TE Vwgh Erkenntnis 2020/12/7 Ra 2019/21/0163

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Veröffentlicht am 07.12.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §6
B-VG Art130 Abs1 Z1
B-VG Art130 Abs1 Z2
B-VG Art140 Abs7
VVG §5 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGG §42 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §12
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §31 Abs2
VwGVG 2014 §31 Abs3
VwGVG 2014 §9 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 2019, W250 2217514-1/34E, betreffend Beugehaft (mitbeteiligte Partei: S C in W, im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufgehoben.

Begründung

1        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10. Oktober 2018 wurde dem Mitbeteiligten, einem chinesischen Staatsangehörigen, gemäß § 46 Abs. 2a und 2b FPG iVm § 19 AVG aufgetragen, an der Erlangung eines Ersatzreisedokuments mitzuwirken, indem er am 30. Oktober 2018 um 8:30 Uhr zum BFA komme und wahrheitsgemäße Angaben zu seiner Identität und Staatsangehörigkeit mache, Formblätter ausfülle und Dokumente vorlege. Für den Fall, dass er dem Auftrag ohne wichtigen Grund nicht Folge leiste, müsse er damit rechnen, dass eine Haftstrafe von 14 Tagen verhängt würde. Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde ausgeschlossen.

2        Am 30. Oktober 2018 erschien der Mitbeteiligte nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts im nunmehr angefochtenen Erkenntnis um 9:30 Uhr, also um eine Stunde verspätet, beim BFA und wurde wieder weggeschickt, weil eine Verständigung mit ihm ohne Dolmetscher nicht möglich war.

3        Am 3. April 2019 erließ das BFA einen Vollstreckungsbescheid gemäß § 5 VVG, mit dem die im Bescheid vom 10. Oktober 2018 angedrohte Haftstrafe über den Mitbeteiligten verhängt wurde. Der Bescheid wurde dem Mitbeteiligten am 8. April 2019 persönlich zugestellt und sogleich in Vollzug gesetzt.

4        Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte mit Schriftsatz vom 15. April 2019 „in vollem Umfang gem. Art. 130 (1) Z 1 iVm 132 (1) Z 1 B-VG“ Beschwerde; er beantragte, das Bundesverwaltungsgericht möge „den angefochtenen Bescheid beheben und die darauf gestützte Festnahme sowie die darauffolgende bisherige Anhaltung für rechtswidrig erklären“. Eingebracht wurde die Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

5        Die Gerichtskanzlei des Bundesverwaltungsgerichts leitete die Beschwerde unter dem Betreff „Schubhaftbeschwerde; Aktenanforderung“ am 16. April 2019 mit dem Ersuchen um Übermittlung des Aktes und einer schriftlichen Stellungnahme an das BFA weiter. Das BFA legte die - auch von ihm so bezeichnete - „Schubhaftbeschwerde“ am selben Tag samt den Verwaltungsakten wieder dem Bundesverwaltungsgericht vor.

6        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde statt, indem es den Bescheid vom 3. April 2019 mit Spruchpunkt A.I. ersatzlos behob. Mit Spruchpunkt A.II. erklärte es die Festnahme des Mitbeteiligten am 8. April 2019 sowie die darauffolgende Anhaltung für rechtswidrig. Mit Spruchpunkt A.III. wurde der Bund gemäß § 35 Abs. 1 und 2 VwGVG zum Aufwandersatz gegenüber dem Mitbeteiligten verpflichtet, und mit Spruchpunkt A.IV. wurde der Kostenersatzantrag des BFA abgewiesen.

7        Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht aus, dass angedrohte Zwangsstrafen gemäß § 5 Abs. 2 VVG beim ersten Zuwiderhandeln sofort anzuordnen seien. Aus dem Handeln der Behörde könne sich konkludent ergeben, dass sie auf die Rechtsfolgen des angedrohten Zwangsmittels verzichte. Im vorliegenden Fall lasse sich aus dem (näher dargestellten) Verhalten des BFA der Schluss ziehen, dass auf die Zwangsmaßnahme verzichtet worden sei. Damit werde die Vollstreckungsverfügung unzulässig. Eine Vollstreckung der Beugehaft mehr als fünf Monate nach jenem Tag, an dem der Mitbeteiligte (lediglich) verspätet bei der Behörde erschienen sei, erscheine auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar.

8        Da die Festnahme des Mitbeteiligten und seine Anhaltung auf Grundlage eines rechtswidrigen Bescheides vorgenommen worden seien, seien sie für rechtswidrig zu erklären gewesen. Ein Anhaltspunkt für die Unverhältnismäßigkeit der Anhaltung liege auch darin, dass der Mitbeteiligte zumindest bis zum Zeitpunkt der Vorlage des Verwaltungsaktes an das Bundesverwaltungsgericht nicht vom BFA einvernommen worden sei und ihm daher auch nicht die Möglichkeit gegeben worden sei, seiner Mitwirkungsverpflichtung nachzukommen.

9        Die Kostenentscheidung begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass der Revisionswerber gegen seine Festnahme eine Maßnahmenbeschwerde erhoben habe. Da die Festnahme für rechtswidrig erklärt worden sei, sei der Revisionswerber obsiegende Partei im Sinn des § 35 VwGVG und habe Anspruch auf Kostenersatz im beantragten Umfang.

10       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei, weil die Entscheidung nicht von einer Rechtsfrage abhänge, der grundsätzliche Bedeutung zukomme.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen hat:

11       Das BFA macht als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, dass es sich bei der gegenständlichen Beschwerde gegen die Vollstreckungsverfügung nach § 5 VVG um eine Bescheidbeschwerde handle, die gemäß § 12 VwGVG bei der Behörde einzubringen gewesen wäre; der Revisionswerber habe die Beschwerde aber direkt beim Bundesverwaltungsgericht eingebracht, das diese nicht gemäß § 6 AVG weitergeleitet, sondern nur durch die Kanzlei per E-Mail mit dem Ersuchen um Aktenvorlage übermittelt habe. Anders als für Schubhaftbeschwerden bestehe keine Regelung, dass in Fällen von Haftstrafen nach dem VVG auch für die Beschwerde gegen den Bescheid das Verfahrensrecht der Maßnahmenbeschwerden anzuwenden und die Beschwerde daher beim Bundesverwaltungsgericht einzubringen wäre. Es sei daher rechtswidrig, dass das Bundesverwaltungsgericht mit Spruchpunkt A.I. inhaltlich über die Bescheidbeschwerde entschieden habe.

12       Indem das Bundesverwaltungsgericht mit den Spruchpunkten A.II. bis A.IV. eine Entscheidung über eine Maßnahmenbeschwerde getroffen habe, habe es außerdem deswegen seine Entscheidungskompetenz überschritten, weil die Beschwerde ausdrücklich als Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 iVm Art. 132 Abs. 1 Z 1 B-VG bezeichnet worden sei; eine Entscheidung über eine Maßnahmenbeschwerde sei daher nicht in Betracht gekommen. Im Übrigen wäre eine Maßnahmenbeschwerde gegen die auf der Vollstreckungsverfügung beruhende Festnahme und Anhaltung nicht zulässig gewesen, solange es nicht zu einer Überschreitung der bescheidmäßigen Grundlage gekommen sei.

13       Die Revision ist zulässig und berechtigt.

14       Aus Anlass der Revision stellte der Verwaltungsgerichtshof anknüpfend an den Prüfungsbeschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 26. Februar 2020, E 76/2019, mit Beschluss vom 16. Juli 2020, A 2020/0001, an den Verfassungsgerichtshof den Antrag,

„im Verwaltungsvollstreckungsgesetz 1991 (VVG), BGBl. Nr. 53/1991 (WV), als verfassungswidrig aufzuheben:

die Wortfolge „oder durch Haft“ in § 5 Abs. 1,

die Zeichen- und Wortfolge „ ,an Haft die Dauer von vier Wochen“ in § 5 Abs. 3 idF BGBl. I Nr. 137/2001 und

§ 6 Abs. 2.“

15       Mit Erkenntnis vom 7. Oktober 2020, G 164/2020 u.a., hob der Verfassungsgerichtshof die Wortfolge „oder durch Haft“ in § 5 Abs. 1 VVG, die Zeichen- und Wortfolge „ , an Haft die Dauer von vier Wochen“ in § 5 Abs. 3 VVG und § 6 Abs. 2 VVG als verfassungswidrig auf. Weiters sprach er aus, dass die Aufhebungen mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft treten und frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.

16       Gemäß Art. 140 Abs. 7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannten Normen bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätten (vgl. zuletzt etwa VwGH 18.5.2020, Ra 2018/15/0121, Rn. 12, mwN).

17       Der vorliegende Revisionsfall bildet einen der Anlassfälle für die in Rn. 15 dargestellte teilweise Gesetzesaufhebung durch den Verfassungsgerichtshof.

18       Die Regelung des § 5 VVG über die Beugehaft war daher nicht anzuwenden, weshalb die ersatzlose Aufhebung des die Beugehaft nach dieser Bestimmung anordnenden Bescheides durch das Bundesverwaltungsgerichts schon deswegen im Ergebnis zu Recht erfolgt wäre.

19       Allerdings lag dem Bundesverwaltungsgericht keine wirksam eingebrachte Beschwerde vor. Der Mitbeteiligte hatte ausdrücklich eine Bescheidbeschwerde nach Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erhoben. Eine solche ist aber gemäß § 12 VwGVG bei der Behörde und nicht direkt beim Verwaltungsgericht einzubringen. Eine Weiterleitung an die Behörde als richtige Einbringungsstelle wäre zwar gemäß § 17 VwGVG iVm § 6 AVG möglich und geboten gewesen. Sie ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfolgt. Dazu hätte es nämlich einer entsprechenden ausdrücklichen verfahrensleitenden Anordnung im Sinne des § 31 Abs. 2 und 3 letzter Satz VwGVG bedurft (vgl. VwGH 17.2.2015, Ra 2015/01/0022, Punkt 2.4.). Eine bloße Übermittlung durch eine Kanzleikraft zwecks Aktenanforderung und Einholung einer Stellungnahme reicht dafür nicht aus.

20       Eine Maßnahmenbeschwerde wäre zwar gemäß § 12 2. Satz VwGVG direkt beim Verwaltungsgericht einzubringen. Eine solche wurde vom Mitbeteiligten nach dem eindeutigen Wortlaut seines Schriftsatzes aber nicht erhoben (und sie wäre auch unzulässig, soweit sich die Haft auf eine wirksam erlassene Vollstreckungsverfügung gestützt hat - vgl. VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0188, Rn. 18 und 19, mwN).

21       Dem Bundesverwaltungsgericht kam daher im vorliegenden Fall weder hinsichtlich einer Bescheidbeschwerde noch hinsichtlich einer Maßnahmenbeschwerde eine Entscheidungskompetenz zu.

22       Somit war das angefochtene Erkenntnis zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufzuheben.

Wien, am 7. Dezember 2020

Schlagworte

Allgemein

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210163.L01

Im RIS seit

18.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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