TE Vwgh Erkenntnis 2020/12/15 Ra 2020/21/0090

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Veröffentlicht am 15.12.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19100000
E3L E19103000
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §12a Abs2
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §22
BFA-VG 2014 §22 Abs2
EURallg
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
32008L0115 Rückführungs-RL Art15
32013L0032 IntSchutz-RL
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs5
32013L0032 IntSchutz-RL Art41 Abs1 lita

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A M in A, vertreten durch Dr. Volker Riepl, Rechtsanwalt in 4040 Linz, Leonfeldner Straße 322, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Februar 2020, W137 2228672-1/5E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 5. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 20. Juli 2017 vollumfänglich abgewiesen wurde. Zugleich erging eine Rückkehrentscheidung, und es erfolgte die Feststellung gemäß § 52 Abs. 9 FPG, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2019 als unbegründet abgewiesen.

2        Im August 2019 reiste der Revisionswerber nach Frankreich aus. Nach seiner Rückkehr nach Österreich stellte er am 29. Jänner 2020 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz.

3        Mit mündlich verkündetem Bescheid des BFA vom 11. Februar 2020 wurde gemäß § 12a Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 der faktische Abschiebeschutz aufgehoben. Anschließend wurde mit sogleich in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid des BFA vom selben Tag gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet.

4        Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2020 erhob der Revisionswerber Beschwerde gemäß § 22a BFA-VG gegen den Schubhaftbescheid und die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft seit dem 11. Februar 2020. Darin brachte er insbesondere vor, dass selbst unter der Annahme von Fluchtgefahr nur ein gelinderes Mittel zu verhängen gewesen wäre. Er habe bis zur Schubhaftverhängung mit seiner Lebensgefährtin und den beiden gemeinsamen Kindern, die alle anerkannte Flüchtlinge seien, im gemeinsamen Haushalt gelebt und hätte dort nach wie vor einen gesicherten Wohnsitz. Insbesondere zum Beweis seiner Kooperationsbereitschaft beantragte er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

5        Mit Aktenvermerk vom 17. Februar 2020 hielt das Bundesverwaltungsgericht im Asylverfahren fest, es sei „aus derzeitiger Sicht nicht zu entscheiden, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nicht rechtmäßig war“.

6        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 21. Februar 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA-VG als unbegründet ab, und es stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG „iVm § 76 FPG“ fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Der Revisionswerber wurde zum Kostenersatz an den Bund verpflichtet.

7        Das Bundesverwaltungsgericht teilte die Beurteilung des BFA, dass die Tatbestände des § 76 Abs. 3 Z 1, 3, 4, 5 und 9 FPG erfüllt seien. Zur Z 9 führte das Bundesverwaltungsgericht näher aus, in der Beschwerde sei zwar nachvollziehbar dargelegt worden, dass dem Revisionswerber bei seiner Lebensgefährtin eine gesicherte Unterkunft zur Verfügung stehe; gleichzeitig ergebe sich aus der Aktenlage, dass der Revisionswerber das BFA bewusst nicht von einer neuerlichen Unterkunftnahme in Kenntnis gesetzt und sich dort nicht behördlich angemeldet habe. Das BFA gehe auch richtigerweise von einer aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen des Revisionswerbers abgeleiteten mangelnden Vertrauenswürdigkeit und einem besonderen Interesse des Staates an der Sicherstellung der Abschiebung aus. Zu den Straftaten stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der Revisionswerber „2016 wegen Suchtmitteldelikten strafrechtlich verurteilt“ worden sei.

8        Mit gelinderen Mitteln habe nicht das Auslangen gefunden werden können. Dem BFA sei darin beizupflichten, dass sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden ließen, da sich der Revisionswerber insbesondere durch sein vor Anordnung der Schubhaft gezeigtes kriminelles Verhalten und die Absetzung nach Frankreich nicht als vertrauenswürdig erwiesen habe.

9        Es sei auch davon auszugehen, dass die Überstellung des Revisionswerbers nach Afghanistan binnen relativ kurzer Frist möglich sein werde. Es sei festzuhalten, dass in der Beschwerde keinerlei rechtliche Hindernisse im Zusammenhang mit einer Abschiebung während des laufenden Asylfolgeverfahrens thematisiert worden seien.

10       Auch den Fortsetzungsausspruch begründete das Bundesverwaltungsgericht mit einer Fluchtgefahr im Sinn der Tatbestände des § 76 Abs. 3 Z 1, 3, 4, 5 und 9 FPG. Hinsichtlich der absehbaren Dauer der Schubhaft sei davon auszugehen, dass die Abschiebung jedenfalls innerhalb der gesetzlich zulässigen Anhaltedauer, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber binnen einiger Wochen, erfolgen könne.

11       Die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben können, weil der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhalts der Beschwerde geklärt sei. Die in der Beschwerde vorgebrachte gesicherte Unterkunft sei der Entscheidung ohnedies zugrunde gelegt worden. Der vorgebrachten Kooperationsbereitschaft stehe das unstrittige Verhalten des Revisionswerbers im letzten Jahr - gerade auch nach der Rückkehr aus Frankreich - gegenüber.

12       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

13       Der Revisionswerber bringt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG vor, das Bundesverwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Anwendung gelinderer Mittel nicht ausreichend gewesen wäre. In diesem Zusammenhang wird auch die Verletzung der Verhandlungspflicht geltend gemacht.

14       Dieses Vorbringen führt zur Zulässigkeit der Revision.

15       Schubhaft darf stets nur „ultima ratio“ sein, sodass ihre Verhängung zu unterbleiben hat, wenn das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0243, Rn. 10, mwN). Angesichts der starken familiären Verankerung des Revisionswerbers in Österreich - hier leben seine Lebensgefährtin und seine beiden Kinder, die alle Flüchtlingsstatus haben - war im vorliegenden Fall das gelindere Mittel der periodischen Meldeverpflichtung naheliegend. Die dafür erforderliche Kooperationsbereitschaft hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung verneinen dürfen; insofern lag kein geklärter Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG vor (vgl. dazu etwa VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0229, Rn. 12, sowie VwGH 31.8.2017, Ra 2017/21/0146, Rn. 10). Zwar ist nicht in allen Fällen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks erforderlich, um die konkrete Fluchtgefahr - insbesondere im Hinblick auf eine mangelnde Vertrauenswürdigkeit des betreffenden Fremden - beurteilen zu können; sie lässt sich vielmehr auch aus einem einschlägigen Vorverhalten ableiten (vgl. VwGH 5.11.2020, Ra 2020/21/0287, Rn. 19, mwN). Im vorliegenden Fall war das vom Bundesverwaltungsgericht festgestellte Vorverhalten aber nicht ausreichend, um - trotz der Wohnmöglichkeit bei der Lebensgefährtin und Mutter der gemeinsamen Kinder des Revisionswerbers - ohne Verhandlung von einem nicht durch gelindere Mittel zu erfüllenden Sicherungsbedarf ausgehen zu können, zumal die beiden im Jahr 2016 begangenen Straftaten des Revisionswerbers jeweils nur zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier bzw. zwei Monaten geführt hatten.

16       Aus Anlass der Revision war aber auch eine inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufzugreifen.

17       Der Revisionswerber war auf Grund seines Asylfolgeantrags sowohl zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung als auch zum Zeitpunkt der Erlassung des Fortsetzungsausspruches Asylwerber. Zwar hatte das BFA gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 den faktischen Abschiebeschutz aufgehoben; dass das Bundesverwaltungsgericht dies bereits im Wege des amtswegigen Überprüfungsverfahrens nach § 22 BFA-VG bestätigt hätte, wurde aber nicht festgestellt - ein bloßer Aktenvermerk reicht dafür nicht aus. Jedenfalls deshalb konnte nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, der Fall sei § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu unterstellen. Denn der Revisionswerber blieb Asylwerber und ihm kam vor dem Hintergrund der Verfahrens-RL (Richtlinie 2013/32/EU) ungeachtet der innerstaatlichen Regelung des § 22 Abs. 2 zweiter Satz BFA-VG, wonach im Falle der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 mit der Durchführung der die (alte) Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung (nur) bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der dem BVwG zu übermittelnden Verwaltungsakten zugewartet werden muss, grundsätzlich - auch wenn man schon die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 als Entscheidung iS von Art. 40 Abs. 5 der Verfahrens-RL, den wiederholten Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zu betrachten, begreifen wollte - weiterhin ein Bleiberecht zu. Das steht einer Schubhaft auf Basis von Art. 15 der Rückführungs-RL (Richtlinie 2008/115/EG) und damit auf Grundlage von § 76 Abs. 2 Z 2 FPG entgegen. Zwar lässt die Verfahrens-RL den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Regelung des Bleiberechts bei Folgeanträgen einen weiteren Spielraum. Bei einem - wie hier vorliegend - ersten Folgeantrag zufolge ihres Art. 41 Abs. 1 lit. a aber nur dann, wenn der Antrag von der betreffenden Person in Missbrauchsabsicht („nur zur Verzögerung oder Behinderung der Durchsetzung einer Entscheidung, die zu ihrer unverzüglichen Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat führen würde“) gestellt wurde . Die Entscheidung des BFA nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 könnte daher, wenn wie hier noch keine Bestätigung durch das BVwG vorliegt, nur dann zu einer anderen Beurteilung führen, wenn eine derartige Missbrauchsabsicht festgestellt wurde (vgl. zum Ganzen VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0198, Rn. 18 und 19).

18       Da das BFA und das Bundesverwaltungsgericht - wie dargelegt - weder eine gerichtliche Bestätigung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes noch eine Missbrauchsabsicht in Bezug auf den Folgeantrag festgestellt haben, konnte nicht von der Rechtmäßigkeit der vom BFA auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützten Schubhaft ausgegangen werden. Der Fortsetzungsausspruch wurde vom Bundesverwaltungsgericht spruchgemäß zwar nicht ausdrücklich auf die Z 2 des § 76 Abs. 2 FPG gestützt. Zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG, der die Verhängung von Schubhaft gegenüber Asylwerbern dann zulässt, wenn der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, enthält das angefochtene Erkenntnis aber keinerlei Ausführungen.

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der vorrangig wahrzunehmenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

21       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. Dezember 2020

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210090.L00

Im RIS seit

02.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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