TE Vwgh Erkenntnis 2020/12/3 Ra 2020/19/0191

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Veröffentlicht am 03.12.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §12 Abs1
AsylG 2005 §12a Abs2
AsylG 2005 §12a Abs3
AsylG 2005 §12a Abs4
AsylG 2005 §22 Abs10
AVG §68 Abs1
BFA-VG 2014 §22
EURallg
MRK Art13
VwGG §42 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs1
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs1
32013L0032 IntSchutz-RL Art41
32013L0032 IntSchutz-RL Art46 Abs6

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2020, W119 2177882-2/2E, betreffend faktischen Abschiebeschutz nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: N M A), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird, soweit das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen hat, die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes des Mitbeteiligten sei gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht rechtmäßig, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

Im Übrigen wird der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte erstmals am 7. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 31. Oktober 2017 ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 19. Juni 2019 als unbegründet ab.

2        Am 2. Dezember 2019 stellte der Mitbeteiligte einen Folgeantrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, homosexuell zu sein und seit einem Jahr in Österreich eine Beziehung zu einem Mann zu führen. Da das in der afghanischen Kultur nicht erlaubt sei, habe er es nicht gewagt, dieses Vorbringen früher zu erstatten.

3        Mit Bescheid vom 5. März 2020 stellte das BFA - nach Vorstellung des Revisionswerbers gegen einen gleich lautenden Mandatsbescheid vom 4. Dezember 2019 - gemäß § 12a Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass die Voraussetzungen nach § 12a Abs. 4 Z 1 und 2 AsylG 2005 nicht vorlägen. Der faktische Abschiebeschutz werde dem Mitbeteiligten gemäß § 12a Abs. 4 AsylG nicht zuerkannt.

4        Begründend führte das BFA aus, bereits mit Bescheid vom 28. November 2019 sei über den Mitbeteiligten die Schubhaft verhängt und ihm unter einem ein für den 10. Dezember 2019 festgelegter Abschiebetermin mitgeteilt worden. Der Mitbeteiligte, gegen den eine Rückkehrentscheidung bestanden habe, habe den Folgeantrag somit binnen 18 Tagen vor dem festgelegten Abschiebetermin aus der Schubhaft gestellt. Es liege daher ein Fall vor, in dem gemäß § 12a Abs. 3 AsylG 2005 ex lege kein faktischer Abschiebeschutz bestehe. Dem Mitbeteiligten sei es nicht gelungen, glaubhaft zu machen, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt hätte stellen können, zumal ihm nach seinen eigenen Angaben die nunmehr als Fluchtgrund vorgebrachten Umstände seit einem Jahr bekannt gewesen seien. Seit der Abweisung seines ersten Antrages auf internationalen Schutz habe sich die Lage in Afghanistan nicht wesentlich verändert. Dem Mitbeteiligten drohe bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weiterhin insbesondere keine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK. Die Voraussetzungen der Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 lägen daher nicht vor.

5        Aufgrund der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten sprach das BVwG mit dem in Revision gezogenen Beschluss aus, die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes sei gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht rechtmäßig. Der Bescheid des BFA vom 5. März 2020 werde aufgehoben.

6        In seiner Begründung gab das BVwG den Verfahrensgang, den Wortlaut der §§ 12a und 22 Abs. 10 AsylG 2005 sowie des § 22 BFA-VG und Auszüge aus den Gesetzesmaterialien zu § 12a AsylG 2005 wieder und führte aus, der Mitbeteiligte habe bei seiner Antragstellung am 2. Dezember 2019 angegeben, mit einem Partner in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung zu leben, und dazu den Namen und die Anschrift seines Partners bekannt gegeben. Darüber habe sich das BFA begründungslos hinweggesetzt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das BFA bei Befassung mit diesem Vorbringen und Einvernahme des Partners des Mitbeteiligten zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Auf der Grundlage der vorgelegten Akten könne somit das „Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht bejaht werden“, sodass der Bescheid des BFA aufzuheben gewesen sei.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Beschluss erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Das BFA bringt zur Zulässigkeit seiner Revision im Wesentlichen vor, Gegenstand des Bescheides vom 5. März 2020 sei die Nichtzuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 gewesen. Mit dem in Revision gezogenen Beschluss habe das BVwG gegen (näher dargestellte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verstoßen, über den Gegenstand des Verfahrens zu entscheiden, seinen Spruch an die Stelle des Spruches des bei ihm angefochtenen Bescheides zu setzen und die Verwaltungsangelegenheit zu erledigen.

9        Die Revision ist zulässig und berechtigt.

10       § 12a Abs. 2, 3 und 4 AsylG 2005 lautet:

„(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn

1.   gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2.   der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und

3.   die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(3) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gemäß Abs. 2 binnen achtzehn Tagen vor einem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt, kommt ihm ein faktischer Abschiebeschutz nicht zu, wenn zum Antragszeitpunkt

1.   gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2.   der Fremde über den Abschiebetermin zuvor nachweislich informiert worden ist und

3.   darüber hinaus

a)   sich der Fremde in Schub-, Straf- oder Untersuchungshaft befindet;

b)   gegen den Fremden ein gelinderes Mittel (§ 77 FPG) angewandt wird, oder

c)   der Fremde nach einer Festnahme gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 oder 3 BFA-VG iVm § 40 Abs. 1 Z 1 BFA-VG angehalten wird.

Liegt eine der Voraussetzungen der Z 1 bis 3 nicht vor, ist gemäß Abs. 2 vorzugehen. Für die Berechnung der achtzehntägigen Frist gilt § 33 Abs. 2 AVG nicht.

(4) In den Fällen des Abs. 3 hat das Bundesamt dem Fremden den faktischen Abschiebeschutz in Ausnahmefällen zuzuerkennen, wenn der Folgeantrag nicht zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde. Dies ist dann der Fall, wenn

1.   der Fremde anlässlich der Befragung oder Einvernahme (§ 19) glaubhaft macht, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt stellen konnte oder

2.   sich seit der letzten Entscheidung die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungsrelevant geändert hat.

Über das Vorliegen der Voraussetzungen der Z 1 und 2 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu entscheiden. Wurde der Folgeantrag binnen zwei Tagen vor dem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt, hat sich die Prüfung des faktischen Abschiebeschutzes auf das Vorliegen der Voraussetzung der Z 2 zu beschränken. Für die Berechnung der zweitägigen Frist gilt § 33 Abs. 2 AVG nicht. Die Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes steht einer weiteren Verfahrensführung gemäß Abs. 2 nicht entgegen.“

11       § 12a Abs. 3 AsylG 2005 sieht vor, dass unter den dort genannten Voraussetzungen einem Fremden, der einen Folgeantrag gestellt hat, ex lege kein faktischer Abschiebeschutz (§ 12 Abs. 1 AsylG 2005) zukommt. In diesen Fällen hat das BFA nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 mit Mandatsbescheid nach Maßgabe der Voraussetzungen der Z 1 und 2 leg. cit. über die Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes zu entscheiden. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten hat, hat eine Entscheidung des BFA nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 vor einer Abschiebung zu ergehen und dient dazu, den gemäß Art. 13 EMRK (sowie auf Grund des Rechtsstaatsprinzips) gebotenen Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. VwGH 20.12.2013, 2012/21/0118; vgl. insoweit zu den unionsrechtlichen Grundlagen und Vorgaben auch die Art. 40 Abs. 1, 41 und 46 Abs. 6 der Verfahrensrichtlinie [Richtlinie 2013/32/EU]).

12       Mit dem beim BVwG in Beschwerde gezogenen Bescheid hat das BFA auf der Grundlage der Annahme, dem Mitbeteiligten komme nach § 12a Abs. 3 AsylG 2005 ex lege kein faktischer Abschiebeschutz zu, nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 über die Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes entschieden. Eine Entscheidung über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 ist somit nicht ergangen und kommt in Fällen, in denen einem Fremden nach § 12a Abs. 3 erster Satz AsylG 2005 ex lege kein faktischer Abschiebeschutz zukommt, auch nicht in Betracht.

13       Sache des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht und äußerster Rahmen seiner Prüfbefugnis ist nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des bei ihm angefochtenen Bescheides gebildet hat (vgl. etwa VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0134, mwN). Soweit das BVwG mit dem ersten Satz des Spruches des angefochtenen Beschlusses ausgesprochen hat, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht rechtmäßig sei, hat es daher seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet.

14       Mit dem zweiten Satz seines Spruches hat das BVwG den Bescheid des BFA behoben.

15       Voraussetzung einer Entscheidung des BFA über die Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 ist nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung, dass ein Fall des § 12a Abs. 3 AsylG 2005 vorliegt, somit im Sinn dieser Bestimmung dem Fremden, der einen Folgeantrag gestellt hat, ex lege kein faktischer Abschiebeschutz zukommt. Die Behebung eines nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 ergangenen Bescheides des BFA kommt daher dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen nach § 12a Abs. 3 AsylG 2005 nicht vorliegen und dem Fremden, der einen Folgeantrag gestellt hat, faktischer Abschiebeschutz nach § 12 Abs. 1 AsylG 2005 zukommt. Darauf hat das BVwG seine Entscheidung jedoch nicht gegründet, sondern sich darauf gestützt, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht bejaht werden könnten. Eine Prüfung, ob dem Mitbeteiligten faktischer Abschiebeschutz nach § 12a Abs. 3 AsylG 2005 nicht zukommt und ob das BFA gegebenenfalls zu Recht ausgesprochen hat, dass die Voraussetzungen der Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 nicht vorlägen, hat das BVwG dagegen unterlassen. Das BVwG hat daher insoweit die Rechtslage verkannt.

16       Hingewiesen sei auch darauf, dass die Verfahrensbestimmungen nach § 22 Abs. 10 AsylG 2005 und § 22 BFA-VG sich nach ihrem klaren Wortlaut nur auf Entscheidungen über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 beziehen. Eine solche Entscheidung war - wie dargestellt - nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens des BVwG. Daher kam - entgegen der erkennbaren Annahme des BVwG - auch die Anordnung des § 22 Abs. 10 letzter Satz AsylG 2005, wonach über eine Aufhebung des Abschiebeschutzes in Beschlussform zu entscheiden ist, nicht zur Anwendung. Das BVwG hätte daher, soweit es über die Beschwerde des Mitbeteiligten in der Sache entscheidet und damit den dem Beschwerdeverfahren zugrundeliegenden Gegenstand erledigt, seine Entscheidung gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG in Form eines Erkenntnisses zu treffen gehabt (vgl. zur Abgrenzung zwischen Erkenntnissen und Beschlüssen etwa VwGH 5.10.2016, Ra 2016/19/0208).

17       Das angefochtene Erkenntnis war somit in dem sich aus dem Spruch jeweils ergebenden Umfang einerseits gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und andererseits gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufzuheben.

Wien, am 3. Dezember 2020

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190191.L00

Im RIS seit

02.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.02.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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