TE Vwgh Erkenntnis 2020/12/3 Ra 2020/20/0094

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Veröffentlicht am 03.12.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §45 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/20/0095
Ra 2020/20/0096

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und MMag. Ginthör sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revisionen 1. des H A, 2. der I A und 3. der M A, alle in W, alle vertreten durch Mag. Valentina Arnez, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Karlsplatz 3/1, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 4. Februar 2020, 1. L524 2134819-1/53E, 2. L524 2134820-1/36E und 3. L524 2134822-1/42E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das den Erstrevisionswerber betreffende Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die übrigen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige des Irak. Sie stellten am 20. September 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) und brachten als Fluchtgrund vor, dass sie sich aufgrund von Misshandlungen durch schiitische Milizen nicht mehr wohl gefühlt hätten. Der Erstrevisionswerber ist der Ehemann der Zweitrevisionswerberin. Die Drittrevisionswerberin ist die zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige Tochter des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin.

2        Mit den Bescheiden je vom 2. August 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge jeweils sowohl hinsichtlich des Status von Asylberechtigten als auch von subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ Rückkehrentscheidungen samt den rechtlich davon abhängenden Aussprüchen.

3        Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit den Erkenntnissen vom 15. März 2018 als unbegründet ab. Aufgrund der dagegen erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien hob der Verfassungsgerichtshof diese Entscheidungen mit Erkenntnis vom 24. September 2018, E 1034/2018-18, E 1096/2018-18, E 1097/2018-15, im Umfang der Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten samt den rechtlich davon abhängenden Aussprüchen auf. Im Umfang der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerden ab.

4        Im fortgesetzten Verfahren brachte der Erstrevisionswerber in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz ergänzend vor, er sei homosexuell, führe eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu einem näher genannten, im Bundesgebiet als Asylberechtigten aufhältigen Mann, beantragte die Einvernahme dieses Mannes zum Beweis der behaupteten Homosexualität und legte Berichte zur Lage von Homosexuellen in seinem Heimatland vor.

5        Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die Beschwerden erneut als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Zur Begründung führte das BVwG unter anderem aus, der Erstrevisionswerber habe nicht glaubhaft gemacht, dass er homosexuell oder bisexuell sei. Den revisionswerbenden Parteien drohe im Falle ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt Bagdad keine reale Gefahr einer Verletzung ihrer nach Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte, wenngleich zu Beginn wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht auszuschließen seien. Der Erstrevisionswerber sei ein gebildeter und arbeitsfähiger Mann mit Berufserfahrung und seine Familie könne die revisionswerbenden Parteien unterstützen.

7        Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen. Zu ihrer Zulässigkeit wird - unter anderem - geltend gemacht, das BVwG habe sich (unter Missachtung näher angeführter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes) über erhebliches Parteivorbringen und Beweisanträge unbegründet hinweggesetzt, indem es den (als Zeugen angebotenen) gleichgeschlechtlichen Partner des Erstrevisionswerbers nicht einvernommen habe. Dieser Mangel habe sich auf das Verfahrensergebnis ausgewirkt, weil dessen Einvernahme Beweis für die Homosexualität des Erstrevisionswerbers geliefert hätte und es sich dabei um ein individuelles Gefährdungsmoment handle, welches in Zusammenschau mit der Lage im Irak zur Gewährung von internationalem Schutz hätte führen müssen.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - es wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet - erwogen:

9        Die Revisionen sind zulässig und berechtigt.

10       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Es darf sich nicht über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge ohne Ermittlungen und ohne eine dem Gesetz entsprechende Begründung hinwegsetzen. Beweisanträge dürfen nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (VwGH 14.10.2016, Ra 2016/09/0052; 24.7.2017, Ro 2014/08/0043; 6.5.2020, Ra 2019/08/0162; 13.7.2020, Ra 2019/20/0464, mwN).

11       Nach ständiger Rechtsprechung setzt die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm. § 17 VwGVG) erst nach einer vollständigen Beweiserhebung ein; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 10.8.2020, Ra 2018/19/0228; 18.1.2017, Ra 2016/18/0197, mwN).

12       Das BVwG begründete seine Ablehnung der Einvernahme des beantragten Zeugen unter Bezugnahme auf das Aussageverhalten des Erstrevisionswerbers damit, dass dessen Vorbringen zur Homosexualität nicht glaubhaft sei, und zog daraus die Konsequenz, dass „[a]ufgrund des gänzlich widersprüchlichen Vorbringens des Beschwerdeführers ... von einer Einvernahme des beantragten Zeugen zur sexuellen Orientierung“ des Erstrevisionswerbers abgesehen werde. Eine solche Argumentation stellt sich als vorgreifende Beweiswürdigung dar.

13       Ob die Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK selbst im Fall der Homosexualität des Erstrevisionswerbers verneint werden könnte, ist mangels weiterer Feststellungen nicht beurteilbar.

14       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG nach einer Einvernahme des beantragten Zeugen zu einem abweichenden Ergebnis gelangt wäre, war das erstangefochtene Erkenntnis infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

15       Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Revisionswerber als Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Erkenntnisse (vgl. etwa VwGH 23.4.2020, Ra 2019/01/0368-0371, mwN). Die die Zweit- und Drittrevisionswerberinnen betreffenden Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts aufzuheben.

16       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

17       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. Dezember 2020

Schlagworte

Beweiswürdigung antizipative vorweggenommene

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200094.L01

Im RIS seit

19.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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