TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/5 W161 2230322-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.10.2020
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Entscheidungsdatum

05.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §15b Abs1
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W161 2230322-1/8E

W161 2230321-1/8E

W161 2230320-1/7E

W161 2230319-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. am XXXX , 2.) XXXX , geb. am XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. am XXXX und 4.) mj. XXXX , geb. am XXXX , 3.) und 4.) gesetzlich vertreten durch die Kindesmutter XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.02.2020, Zlen.: 1.) 1241839508/190818587, 2.) 1249850403/200090126, 3.) 1249850610/200090134 und 4.) 1249850501/200090142, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.08.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) reiste im August 2019 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 09.08.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung am selben Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF1 an, er heiße XXXX und sei in Herat geboren. Er sei verheiratet, seine Muttersprache sei Dari. Er bekenne sich zum sunnitischen Islam und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Er habe vier Jahre die Grundschule besucht und keine Berufsausbildung. Zuletzt habe er als Gerber gearbeitet. Im Herkunftsland würden noch seine Eltern und seine Schwester leben. Eine Schwester lebe im Iran, ein Bruder lebe in Deutschland, ein anderer Bruder in Frankreich. Der Aufenthaltsorte seiner Frau und seiner beiden Kinder sei ihm nicht bekannt, er habe sie zuletzt in Serbien gesehen. In Afghanistan habe er in Herat gelebt. Er habe Afghanistan gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn im Oktober 2016 in den Iran verlassen. Dann seien sie weiter in die Türkei, nach Griechenland und Serbien gereist. Vor ihrer Einreise nach Österreich seien sie zwei Jahre in Serbien (in einer Flüchtlingsunterkunft) aufhältig gewesen. Dort sei auch seine Tochter geboren worden.

Zu seinem Fluchtgrund gab der BF1 an, er habe seine Heimat verlassen müssen, da zwei Halbbrüder aufgetaucht seien. Der Vater habe offenbar - bevor er seine Mutter geheiratet habe - eine andere Frau gehabt, davon hätte er aber nichts gewusst. Die erwachsenen Halbbrüder würden nun einen Anspruch auf das Erbe des Vaters erheben. Sie hätten den Vater bedroht und ihm gesagt, dass sie sich rächen würden, wenn er ihnen nichts gäbe. Zudem sei die Sicherheitslage in Afghanistan schlecht.

2. Am 13.08.2019 wurde der BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab an, nicht in ärztlicher Behandlung zu stehen. Er habe sämtliche Dokumente auf seiner Reise nach Österreich verloren. Zwei Schwägerinnen würden in Österreich leben. Zu seiner Familie in Afghanistan habe er keinen Kontakt.

3. Am 24.10.2019 fand eine weitere Einvernahme des BF1 vor dem BFA in der Sprache Dari statt.

Der BF1 führte aus, dass sich seine Ehefrau und die beiden minderjährigen Kinder in einem Flüchtlingscamp in Ungarn befänden.

Zu seinem Gesundheitszustand gab er an, dass er gesund sei und seit zwei Tagen Medikamente zur Beruhigung bzw. für den Schlaf einnehme. Sonst benötige er keine ärztliche Behandlung. Den Namen der Medikamente wisse er nicht.

Die Erstbefragung sei ihm nicht rückübersetzt worden, es gäbe Probleme mit seinem Namen, aber er selbst könne es nicht lesen. Er heiße XXXX I . Auch in der Erstbefragung habe er angegeben XXXX zu heißen, aber es sei zu einem Missverständnis gekommen und sei Omed geschrieben worden.

Zu seinem Leben in Afghanistan gab er an, fünf Jahre die Schule in Herat besucht zu haben. Er habe immer in Herat gelebt, sei aber ab und zu in den Iran gereist um zu arbeiten (etwa zwei Jahre lang). Er habe als Verkäufer gearbeitet, sein Vater sei Schuhmacher gewesen. Nach der Schule sei er etwa 7-8 Jahre lang mit seinem Vater in ihrem Schuhmachergeschäft gewesen. Danach (vor ca. 10 Jahren) habe er mit seinem Onkel ein Lebensmittelgeschäft in Herat eröffnet. Dort sei er bis zu seiner Flucht tätig gewesen. Er sei nur traditionell verheiratet. Seine Eltern und die Schwester würden in Herat an derselben Adresse leben. Die Eltern hätten ein eigenes Haus, auch die Schwester würde mit ihrem Ehemann in einem eigenen Haus leben. Die Schwester und zwei Brüder würden den Eltern helfen. Er habe mit seiner Frau in derselben Gegend in einem eigenen Haus gelebt. Das Haus sei beim Onkel zurückgelassen worden, da der Vater von der Ausreise nichts gewusst habe. Zuletzt habe er vor ca. zwei Jahren Kontakt zu seinen Angehörigen gehabt. Damals sei es ihnen gut gegangen. Der BF1 habe zudem noch sieben Onkel die ebenfalls in Herat leben würden. Befragt, ob der Vater noch in der Schuhmacherei arbeite, gab der BF1 an, dass dieser schon alt sei. Das Lebensmittelgeschäft des Onkels dürfte noch da sein.

Zu seinen Fluchtgründen führte der BF1 wie folgt aus:

„Wir - ich und mein Vater- hatten Probleme mit denn Stiefbrüdern. Mein Vater hat zweimal geheiratet und wir hatten Probleme mit meinen Stiefbrüdern. Meine Stiefmutter stammt aus der Kandahar-Provinz. Mein Vater hat meine Stiefmutter verlassen. Das war vor der Heirat mit meiner Mutter. Mein Vater hat meine eigene Mutter vor ca. 50 Jahren geheiratet.

F: Hatte Ihr Vater mit der ersten Ehefrau Kinder und hat er sich scheiden lassen?

A: Ja, Sie hatten 2 Söhne. Ja, er hat sich scheiden lassen.

A: Nach der Scheidung ist die Stiefmutter gestorben. Die Stiefbrüder kamen zu meinem Vater und verlangten (ihr) Erbe. Das war vor ca. 4 Jahren. Dann habe ich meinem Vater gesagt, dass er das Erbproblem mit den Stiefbrüdern lösen soll. Dass er eine Frau hatte und sich scheiden ließ, betreffe nicht uns. Nach diesem Gespräch bin ich nach Hause gekommen. Meine Stiefbrüder wohnen in Kandahar. Sie sind zu meinem Vater nach Herat gekommen, um das Erbthema zu besprechen. Mein Vater hat meinen Stiefbrüdern gesagt, dass diese sich damals für Ihre Mutter entschieden haben und sie hätten keinen Anspruch auf ein Erbe. Meine Stiefbrüder haben mit dem Vater gestritten. Die Stiefbrüder drohten meinem Vater. Wir haben diese Drohungen nicht ernst genommen und weite gelebt. Aber nach einem Monat als ich im Geschäft war, bekam ich einen Anruf meiner Ehefrau. Sie sagte, ich müsse sofort nach Hause kommen. Ich bin sofort nach Hause gekommen. Als ich ankam, war die Haustüre zugesperrt. Ich konnte nicht hinein. So bin ich über die Mauer hinein. Ich bin zu einem Zimmer, wo ich die Stimme meiner Frau hörte. Ich sah, dass das Geschirr durcheinander war, einiges (war) kaputt. Ich hörte die Stimme meiner Frau, sie schrie und sagte, dass ich die Zimmertür öffnen sollte. Meine Frau war in schlechtem Zustand. Ihre Hände waren gefesselt und der Mund zugeklebt. Aber Sie konnte mich irgendwie anrufen und ich habe die Stimme erkannt. Als ich die Frau in diesem Zustand sah, war ich schockiert, habe ich mich selbst geschlagen und wusste nicht, was tun. Ich habe Ihre Hände entfesselt, auch den Mund. Dann habe ich Sie zugedeckt mit Kleidung. Ich persönlich habe Niemandem in Afghanistan Schaden zugefügt, auch nicht im Iran. Ich habe meine Frau gefragt, was passiert wäre. Anfangs dachte ich an einen Raub. Sie erzählte, dass Sie zuhause war, in der Küche zu kochen. An der Tür hatte es geklingelt. Als Sie zur Tür kam, hat sich jemand mit dem Namen XXXX und als mein Stiefbruder vorgestellt. Sie öffnete die Tür und XXXX kam mit einem zweiten Mann, attackierte meine Frau und fesselte und stellte sie ins Zimmer. Anm.: AW unterbricht 1-2x die Erzählung den Tränen nahe. Ich schäme mich, weiter darüber zu sprechen. XXXX hat meine Frau vergewaltigt und der andere Mann hat ein Video aufgenommen. Dann erzählten Sie meiner Frau, wenn Sie darüber andere informieren würde, würden Sie das aufgenommen Video veröffentlichen. Dann sind wir ca. 2-3 Stunden in unserem Haus geblieben. Dann haben wir entschieden, zu unserem Onkel, der unser Schwiegervater ist, zu gehen. Meine Frau erzählte über diesen Vorfall ihrem Vater. Ich selbst konnte diesen Vorfall nicht meiner Familie, insbesondere Vater, erzählen, da ich Angst hatte, dass es dadurch zu einem Vorfall, einen Streit kommen würde. Mein Onkel sagte, ich solle es nicht meinem Vater erzählen, sonst gäbe es weitere Probleme. Meine Frau hatte Angst, da die zwei Leute, welche zu uns kamen, auch eine Waffe mithatten. Während des Angriffs bedrohten Sie meine Frau, wenn Sie mit anderen darüber spreche, würden Sie meine Familie umbringen. Mein Onkel sagte mir, wenn ich zu einem anderen Ort in Afghanistan umziehe, würden Sie es rausfinden und es könnte wieder gefährlich werden. Deshalb mussten wir das Land verlassen und in den Iran gehen. Die Leute aus Kandarhar sind gefährlich und hatten lange Bärte, typische Turban. Dann habe ich 2 Nächte bei meinem Schwiegervater verbracht und bin in den Iran gereist. Das war es. Meine Frau möchte nie wieder zu unserem Haus gehen.

F: Haben Sie sämtliche Gründe, die Sie veranlasst haben, Ihr Herkunftsland zu verlassen, vollständig vorbringen können?

A: Ja, das war alles.

F: Wie hießen die 2 Brüder, wie alt?

A: XXXX und XXXX , Alter weiß ich nicht.

F: Alter cirka?

A: Ich habe die Brüder nie gesehen.

F: Wo lebten die Brüder die letzten ca. 20-50 Jahre?

A: Sie lebten in Kandarhar, sicher nicht in Herat

F: Wann haben Sie erfahren, dass Sie Brüder haben?

A: Beim Vorfall vor ca. 4 Jahren.

F: Was verlangten die Brüder konkret von Ihrer Familie?

A: Ihr erstes Verlangen war, warum der Vater deren Mutter verlassen hätte. Und Sie wollten einen Teil des Hauses, wo der Vater wohnte, als Erbe beanspruchen.

F: Wie hat Ihr Vater darauf reagiert?

A: Mein Vater erzählte denen, dass damals Ihre Mutter sie beide von ihm weggenommen hätte und er hatte mit ihr nichts zu tun. Sie drohten meinem Vater.

F: Warum befindet sich Ihr Vater noch in Afghanistan?

A: Mein Vater ist alt, meine Mutter ist alt. Ich weiß nicht, wo sie hingehen sollten?

F: Sie gaben früher an, in Griechenland Kontakt mit den Verwandten gehabt zu haben. Mit Ihrem Vater nicht?

A: Ich hatte mit dem Vater Kontakt in Griechenland.

F: Haben Sie Ihren Vater nicht gefragt, wie es ihm geht, wie die Lage mit den Brüdern ist?

A: Mein Vater hat über den Vorfall nichts gewusst. Er hat auch nichts erwähnt darüber im Telefonat. Mein Onkel hat den Vorfall vor dem Vater nicht erwähnt.

F: Worüber haben Sie bei Ihren Kontakten in Griechenland mit dem Vater gesprochen?

A: Ich habe über meine Mutter gefragt, über seine Gesundheit gefragt, und wie es den anderen geht. Und ihm gesagt, wir wären spontan in den Iran gereist.

F: Ihr Vater merkt, sein Sohn und dessen Familie haben Afghanistan über Nacht verlassen, die Brüder verlangen das Erbe vom Vater. Und das ist kein Thema bei Ihrem Gespräch?

A: 1. wollte ich nicht meine Geschichte meinem Vater erzählen, 2. Hatte er schon das Problem mit den Brüdern erwähnt, Sie hätten ihn nochmals bedroht und ich habe gesagt, er soll das Problem lösen.

F: Wie hat Ihr Vater es gelöst?

A: Die Brüder sind nicht noch einmal gekommen, sagte mein Schwiegervater meiner Frau.

F: Wie haben Sie ihrem Vater begründet, warum Sie spontan, über Nacht, ohne den Vater zu informieren, mit Familie Ihr Haus verließen und ohne Rückkehr in den Iran reisten?

A: Ich sagte meinem Vater, ich hätte Probleme mit der Frau gehabt hätte und deshalb das Land verlassen hätte. Ich denke, mein Onkel hat ihm über den Vorfall erzählt und mein Vater getraute sich nicht, über den schamvollen Vorfall zu sprechen.

F: Können Sie Ihr Vorbringen mit Beweismitteln untermauern, ist der Vorfall irgendwo festgehalten?

A: ich habe nichts Konkretes an der Hand.

F: Wurden Sie selbst jemals konkret bedroht oder verfolgt?

A: Nein

F: Wurden Ihre Eltern nach der Flucht Ihrer Familie nochmals von den Brüdern bedroht?

A: 2-3x wurden Sie bedroht. Die Brüder sind zu meinem Vater gekommen und hat Streit gegeben. Ich wurde auch im Iran bedroht

F: Was wollten die Bedroher?

A: Wo immer wir wären, Sie würden uns finden und das Video veröffentlichen.

F. Was sollte der Sinn solch einer Bedrohung sein?

A: Das weiß ich nicht. Sie haben das Problem mit meinem Vater und wollen an mir Rache nehmen und schaden.

F: Haben die Brüder vom Vater ein Erbe bekommen?

A: Nein

F: Wo liegt dann der Sinn in einer Verfolgung Ihrer Person und Ihrer Frau?

A: Anm. AW wiedeholt voriges. Sie haben mich im Iran und auch der Türkei angerufen.

F: In Afghanistan gibt es kein Meldesystem. Warum haben Sie sich nicht in einer anderen Provinz niedergelassen?

A: Ich sprach darüber mit meinem Schwiegervater. Er sagte mir, dass Sie mich auch, wenn ich in einen anderen Ort in Afghanistan gehe, würden Sie mich finden.

F: Aber was wollten die Brüder denn von Ihnen?

A: Das weiß ich nicht. Sie hatten das Problem mit meinem Vater gehabt und mich benutzt, um Rache zu nehmen.“

Zu seinem Leben in Österreich gab der BF1 an, dass zwei Schwestern seiner Frau hier leben würden. Er habe mit ihnen Kontakt. Er besuche einen Deutschunterricht und beziehe Leistungen aus der Grundversorgung.

Im Zuge der Einvernahme brachte der BF1 folgende Unterlagen in Vorlage:

-        diverse Fotos seiner Familie;

-        diverse Dokumente betreffend seine Familie in Ungarn;

-        serbische Geburtsurkunde der BF4;

-        Suchantrag des Roten Kreuzes betreffend die Familie in Ungarn;

-        Unterlagen hinsichtlich des Besuches eines Deutschkurses des BF1;

-        Terminkarte betreffend künftige Integrationsmaßnahmen;

-        Zertifikat des BF1 für die Teilnahme an einer Remunerantentätigkeit.

4.1. Die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) stellte für sich und ihre beiden minderjährigen Kinder (Drittbeschwerdeführer und Viertbeschwerdeführerin, im Folgenden: BF3 und BF4) in Ungarn einen Antrag auf Familienzusammenführung und alle drei reisten im Jänner 2020 ins österreichische Bundesgebiet ein. Die BF2 stellte am 01.10.2019 für sich und ihre beiden minderjährigen Kinder Anträge auf internationalen Schutz.

In ihrer Erstbefragung am 23.01.2020 gab die BF2 an, in Herat geboren zu sein. Sie sei verheiratet, ihre Muttersprache sei Dari, sie spreche auch Farsi. Sie bekenne sich zum Islam und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Sie habe sie Grundschule besucht. Ihre Eltern und eine Schwester würden in Afghanistan leben. In Österreich würden zwei Schwestern sowie ihr Ehemann leben. In Afghanistan habe sie in Herat gelebt. Zu ihrem Fluchtgrund befragt, gab die BF2 an, dass sie mit ihrer Familie Afghanistan verlassen habe, weil ein Halbbruder ihres Mannes sie vergewaltigt habe.

4.2. Am 10.02.2020 fand eine Einvernahme der BF2 vor dem BFA in Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Die BF2 gab an, gesund zu sein und in Ungarn Antidepressiva genommen zu haben. In Österreich nehme sie diese nicht und fühle sich jetzt besser. Sie sei bisher auch noch nicht beim Arzt gewesen. Der BF3 sei in Herat geboren, die BF4 in Serbien. Beide Kinder seien gesund und würden keine Medikamente und keine ärztliche Behandlung benötigen. Ihr Schwiegervater besitze in Herat ein Grundstück und ein Haus. Sie oder ihre Familie würden nichts besitzen. Zu ihrer Integration in Österreich befragt, gab die BF2 an, noch keinen Deutschkurs zu besuchen, sie sei erst seit einer Woche in Österreich.

Zu ihrem Alltag in Österreich befragt, gab die BF2 wie folgt an:

„Ich bin mit meinen Kindern beschäftigt. Ich koche und putze und gehe auch mit den Kindern spazieren. Hauptsächlich beschäftige ich mich mit den Kindern.

LA: Inwiefern ist Ihr Alltag nun anders als in Afghanistan?

AW: Der Unterschied ist 100 Prozent. Nachgefragt wie ich das meine ist, dass ich mich hier frei bewegen kann. Ich kann alleine mit meinen Kindern vor die Tür gehen. In Afghanistan muss immer ein Mann dabei sein, hier in Österreich kann ich alleine hinausgehen, diese Freiheit habe ich in Afghanistan nicht. Wenn ich in Afghanistan zu meinen eigenen Eltern gehen möchte, muss sogar da mein Mann mich begleiten. Ohne Begleitung darf ich nicht einmal zu meinen Eltern gehen.

LA: Wann sind Sie in Österreich zuletzt alleine hinaus gegangen`?

AW: Gestern. Ich bin mit meinem Kind raus gegangen. Nachgefragt wohin ich ging, gebe ich an, dass ich zu einem kleinen Geschäft beim Bahnhof ging. Es ist ein Geschäft dass immer offen ist. Ich bin mit meinem Kind alleine dorthin gegangen und habe ich dort Knabberzeug für meine Kinder gekauft. Nachgefragt wo mein Mann derweilen war, gebe ich an, dass er mit dem einen Kind zu Hause war und ich mit dem anderen Kind einkaufen war.

LA: Mir ist aufgefallen, dass Sie kein Kopftuch tragen. Seit wann tragen Sie kein Kopftuch?

AW: Ich trage es nicht mehr, seit ich in der Türkei war. Nachgefragt ob es einen Grund dafür gibt, gebe ich an, dass ich immer meine Haare frei machen wollte, was ich in Afghanistan nicht durfte. Ich habe in der Türkei gesehen, dass es dort geht. Ich habe dann meinen Mann gefragt ob er mich das Kopftuch ablegen lässt. Er sagte ich könne machen was ich möchte.

LA: Können Sie mir kurz die Beziehung zu Ihrem Mann erklären: Lässt er Sie selbst frei entscheiden oder gibt er Ihnen Vorgaben wie Sie sich zu verhalten zu haben?

AW: Er vertraut mir sehr. Er lässt mich tragen was ich will und mich auch hingehen wo ich will ohne dass er nachfragt. In Afghanistan war er auch schon so. Ich durfte zu Hause alles machen was ich wollte. Ich konnte zu meinen Eltern gehen wann ich will. Er musste mich halt begleiten. Aber er hat mich da auch, soweit es dort möglich ist, frei entscheiden lassen.“

Weiters gab die BF2 an, lesen und schreiben zu können. Sie habe zwei Schwestern in XXXX , beide würden einen Konventionsreisepass besitzen und seien seit fünf Jahren hier. Sie würden in Kontakt stehen. Zu ihren Dokumenten befragt, gab sie an, dass sie ihre Tazkira am Weg von Serbien nach Ungarn verloren habe. Zu ihren Verwandten in der Heimat befragt, gab die BF2 an, dass ihre Eltern und ihre Schwester in Herat leben würden. Auch die Eltern, eine Schwester und ein Bruder ihres Mannes würden dort leben. Sie stehe mit ihrem Vater in Kontakt, mit der Familie ihres Mannes „nicht so viel“, dies wegen der Geschehnisse in Afghanistan. Sie habe immer in Herat gelebt. Ihr Mann auch, dieser habe aber für zwei Jahre im Iran gearbeitet. Er sei ein halbes Jahr im Iran gewesen, sei dann wieder zur Familie und dann wieder zurück. In der Zeit, wo der Mann im Iran gewesen sei, sei sie nicht alleine gewesen, sondern sei ihre Schwiegermutter bei ihr gewesen. Diese sei oft bei ihr gewesen, ab und zu sei auch der Schwiegervater da gewesen. Befragt, wie sie in der Zeit, als der Mann im Iran gewesen sei, etwa einkaufen gehen habe können, gab die BF2 an, dass der Schwiegervater (welcher auch ihr Onkel sei) manchmal mitgegangen sei. Ansonsten sei die Schwiegermutter gegangen, älteren Damen sei dies erlaubt. Sie habe in einem gemieteten Haus mit Hof gelebt. Zu ihrem Leben in Afghanistan führte die BF2 weiters aus, dass sie vier Jahre zur Schule gegangen sei. Eine Berufsausbildung habe sie nicht. Den Lebensunterhalt hätten sie durch das Lebensmittelgeschäft bzw. mit dem Geld des Mannes durch die Arbeit im Iran verdient. Die finanzielle Lage in Afghanistan sei gut bzw. mittelmäßig gewesen.

Für ihre Kinder würden die gleichen Fluchtgründe gelten.

Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die BF2 wie folgt an:

„Mein Schwiegervater, der auch mein Onkel ist, war, bevor er seine jetzige Frau geheiratet hat, verheiratet. Mit dieser Frau hatte er zwei Söhne. Nach einiger Zeit haben mein Onkel und dessen erste Frau sich scheiden lassen. Seine erste Frau ist mit den beiden Söhnen nach Kandah?r gegangen. Die Familien hatten niemals Kontakt zu einander. Wir kamen viel später zur Welt und habe nie Kontakt bestanden. Später hat mein Onkel seine jetzige Frau geheiratet, er hat die Mutter meines Mannes und weiterer Kinder geheiratet. Mein Onkel und dessen jetzige Frau sind die Eltern meines Mannes. Ich habe dann meinen Mann geheiratet. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Onkel schon vorher verheiratet war. Eines Tages kam mein Mann zu mir und sagte mir, dass sein Halbbruder bei seinem Vater (meinen Onkel) ist und er nun einen Teil des Erbes haben will. Mein Schwiegervater sagte zum Stiefsohn, dass sie nicht bekommen würden, weil sie mit der Mutter mitgingen und niemals Kontakt zu ihm hatte. Sie würden nicht bekommen vom Erbe. Darüber hat mein Mann mit mir gesprochen, dass es so war. Ich habe dann zu meinem Mann gesagt, dass er doch auch der Sohn ist und man es freundlich erledigen sollte und er auch etwas vom Erbe bekommen sollte. Der Sohn aus erster Ehe sagte zu meinem Schwiegervater, wenn er von der Erbschaft nichts bekommen würde, würde er uns nicht in Ruhe lassen und Rache nehmen. Der Sohn hat das gesagt und ist dann wieder weggegangen. Mein Ehemann kam jeden Tag aus dem Geschäft zu Mittag nach Hause um mit mir gemeinsam zu essen. Eines Tages hat jemand, zur Mittagszeit an die Tür geklopft. Ich dachte es wäre mein Mann, ich habe nicht auf die Stimme geachtet. Ich habe dann die Tür geöffnet. Ich habe die Tür aufgemacht und habe ich auf einmal gesehen, dass jemand hereingesprungen ist und hinter diesem noch jemand war. Zwei Personen sind herein „geplatzt“. Sie haben meinen Mund festgehalten (mit der Hand verschlossen) und mich ins Haus gezogen. Ich habe diese nicht gekannt, dachte ich noch es wären Diebe. Sie haben meine Hände gefesselt und meinen Mund mit der Hand zugehalten. Sie haben mich auf Sofa gedrückt und mir gesagt ich solle dort sitzen bleiben. Sie fragten mich ob ich sie kennen würde, ich habe den Kopf geschüttelt. Einer hat dann meinen Mund mit einem Tuch zugebunden. Er fragt mich ob ich ihn kennen würde. Er sagte mir, es wäre mein Halbcousin. Da merkte ich es war der Halbbruder meines Mannes. Er hat dann viel geschimpft und gesagt, dass wir sein Leben ruiniert hätten. Alles was an Vermögen ihnen gehören sollte, würde uns gehören und hätten wir sein Leben kaputt gemacht. Er hatte auch eine kleine Pistole mit. Der andere Mann war neben ihm, hat nur zugesehen, aber nichts gemacht. Er hat mich an den Haaren in das andere Zimmer gezogen, ich habe den Tod vor meinen Augen gesehen. Ich habe gedacht er würde auf mich schießen. Er hat mich dann aufs Bett geworfen, ich dachte er würde mich töten. Dann habe ich gesehen, dass der andere Mann das Handy herausnahm und alles gefilmt hat. (Anmerkung: AW weint) Es ist schwer für mich, ich habe noch niemandem davon erzählt.

Ich habe gedacht er schießt auf mich und tötet mich. Ich dachte nicht, dass er etwas anderes vorhat. Er sagte aber, er würde etwas anders machen. Er würde etwas machen worunter ich mein Leben lang leiden müsste. Ich habe versucht mich zu wehren und bin hin und her. Da ist auch eine Vase zerbrochen und habe ich mich dann an den Fingern verletzt. Es war vor drei Jahren. Er hat mich ausgezogen. Der andere hat gefilmt und hat er getan was er wollte. (Anmerkung: AW weint und wird beruhigt) Ich habe geschrien mit verbundenen Mund. Ich konnte aber nichts machen. Er hat mich bedroht, wenn ich der Polizei etwas erzählen würde, würde er meinen Mann und meine Kinder töten. Er hätte keine Angst jemanden zu töten. Er würde auch den Film veröffentlichen. Das ist in Afghanistan eine Schande für eine Frau. Ich habe mich so schlecht gefühlt. Er hat mit den Füßen alles kaputt gemacht, wie zB die Vase. Sie gingen dann weg und habe ich nicht gesehen, ob diese die Türe zu gemacht haben oder nicht. Ich ging dann ins andere Zimmer und wollte ich meinen Mann anrufen. Mittels der Vase, welche im Schlafzimmer kaputt ging, habe ich dann mit den Bruchstücken, dass Tuch zerschnitten und meine Hände befreit. Am Telefon sagte ich meinem Mann er müsste nach Hause kommen. Er sagte jetzt ginge es nicht. Ich habe dann geweint und fragte er was los wäre. Ich konnte nicht mehr weitersprechen und habe ich aufgelegt. Dann kam mein Mann rein, ich wusste nicht wie er rein kam. Ich habe ihm dann langsam erzählt, was geschah, er war dann schockiert. Er sagte wir könnten nicht hierbleiben, weil sie zurückkommen könnten. Wir sind dann zu meinem Vater gegangen. Der Mann hat mich so bedroht, egal wo ich wäre, würde er mich finden. Wir konnten der Polizei nichts sagen, er würde Rache nehmen. Mein Mann hat dann meinem Vater erzählt, dass sein Neffe mir das alles angetan hat. Meine Mutter hat geweint. Mein Vater sagte wir könnten es niemandem erzählen, weil in Afghanistan ja die Frau schuld ist. Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen vor lauter Angst. Am nächsten Tag sagte mein Vater wir könnten nicht hierbleiben, weil wenn er den Film veröffentlichen würde, wäre es schrecklich. Ich sagte dann ich würde in eine andere Stadt gehen. Mein Vater sagte er hätte einen Film und müsste ich das Land verlassen. Mein Vater sagte er würde mit einem Schlepper sprechen und uns in den Iran schicken.

Der Schlepper hat uns bis in den Iran begleitet. Mein Mann hat sich ja schon im Iran ausgekannt. Er hatte einen Freund in Teheran und sagte er wir sollten nach Teheran fahren. Mein Mann wollte im Iran bleiben, weil uns dort niemand kennen würde. Wir waren dann in Teheran beim Freund. Er fragte uns warum wir nicht schon vorher Bescheid gesagt hatten, dass wir im Iran leben wollen, er wusste nicht Bescheid. Wir waren dann 2 Tage im Iran, auf einmal hat das Handy meines Mannes geläutet. Er ist dann weggegangen und hat woanders telefoniert. Als er wieder kam, war er nervös. Ich fragte wer es war und er sagte mir, dass es sein Stiefbruder war. Dieser sagte ihm er würde wissen, dass wir im Iran sind. Mein Mann sagte aber er glaube er könnte uns im Iran nicht finden. Es war 6 oder 7 am Abend und hat er diesen Film dann meinem Mann geschickt. Mein Vater gab uns ein bisschen Geld und haben wir auch Geld vom Freund im Iran ausgeliehen, wir haben aber nichts gesagt was los war. Wir sagten ihm nur, dass wir in die Türkei müssten. Wir waren dann 7 oder 8 Tage im Iran und gingen dann in die Türkei. Als wir 5 oder 6 Tage in der Türkei waren, wurde mein Mann wieder angerufen. Wir haben dann unsere Nummer geändert, aber hat er uns immer gefunden. Mein Mann sagte dann, dass viele nach Griechenland gehen und wir das auch machen würde, weil er uns da nicht finden könnte.

LA: Kam nur ein Sohn oder beide Söhne zu Ihrem Schwiegervater um sein Erbe einzufordern?

AW: Nur ein Sohn kam zu meinem Schwiegervater. Nicht beide. Sein Name ist XXXX .

LA: Der andere kam nicht um sein Erbe einzufordern?

AW. Nein. Vom anderen weiß ich nichts. Es kam nur der ältere Bruder und habe ich nur von ihm gehört.

LA: Wie ist der Name des Anderen Bruders?

AW: XXXX (phon). Diesen habe ich nachgefragt niemals gesehen.

LA: Ich weiß es ist für Sie schwer darüber zu sprechen. Ich hätte trotzdem einige wenige Fragen zum Übergriff. Ist das in Ordnung?

AW: Es ist kein Problem für mich. Ich verstehe, dass Sie das fragen müssen.

LA: Wer war noch anwesend beim Übergriff?

AW: Es war ein Mann, ich kenne diesen aber nicht. Ich habe auch seine Stimme nicht gehört, er war ruhig.

LA: Wer genau hat Sie sexuell missbraucht?

AW: XXXX (phon)

LA: Wie hat Ihr Mann Sie gefunden?

AW: Ich war sehr müde und kraftlos. Ich konnte aber selbst meine Hände befreien und meinen Mund auch. Ich hatte eine Bluse an, schaffte es aber nicht meine Hose anzuziehen. Ich war nachgefragt im Wohnzimmer. Ich bin am Boden im Wohnzimmer gesessen.

LA: Wer in Afghanistan weiß von dem Übergriff auf Sie?

AW: Nur meine Eltern. Sonst niemand.

LA: Seit wann hat Ihr Ehemann sein Telefon?

AW: Erst seit er in Österreich ist.

LA: Haben Sie das Video noch, könnten Sie es mir zeigen?

AW: Nein wir haben es nicht mehr. Es war ein altes Handy. Zwischen Serbien und Ungarn hat er sein altes Handy verloren.“

In einem anderen Teil Afghanistans könne sie nicht leben, da dieser Mann sie bedroht habe und ihnen gesagt habe, dass er sie finden könne. Er habe sie sogar im Iran bedroht und könne sie daher in Afghanistan leicht finden. Auch sei das Risiko viel zu hoch, dass der Mann den Film veröffentliche. In Serbien hätten sie noch einmal den Schwiegervater angerufen, dieser habe gesagt, dass der Bruder noch einmal gekommen sei und die BF2 nicht wisse, welche Schande sie über die Familie gebracht habe. Sie hätten dem Schwiegervater erzählt, dass sie aus wirtschaftlichen Gründen Afghanistan verlassen hätten, deshalb würden sie auch den Kontakt zum Schwiegervater vermeiden. Wenn die Vergewaltigung nicht gewesen wäre, dann wären sie in Afghanistan geblieben, sonst hätten sie keinerlei Probleme gehabt. Wenn der Film veröffentlicht werde, könne sie dort nicht leben. Dies sei eine Schande. Sonst spreche nichts gegen eine Rückkehr nach Afghanistan.

Nach Erörterung der Länderfeststellungen, gab die BF2 an, dass Frauen in Afghanistan keine Rechte hätten. In Herat gäbe es viele Selbstmorde. Frauen würden unterdrückt werden. Frauen würden sich selbst anzünden und Männer den Frauen die Nase abschneiden, wenn sie sagen würden, dass sie „Schlampen“ seien. Sie habe dies in Herat erlebt. Ihr Mann und seine Familie seien nicht so traditionell. Sie habe aber andere Frauen gesehen wie diese dort leiden würden. Abschließend führte die BF2 aus, dass sie gerne hier in Ruhe und Freiheit mit ihren Kindern und dem Mann leben wolle. Nach der Rückübersetzung gab die BF2 noch an, das Haus in dem sie zur Miete gelebt hätten, habe ihrem Schwiegervater gehört, sie hätten ihm Miete bezahlt. Nun stehe das Haus leer, es gehöre dem Schwiegervater.

5. Mit Bescheiden vom 17.02.2020 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen, Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkte VI.).

Das BFA stellte fest, dass die BF Staatsangehörige Afghanistans seien, sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben bekennen und der Volksgruppe der Tadschiken angehören würden. Der BF1 und die BF2 seien traditionell verheiratet. Der BF1 habe fünf Jahre die Schule in Herat besucht, die BF2 habe vier Jahre die Schule in Herat besucht. Die Familie habe vor ihrer Ausreise in einem eigenen Haus in der Stadt Herat gelebt. Der BF1 habe fast sein gesamtes Leben in Herat gelebt, er sei auch im Iran gewesen, um zu arbeiten. Die BF2 sei Hausfrau gewesen. Der BF1, die BF2 und der BF3 seien im Oktober 2016 aus Afghanistan ausgereist und hätten sich etwa drei Jahre lang in Serbien aufgehalten. Die BF4 sei im Zuge der Flucht in Serbien geboren worden. Der BF1 sei in Serbien von seiner Familie getrennt worden und habe im August 2019 einen Asylantrag in Österreich gestellt. Die BF2, der BF3 und die BF4 hätten dann noch bis zur Familienzusammenführung in einem Camp in Ungarn gelebt.

Die belangte Behörde zog folgende Staatendokumentationsanfragen in ihre Entscheidung mit ein:

-        „Frauen in urbanen Zentren“ vom 18.09.2017;

-        „Bildungsmöglichkeiten für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif“ vom 06.05.2019;

-        „Schulbesuch, Schulsystem“ vom 24.10.2017;

-        „Sicherheitslage für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif“ vom 09.05.2019;

-        „AFG-Kinderschutzprogramme“ vom 03.05.2019.

Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass eine Verfolgung durch die Halbbrüder des BF1 wegen Erbstreitigkeiten nicht glaubhaft sei. Auch die Angaben der BF1, wonach diese von einem Halbbruder sexuell missbraucht worden sei, seien nicht glaubhaft gewesen. Der BF1 habe zu seinen Fluchtgründen vage bzw. ungenaue Angaben gemacht und habe der BF1 den sexuellen Missbrauch in seiner Erstbefragung mit keinem einzigen Wort erwähnt. Es würden sich aber auch die Angaben des BF1 und der BF2 zu der Verfolgung der Halbbrüder aufgrund der Erbstreitigkeiten sowie zur Vergewaltigung der BF2 massiv widersprechen. Selbst bei Wahrunterstellung, dass die Halbbrüder tatsächlich ihr Erbe verlangt hätten, sei darauf zu verweisen, dass dies ein privater Konflikt und kein Asylgrund nach der GFK sei.

Betreffend eine westliche Orientierung der BF2 gab die belangte Behörde an, dass die BF2 keine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Die BF2 pflege zwar ein dem Integrationsprozess angepasstes Leben, es sei aber nicht ersichtlich, dass sich ihr Leben in Österreich wesentlich anders als in Afghanistan gestalte. Die BF2 würde sich hauptsächlich mit den Kindern beschäftigen, ihre Kontakte in Österreich würden vorwiegend zu anderen Asylwerbern bestehen. Aus ihren Angaben und ihrem Auftreten könne nicht entnommen werden, dass sie westlich orientiert sei. Selbst die Tatsache, dass sie kein Kopftuch mehr trage, ändere daran nichts.

Hinsichtlich Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der BF1 im väterlichen Schuhmachergeschäft gearbeitet habe, anschließend habe er die letzten 10 Jahre – bis zur Flucht – mit dem Onkel ein Lebensmittelgeschäft in Herat betrieben. Der BF1 sei jung und arbeitsfähig. Der BF1 sei dazu in der Lage, den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Zudem würden die BF über Verwandte in Afghanistan (Herat) verfügen, mit welchen regelmäßiger Kontakt bestehe und seien sie daher auch über das vorhandene soziale Netzwerk wirtschaftlich genügend abgesichert. Die BF könnten zudem Rückkehrunterstützung bekommen.

Die BF würden an keinen schweren Krankheiten leiden und könnten nach Herat zurückkehren. Herat sei relativ sicher und verfüge über einen Flughafen. Auch eine IFA in Mazar-e Sharif sei möglich und zumutbar. Mazar-e Sharif sei relativ sicher und verfüge ebenfalls über einen Flughafen.

Zur Rückkehrentscheidung wird im Bescheid der BF 2 angegeben, dass zwei Schwestern der BF2 in XXXX leben würden, es bestehe aber kein Abhängigkeitsverhältnis.

Auch sonst bestünden keine besonderen sozialen Kontakte in Österreich. Die erwachsenen BF seien nicht erwerbstätig und würden den Lebensunterhalt von der Grundversorgung bestreiten. Der BF1 besuche einen Deutschkurs und bemühe sich, die Sprache zu erlernen. Die minderjährigen BF würden gemeinsam mit ihrer Kernfamilie nach Afghanistan zurückkehren. Der BF3 besuche in Österreich keine Schule Eine besondere Integrationsverfestigung liege nicht vor.

6. Gegen diese Bescheide brachten die BF gleichlautende und vollumfängliche Beschwerden ein. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Halbbrüder des BF1 ihr Erbe eingefordert hätten, der Vater des BF1 aber nicht bereit gewesen sei, ihnen das Erbe zu geben und die Halbbrüder daraufhin den BF1 und die BF2 bedroht hätten. Als sich der BF1 geweigert hätte, einen Anteil des Erbes zu überlassen, sei die BF2 von einem Halbbruder vergewaltigt worden. Mittlerweile hätten die BF die westliche Lebensweise angenommen, die BF2 trage kein Kopftuch mehr und habe die Freiheiten wie alleine hinaus zu gehen, außerhalb des Familienverbandes zu lernen und zu arbeiten, verinnerlicht. Auch für den BF1 sei es sehr wichtig, ohne soziale Kontrolle leben zu können. Der BF1 sei nicht religiös und habe nun die Freiheit zu entscheiden, ob er einer Religionsgemeinschaft angehören wolle oder nicht. Besonders wichtig sei den BF, dass die BF4 eine Schule besuchen dürfe und ihr Leben selbstbestimmen könne. Die BF hätten aus wohlbegründeter Furcht ihr Heimatland verlassen und würde ihnen bei einer Wiederansiedelung eine Verfolgung aufgrund der ihnen unterstellten oppositionellen, politischen Gesinnung drohen. Eine IFA stehe ihnen nicht zur Verfügung. Die belangte Behörde habe keine hinreichenden Berichte über die Lage von rückkehrenden Flüchtlingen, die in Konflikt mit staatlichen Behörden stehen würden, zugrunde gelegt. Zudem würden Berichte zur konkreten Sicherheits- und Versorgungslage sowie zur konkreten Situation der BF fehlen. Auch die Beweiswürdigung der Behörde sei mangelhaft bzw. unschlüssig. Die BF hätten zu den aufgegriffenen Widersprüchen befragt werden müssen, dann hätten diese leicht aufgeklärt werden können. Das BFA habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt und den Grundsatz des Parteiengehörs verletzt. Den BF drohe eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie. Den BF stehe auch keine IFA zur Verfügung und wurde dazu ua. auf die Studie Stahlmanns, die UNHCR-Richtlinien und den EASO-Bericht von Juni 2019 verwiesen. Den BF hätte Asyl, ansonsten subsidiärer Schutz gewährt werden müssen. Auch eine Rückkehrentscheidung sei nichts zulässig, zumal die BF um eine Integration in Österreich sehr bemüht seien

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 05.08.2020 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF1 und die BF2 zu ihren Fluchtgründen, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat, ihrer Integration und zu ihrem Nachfluchtgrund befragt wurden. Vor der Verhandlung wurde das LIB zu Afghanistan (Stand: 18.05.2020) ausgeschickt, in der Verhandlung wurden mit den erwachsenen BF die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, der EASO Bericht von April 2019 sowie die aktuelle Kurzinformation der Staatendokumentation zu COVID-19 vom 21.07.2020 erörtert und in die Verfahren einbezogen.

Im Zuge der Verhandlung brachten die BF folgende Unterlagen in Vorlage:

-        Beiblatt zum Dienstleistungsscheck des BF1 und der BF2;

-        Terminkarte der BF2 vom ÖIF, wonach diese bei diversen Kursen vorgemerkt sei;

-        Terminkarte des BF1 vom ÖIF, wonach dieser einen Werte- und Orientierungskurs, den Vertiefungskurs „Arbeit und Beruf“ sowie „Umwelt und Nachbarschaft“ beendet habe;

-        Bestätigung bzw. Empfehlungsschreiben einer freiwilligen Deutschlehrerin, wonach die Familie seit Juni 2020 regelmäßig an einem Deutsch-Unterricht (A1) teilnehme. Zudem habe die BF2 auch an Gesprächskursen, einer Exkursion sowie einem Kinderkonzert teilgenommen und gemeinsam mit dem BF1 vier Stunden ehrenamtlich gearbeitet (Unkrautjäten an einer Autobahn). Die BF2 mache auch auf Basis von Dienstleistungsschecks regelmäßig mehrere Stunden pro Woche Gartenarbeit, wobei auch der BF1 sie dabei unterstütze;

-        Bestätigung bzw. Empfehlungsschreiben einer freiwilligen Deutschlehrerin, wonach der BF1 an Gesprächskursen sowie einem Sozialprojekt (Altkleidersammlung für zwei Stunden) teilgenommen habe und auch seine Frau bei verschiedenen Aktivitäten unterstützt habe bzw. als freiwilliger Helfer tätig gewesen sei;

-        Empfehlungsschreiben, wonach die erwachsenen BF sich gut eingelebt hätten, getrennt und selbstständig einkaufen gehen würden, Arztbesuche machen und Freunde treffen würden. Sie würden auch in einem Kleiderlager helfen und zu Haue bei der Gartenarbeit helfen;

-        Empfehlungsschreiben der Unterkunftgeber, wonach die Familie sehr hilfsbereit sei und der BF1 schon mit den Nachbarn im Ort gute Kontakte aufgebaut habe;

-        Nachweis, wonach der BF1 im November 2019 in einer Einrichtung der Caritas freiwillig tätig gewesen sei (Sortierung, LKW-Verladen);

-        Bestätigung, wonach der BF3 im Schuljahr 2019/20 den Unterrichtsgegenstand „Deutsch als Zweitsprache“ besucht und mit „Sehr gut“ abgeschlossen habe;

-        Schulbesuchsbestätigung des BF3 als außerordentlicher Schüler für das Schuljahr 2019/20 (2. Klasse, 6. Schulstufe einer Musikmittelschule, von 18.03.2020 bis 10.07.2020).

8. Am 14.08.2020 brachten die BF eine Stellungnahme ein. Darin wird ausgeführt, dass laut den UNHCR-Richtlinien „Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen“ eine Verfolgung und Gewalt bis hin zum Tod, primär durch regierungsfeindliche Gruppierungen drohen würde und staatliche Einrichtungen keinen angemessenen Schutz bieten würden. In einem aktuellen Gutachten von Dr. Rasuly vom 16.06.2020 werde ausgeführt, dass Frauen auch in der Stadt Kabul nicht alleine außer Haus gehen könnten und stets der Begleitung eines männlichen Angehörigen bedürften. In moderner Kleidung könnten sich Frauen in Afghanistan nicht kleiden und sei in den aktuellen Friedensversammlungen mit den Taliban von diesen die Bedingung gestellt worden, die Rechte der Frauen noch weiter einzuschränken. Die BF2 wäre bei einer Rückkehr mit einer prekären Sicherheitslage konfrontiert, zumal für Frauen in weiten Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko bestehe, Eingriffe in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Sie wäre im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt, unmittelbaren Einschränkungen und einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Die BF2 unterliege einer erhöhten Gefährdung in Afghanistan dieser Situation ausgesetzt zu sein, da sie sich als Frau nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition lebe, sondern sich mittlerweile eine Lebensführung angeeignet habe, die dem in der afghanischen Gesellschaft weiterhin vorherrschenden traditionell-konservativen Rollenbild der Frau widerstrebe. Für die BF2 sei eine Lebensweise, in der die Anerkennung und die Ausübung ihrer Grundrechte (Recht auf persönliche Freiheit, Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Bildung sowie Arbeit) zum Ausdruck komme, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie würde in Afghanistan als Frau wahrgenommen werden, die sich nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebene geschlechtsspezifische Rolle benehme und sei sie einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt. Die BF2 wolle sich fortbilden und einen Beruf ergreifen und wünsche sich auch ein selbstbestimmtes Leben für ihre Tochter. Sie wolle selbst über ihr Leben bestimmen, eigenständige Entscheidungen treffen und sich nicht dem Willen ihrer Familie beugen müssen. Sie trete selbstbewusst auf, kleide sich westlich nach ihren eigenen Vorstellungen. Sie schminke sich und trage ihr Haar offen, ohne Kopftuch. Bei Schwimmbadbesuchen trage sie einen Badeanzug. Die BF2 arbeite bereits auf Basis von Dienstleistungsschecks, sei freiwillig engagiert und lerne Deutsch. Sie lebe mit ihrem Mann in einer gleichberechtigen Partnerschaft, beide seien gleichermaßen in den Haushalt und die Kindererziehung miteinbezogen. Entscheidungen würden gemeinsam getroffen werden. Die Verwaltung der gemeinsamen Finanzen übernehme die BF2. Die von der BF2 angenommene und verinnerlichte Lebensweise wäre in Afghanistan nicht möglich und wäre sie im Falle der Rückkehr massiven Einschränkungen und Diskriminierungen, somit einer asylrelevanten Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der westlich orientierten Frauen ausgesetzt. Bei einer Rückkehrsituation sei auch das Kindeswohl des BF23 und der BF4 in die Erwägung miteinzubeziehen. Dem EASO-Bericht von Juni 2018 sei zu entnehmen, dass Kinder in Afghanistan der Gefahr von Kinderarbeit, der Zwangsrekrutierung oder der Gefahr von willkürlicher Gewalt ausgesetzt seien. Auch bestehe aufgrund der volatilen Sicherheitssituation in ganz Afghanistan ein unzureichender Zugang zu Bildung (insbesondere für die BF4), dies insbesondere für Kinder von Rückkehrern. Kinder, welche sich an die Freiheiten und Unabhängigkeiten im Westen gewöhnt hätten, würden sich nur schwer wieder in Afghanistan zurechtfinden und Schwierigkeiten haben, sich an die sozialen Einschränkungen anzupassen. Zudem sei das Ausmaß der COVID-Krise in Afghanistan noch unbekannt, die Testkapazitäten seien eingeschränkt und generell die Situation anders als in Europa. Stahlmann führe aus, dass der Großteil der afghanischen Bevölkerung Vorerkrankungen aufweise und somit zur Risikogruppe zähle. Rückkehrer würden im Zusammenhang mit COVID stigmatisiert werden und würde eine medizinische Behandlung verweigert werden. Reisen nach bzw. in Afghanistan selbst seien derzeit nicht möglich. Der Preis von Grundnahrungsmitteln sei seit Beginn des Lockdowns signifikant gestiegen, insbesondere Tagelöhner in Afghanistan seien stark hungergefährdet. Zur Situation in Herat wird ausgeführt, dass die Strecke zwischen Flughafen und der Stadt von einem Warlord beherrscht werde und könne nicht von einer sicheren Erreichbarkeit ausgegangen werden. Auch sei es zu einem massiven Anstieg an krimineller Gewalt in der Stadt gekommen. Durch den starken Zuzug von IDPS und Rückkehrern hätten sich informelle Siedlungen gebildet und sei der dortige Zugang zur Grundversorgung stark eingeschränkt. Auch der Zugang zum Arbeitsmarkt ohne soziales Netzwerk sei nur sehr eingeschränkt möglich. Auch eine Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Kabul sei für die BF nicht zumutbar und sei den BF jedenfalls der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der BF:

Die genaue Identität der BF konnte nicht festgestellt werden.

Die BF sind Staatsbürger von Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Der BF1 und die BF2 haben in Afghanistan traditionell geheiratet. Sie sind miteinander verwandt (Cousins) und sind Eltern des in Afghanistan geborenen BF3 und der in Serbien (auf der Flucht) geborenen BF4.

Der BF1 wurde in der Stadt Herat geboren und lebte und arbeitete dort bis zu seiner Flucht. Er war jedoch für einen Zeitraum von etwa zwei Jahren im Iran aufhältig, um dort zu arbeiten. Er besuchte fünf Jahre lang die Grundschule und arbeitete in Herat im Schuhmachergeschäft des Vaters (als Verkäufer, Gerber), zuletzt – bis zu seiner Ausreise nach Europa – betrieb er mit seinem Onkel ein Lebensmittelgeschäft. Die Muttersprache des BF1 ist Dari, er spricht auch etwas Deutsch.

Die BF2 wurde ebenfalls in der Stadt Herat geboren und lebte dort bis zu ihrer Ausreise nach Europa. Sie besuchte in Afghanistan vier Jahre lang die Grundschule und kann lesen und schreiben. Die BF2 absolvierte keine Berufsausbildung und war in Afghanistan Hausfrau. Ihre Muttersprache ist Dari, sie spricht auch etwas Deutsch.

Der BF1, die BF2 und der BF3 reisten gemeinsam im Oktober 2016 aus ihrem Herkunftsstaat Afghanistan in den Iran und von dort weiter in die Türkei und Griechenland nach Serbien. Dort wurde die BF4 geboren. In Serbien wurde die Familie getrennt und der BF1 reiste alleine unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein. Er stellte am 09.08.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF2, der BF3 und die BF4 reisten in der Zwischenzeit weiter nach Ungarn, wo sie am 01.10.2019 einen Antrag auf Familienzusammenführung stellten. Im Jänner 2020 reisten die BF2, der BF3 und die BF4 schließlich in das österreichische Bundesgebiet ein.

Laut Angaben des BF1 leben noch seine Eltern sowie 2 Schwestern (samt Familie) in Afghanistan, in der Stadt Herat. Er hat auch noch 5 Onkel mütterlicherseits und 2 Onkel väterlicherseits. 2 Brüder leben im Ausland. Der Vater des BF1 ist besitzt in der Stadt Herat Häuser sowie Grundstücke. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF1 mit seinen Familienangehörigen in Afghanistan tatsächlich keinen Kontakt mehr hat.

Laut Angaben der BF2 leben noch ihre Eltern sowie 1 Schwester (samt Familie) in Afghanistan, Herat. Zwei Schwestern der BF2 leben in XXXX , 1 Bruder in Deutschland. Die BF2 steht mit ihren Familienangehörigen in regelmäßigen Kontakt.

Die BF sind allesamt gesund und wurden während des Verfahrens keine medizinischen Unterlagen in Vorlage gebracht.

1.2. Zum Leben der BF in Österreich:

Die BF befinden sich nach ihrer Asylantragstellung am 09.08.2019 bzw. am 01.10.2019 durchgehend in Österreich. Sie beziehen seit ihrer Einreise regelmäßig Leistungen aus der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.

Die erwachsenen BF haben in Österreich an Deutschkursen (Niveau: A1) in ihrer Unterkunft teilgenommen, Deutschzertifikate haben der BF1 und die BF2 nicht erworben.

Der BF1 verfügt nur über mangelhafte Deutschkenntnisse und konnte in der mündlichen Verhandlung an ihn gerichtete Fragen nicht beantworten.

Die BF2 ist dazu in der Lage sich in einfachen Sätzen auf Deutsch vorzustellen. Darüber hinaus weist sie wenig Deutschkenntnisse auf und versteht weitere an sie gerichtete Fragen nicht.

Der BF1 und die BF2 haben in Österreich Hilfstätigkeiten (Gartenarbeiten) via Dienstleistungschecks und ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt. Sie haben an diversen Veranstaltungen teilgenommen. Sie sind nicht Mitglieder in Vereinen oder sonstigen Organisationen. Der BF1 hat diverse Integrationskurse besucht, die BF2 ist für Kurse vorgemerkt.

In Österreich leben zwei asylberechtigte Schwestern der BF2 ( XXXX und XXXX samt deren Familien). Ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen den erwachsenen Schwestern oder ein gemeinsamer Haushalt besteht nicht, sondern machen die erwachsenen Schwestern mit ihren Familien nur gelegentlich gemeinsame Ausflüge.

Die BF verfügen in Österreich darüber hinaus über soziale Anknüpfungspunkte in Form eines Bekanntenkreises (Nachbarn) bzw. österreichische Freunde, welche die BF besuchen kommen. Die BF2 kümmert sich um ihre Kinder, geht einkaufen oder spazieren. Sie war auch schon mit ihrem Mann bzw. ihren Schwestern und deren Männern gemeinsam im Schwimmbad.

Der BF3 besucht in Österreich als außerordentlicher Schüler die Schule (Neue Mittelschule), die BF4 ist noch ein Kleinkind und befindet sich in Obhut der BF2.

Eine nachhaltige Integration der BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden.

Die erwachsenen BF sind strafgerichtlich unbescholten, die minderjährigen BF3 und BF4 sind strafunmündig.

1.3. Zu den Fluchtgründen der BF:

Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen der BF nicht festgestellt werden, dass diese in Afghanistan aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurden. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan sind die BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.

Es ist nicht glaubwürdig, dass zwei Halbbrüder des BF1 vom gemeinsamen Vater ihr Erbe einfordern wollten, sie das Erbe vom Vater nicht bekommen und sie deshalb den BF1 bzw. dessen Vater asylrelevant bedroht oder verfolgt hätten. Weiters ist nicht glaubwürdig, dass einer der Halbbrüder die BF2 sexuell missbraucht hätte. Abgesehen davon, dass das Vorbringen zum fluchtauslösenden Ereignis nicht glaubhaft ist, wäre es auch nicht geeignet, eine asylrelevante Bedrohung bzw. Verfolgung aufzuzeigen.

Bei der BF2 handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Wie bereits oben festgestellt, spricht die BF2 zum Entscheidungszeitpunkt nur wenig Deutsch und hat bisher keine Deutschprüfung abgeschlossen. Sie kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder. Auch in Afghanistan war sie nicht berufstätig sondern Hausfrau. Sie bewegt sich in einem sehr kleinen Radius in Österreich.

Es konnte nicht glaubhaft dargelegt werden, dass die BF2 während ihres relativ kurzen Aufenthaltes in Österreich eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass es den minderjährigen BF3 und BF4 unmöglich oder unzumutbar wäre, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die minderjährigen BF3 und BF4 auf Grund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan physische und/oder psychische Gewalt droht und sie deswegen einer Verfolgung ausgesetzt wären.

In Afghanistan besteht Schulpflicht und haben auch der BF1 und die BF2 in Afghanistan die Schule besucht, weshalb davon auszugehen ist, dass die erwachsenen BF ihren Kindern eine grundlegende Bildung zukommen lassen werden.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

Den BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan in ihre Heimatstadt Herat kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Eine Rückkehr der BF in ihre Herkunftsprovinz Herat ist möglich und zumutbar. Die BF können Herat sicher mit dem Flugzeug von Österreich erreichen.

Die BF können in der Stadt Herat ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der BF1 und die BF2 sind in der Stadt Herat geboren und aufgewachsen. Sie haben dort den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht und haben ihre Sozialisation daher in Afghanistan erfahren. Sie sind mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Auch der BF3 wurde in Herat geboren, hat dort bis etwa zu seinem neunten Lebensjahr gelebt und hat in Herat bereits die Schule besucht. Der BF1 hat den Lebensunterhalt seiner Familie in Afghanistan erfolgreich bestreiten können. Die BF sind gesund und haben noch familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan, da zahlreiche Familienangehörige nach wie vor in der Stadt Herat aufhältig sind. Da der BF1 über langjährige Berufserfahrung im Schuhgeschäft seines Vaters verfügt und er bis zu seiner Ausreise ein Lebensmittelgeschäft mit seinem Onkel betrieben hat bzw. der Vater des BF1 nach wie vor ein Haus sowie Grundstücke in der Heimat besitzt, ist die finanzielle Situation daher gesichert.

Es ist somit kein Grund ersichtlich, warum eine Wiederansiedelung der BF in ihrer Heimat nicht möglich sein sollte. Insbesondere sind auch die beiden Kinder, die derzeit 12 und 3 Jahre alt sind, gesund und ist kein Grund ersichtlich, warum diese nicht gemeinsam mit den Eltern in der Stadt Herat leben können. Eine medizinische Versorgung ist in der Stadt Herat vorhanden. Den BF wäre daher der (Wieder-) Aufbau einer Existenzgrundlage in Herat möglich, zumal sie dort familiären Anschluss haben. Die BF hätten zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Insbesondere wurden auch keine Faktoren glaubhaft gemacht und haben sich solche auch sonst im Verfahren nicht ergeben, die eine Gefahrenverdichtung in den Personen des BF3 oder der BF4 aufgrund ihrer Minderjährigkeit darstellen. Es besteht für sie aufgrund ihrer Minderjährigkeit insbesondere keine erhöhte Gefahr, zivile Opfer von Angriffen Aufständischer oder sonstigen Auseinandersetzungen zu werden. Es ergeben sich im Hinblick auf die familiäre Situation auch keine Hinweise, dass die minderjährigen Kinder Gefahr laufen würden, Opfer von Gewalt, Missbrauch oder Kinderarbeit zu werden.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Kurzinfo vom 21.07.2020), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 und den EASO-Bericht zu Afghanistan von April 2019 werden folgende entscheidungsrelevante, die Person der BF individuell betreffende Fest

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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