derzeit nicht erkennbar. Zudem bestehen derzeit in diesen Städten auch Pandemiebedingte Ausgangsbeschränkungen und damit auch zusammenhängend auch kaum Möglichkeiten, für jene Afghanen, die in Afghanistan weder über ein familiäres noch sonstiges Netzwerk verfügen, Arbeit und/oder Unterkunft zu finden. Beides ist jeoch von fundamentaler Bedeutung, um in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Grundbedürfnisse sind derzeit in Afghanistan im Falle einer Rückkehr dorthin für die Beschwerdeführer nicht sichergestellt. Wann eine Normalisierung in Afghanistan einkehrt, kann derzeit nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angegeben werden. Diesbezüglich würde es sich um eine Spekulation ohne valide Grundlagen handeln.

Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation hinsichtich einer großen Anzahl afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan, welche großteils in den afghanischen Städten siedeln, wäre die Versorgung der Beschwerdeführer derzeit überall in Afghanistan, insbesondere ohne familiäre oder sonstige Unterstützung, nicht gewährleistet, sodass eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zu mutbar ist.

Die Beschwerdeführerin zählt zur Risikogruppe der COVID-19 gefährdeten Personen (ältere Menschen bzw. Menschen mit Vorerkrankungen), sodass für die Beschwerdeführerin Lebensgefahr zwar nicht ausgeschlossen werden kann, zumal auch junge, wie ihr jüngste Sohn, und derzeit gesunde Menschen aufgrund einer Virusinfektion sterben könnten. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Afghanistan, sind insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung, aufgrund der nunmehr angespannten Situation und der steigenden Preise von Lebensmittel nicht absehbar, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass die Beschwerdeführer in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würden. Daher ist den Beschwerdeführern derzeit eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der Beschwerdeführerin wird Folgendes festgestellt:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Afghanistan, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und sunnitischen moslemischen Glaubens. Sie ist am 21.11.2015 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sie war den größten Teil ihres Lebens in Herat wohnhaft. Ihr Mann verstarb an den Folgen eines Unfalls.

Nicht festgestellt werden kann eine konkrete Verfolgung der Beschwerdeführerin in Afghanistan.

Einer ihrer Söhne und seine Frau sind in Österreich aufhältig. Ihr jüngster Sohn hilft der Beschwerdeführerin ihren Alltag zu bewältigen.

In Österreich besucht die Beschwerdeführerin Deutschkurse. Sie möchte auf eigenen Beinen stehen. Sie hat aufgrund der Erlebnisse in Afghanistan psychische Probleme und steht wegen diesen sowie wegen Diabetes in ärztlicher Behandlung. Sie ist eine mulitmorbide Persönlichkeit und leidet, außer an Diabetes, an chronischen Kopfschmerzen, einem chronischen Belastungssyndrom und Gelenksschmerzen, muss regelmäßig Medikamente einnehmen und bedarf regelmäßiger ärztlicher Behandlung. Sie benötigt die Hilfe ihres Sohnes, um den Alltag bewältigen zu können.

In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hinterließ die Beschwerdeführerin zu ihren Lebensumständen als Frau in Österreich befragt, durch ihr äußeres Erscheinungsbild, ihr Auftreten und ihre Erzählungen nicht den Eindruck einer westlich orientierten Frau.

Die Beschwerdeführerin ist jedoch bemüht sich in die österreichische Gesellschaft einzugliedern.


Zur allgemeinen Lage in Afghanistan und der Situation der Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt (Ausschnitte aus den LIB):

1. Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Quellen:

?        AF - Asia Foundation (24.6.2020): Afghanistan’s Covid-19 Bargain, https://asiafoundation.org/2020/06/24/afghanistans-covid-19-bargain/, Zugriff 26.6.2020

?        AJ - al-Jazeera (8.6.2020): Afghan schools, universities to remain closed until September, https://www.aljazeera.com/news/2020/06/afghan-schools-universities-remain-closed-september-200608062711582.html, Zugriff 26.6.2020

?        AnA – Andolu Agency (24.6.2020): Afghanistan resumes international flights amid COVID-19, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/afghanistan-resumes-international-flights-amid-covid-19/1888176, Zugriff 26.6.2020

?        GN – Gulf News (9.6.2020): COVID-19: Emirates to resume regular passenger flights to Kabul from June 25, https://gulfnews.com/uae/covid-19-emirates-to-resume-regular-passenger-flights-to-kabul-from-june-25-1.71950323, Zugriff 26.6.2020

?        HRW - Human Rights Watch (18.6.2020): School Closures Hurt Even More in Afghanistan, https://www.hrw.org/news/2020/06/18/school-closures-hurt-even-more-afghanistan, Zugriff 26.6.2020

?        JHU -John Hopkins Universität (26.6.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 26.6.2020

?        RA KBL – Rechtsanwalt in Kabul (19.6.2020): Antwortschreiben per Mail, liegt bei der Staatendokumentation auf.

?        TN – Tolonews (15.6.2020): Govt Will Resume Bread Distribution: Palace, https://tolonews.com/afghanistan/govt-will-resume-bread-distribution-palace, Zugriff 29.6.2020

?        TN – Tolonews (15.6.2020): Poor Claim ‘Unjust’ Bread Distribution in Jawzjan, https://tolonews.com/afghanistan/poor-claim-%E2%80%98unjust%E2%80%99-bread-distribution-jawzjan, Zugriff 29.6.2020

?        UNHCR – (20.6.2020): Border Monitoring Update COVID-19 Response 14-20 June 2020, https://data2.unhcr.org/en/documents/download/77302, Zugriff 26.6.2020

?        WHO – World Health Organization (25.3.2020): Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report –65, https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200325-sitrep-65-covid-19.pdf?sfvrsn=2b74edd8_2, Zugriff 16.4.2020

?        WP - Washington Post (25.6.2020): Coronavirus sweeps through Afghanistan’s security forces, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-security-forces-military/2020/06/24/0063c828-b4e2-11ea-9a1d-d3db1cbe07ce_story.html, Zugriff 26.6.2020

?        XI – Xinhua (23.6.2020): Pakistan receives 1st Afghan export since COVID-19 pandemic, http://www.xinhuanet.com/english/2020-06/23/c_139159139.htm, Zugriff 26.6.2020

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Quellen:

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?        WHO MIT – Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Mazar-e Sharif (10.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail; liegt bei der Staatendokumentation auf.

?        WP – Washington Post (20.4.2020): More than a dozen staff members in Afghanistan’s presidential palace test positive for coronavirus, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-presidential-palace/2020/04/20/5836a856-8308-11ea-81a3-9690c9881111_story.html, Zugriff 24.4

2. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Quellen:

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?        FA – Frankfurter Allgemeine (23.8.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen, https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/usa-taliban-gespraeche-in-katar-wieder-aufgenommen-16347359.html, Zugriff 23.8.2019

?        MPI - Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, http://www.mpipriv.de/files/pdf4/verfassung_2004_deutsch_mpil_webseite.pdf, Zugriff 7.6.2019

?        NPR (6.5.2020): The Risk Of Coronavirus In Afghanistan's Prisons Is Complicating Peace Efforts, https://www.npr.org/sections/coronavirus-live-updates/2020/05/06/851197363/the-risk-of-coronavirus-in-afghanistans-prisons-is-complicating-peace-efforts?t=1589350646996, Zugriff 12.5.2020

?        NZZ – Neue Züricher Zeitung (20.4.2020): Taliban töten erneut fast 20 Soldaten aus regierungstreuen Kreisen – die neusten Entwicklungen nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Afghanistan, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-neuesten-entwicklungen-im-friedensprozess-ld.1541939#subtitle-2-was-steht-in-dem-abkommen-second, Zugriff 20.4.2020

?        RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (20.10.2019): Afghan Presidential Election Results Announcement Delayed, https://www.rferl.org/a/afghanistan-presidential-election-results-delayed/30225843.html, Zugriff 27.10.2019

?        RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (29.5.2019): Afghanistan Postpones Two Local Elections, https://www.rferl.org/a/afghanistan-postpones-two-local-elections/29970772.html, Zugriff 7.6.2019

?        RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (6.12.2018): Afghan Commission Invalidates All Kabul Votes In October Parliamentary Election, https://www.rferl.org/a/afghan-commission-invalidates-all-kabul-votes-in-october-parliamentary-election/29640679.html, Zugriff 7.6.2019

?        TN – Tolonews (11.5.2020): Differences Remain in Proposed

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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