TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/11 Ra 2020/18/0147

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Veröffentlicht am 11.11.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §58
AVG §60
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §29

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2020, W224 2207026-1/8E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: S A), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Die Mitbeteiligte, eine syrische Staatsangehörige kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit aus Al-Hasaka, stellte am 5. Juli 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 22. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Mitbeteiligten aber den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der gegen Spruchpunkt I. des Bescheides gerichteten Beschwerde der Mitbeteiligten statt, erkannte ihr den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4        Begründend stellte das BVwG fest, dem Bruder der Mitbeteiligten sei der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden. Dadurch erwecke die Mitbeteiligte bei den syrischen Behörden den Eindruck, dass es sich bei ihrer Person ebenfalls um eine oppositionell Gesinnte handle, zumal auch alle anderen Familienmitglieder Syrien verlassen hätten und Familienmitgliedern (vermeintlich) Oppositioneller oftmals eine gleichartige Gesinnung zugeschrieben werde.

5        In der Beweiswürdigung führte das BVwG zusammengefasst aus, aus den Feststellungen gehe hervor, dass Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl angesucht hätten, bei ihrer Rückkehr gerichtlich belangt worden seien, Oppositionellen sowie deren Verwandten Verhaftungen und Repressionsmaßnahmen drohten und auch Familien von Wehrdienstverweigerern mit Konsequenzen zu rechnen hätten. Die Feststellung, dass der Mitbeteiligten im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungssituation drohe, stütze sich auf die Länderfeststellungen, aus denen sich ergebe, dass alle Arten von Gewalt gegen Frauen an Verbreitung und Intensität zugenommen hätten.

6        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision der belangten Behörde, in der zur Zulässigkeit vorgebracht wird, die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses entspreche nicht den in der Rechtsprechung aufgestellten Erfordernissen, weil die aufeinander aufbauenden Elemente (Feststellungen, Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung) in wesentlichen Punkten keinen Bezug aufeinander nehmen würden.

7        Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Amtsrevision beantragte.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9        Die Amtsrevision ist zulässig, sie ist auch begründet.

10       Dass einzelne Passagen in der Zulässigkeitsbegründung der Revision wortident auch in den Revisionsgründen zu finden sind, führt - entgegen dem Vorbringen der Mitbeteiligten - nicht dazu, dass die Revision unzulässig ausgeführt wäre.

11       Unter „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 29.1.2020, Ra 2019/18/0228, mwN).

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 19.6.2019, Ra 2018/18/0548 bis 0550, mwN).

13       Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:

14       Das BVwG ging zum einen davon aus, dass der Mitbeteiligten im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung aufgrund einer ihr unterstellten oppositionellen Gesinnung drohe und stützte diese Annahme im Wesentlichen darauf, dass ihr Bruder über den Status eines Asylberechtigten verfüge und sowohl ihre Familie als auch sie selbst Syrien verlassen hätten. Weshalb der Mitbeteiligten damit zusammenhängend eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden könnte, hat das BVwG jedoch nicht schlüssig dargelegt.

15       Aus den getroffenen Länderfeststellungen ergibt sich nämlich weder, dass jedem Rückkehrer, der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird, noch, dass Personen, deren Familienangehörigen im Ausland Asyl gewährt wurde, allgemein asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätten. Aufgrund welcher konkreten Umstände dem Bruder der Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, ergibt sich aus der Begründung des Erkenntnisses nicht.

16       Der Schlussfolgerung, dass der Mitbeteiligten aufgrund ihrer Angehörigeneigenschaft zu Wehrdienstverweigerern Verfolgung drohen könnte, mangelt es schließlich ebenfalls an entsprechenden Feststellungen, dass sich im Angehörigenkreis der Mitbeteiligten überhaupt Personen befänden, die den Wehrdienst im Herkunftsstaat verweigert hätten.

17       Sofern das BVwG weiters eine Verfolgung der Mitbeteiligten aufgrund ihrer Eigenschaft als alleinstehende Frau annahm, weist die Revision zu Recht darauf hin, dass sich den Feststellungen zu Frauen in den von Kurden kontrollierten Gebieten Syriens keine Gruppenverfolgung alleinstehender Frauen entnehmen lässt. Zur persönlichen Situation der Mitbeteiligten hat das BVwG hingegen wiederum keine ausreichenden Feststellungen getroffen, auf deren Basis die individuelle Rückkehrgefährdung der Mitbeteiligten beurteilt werden könnte.

18       Nach dem Gesagten ergeben sich die tragenden Überlegungen zum Sachverhalt, der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung nicht aus der Entscheidung selbst, weshalb sich die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof entzieht.

19       Das BVwG wird sich daher im fortgesetzten Verfahren im Rahmen einer mündlichen Verhandlung umfassend mit den von der Mitbeteiligten vorgebrachten Verfolgungsgründen auseinanderzusetzen und dazu entsprechende Feststellungen zu treffen haben.

20       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Wien, am 11. November 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180147.L00

Im RIS seit

04.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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