TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/7 W251 2186293-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.10.2020
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Entscheidungsdatum

07.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W251 2186293-1/22E

W251 2186296-1/22E

W251 2186298-1/22E
W251 2186291-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. XXXX alias XXXX , und 4.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Julian MOTAMEDI gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.01.2018 zu 1.) Zl. 1077530906-150836551, 2.) Zl. 1077531108-150836560, 3.) Zl. 1077531206-150836608, und 4.) Zl. 1077531206-150836608, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 07.10.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. und IV. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten – abgesehen vom Viertbeschwerdeführer – gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 11.07.2015 bzw. am 26.07.2016 (Viertbeschwerdeführer) die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Diese haben zwei leibliche Kinder, die Dritt- und den Viertbeschwerdeführer.

2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 11.07.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und er mit seiner Familie ein ruhiges Leben führen wolle. Er habe in Afghanistan als Taxifahrer gearbeitet und es sei nie sicher gewesen, ob er wieder nach Hause komme. Zudem hätten die Frauen in Afghanistan keine Rechte.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab als Fluchtgrund an, dass die Kinder in Afghanistan nicht in Sicherheit seien und Frauen keine Freiheit hätten.

3. Am XXXX wurde der Viertbeschwerdeführer in Österreich geboren. Er ist der Sohn des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin. Für ihn wurde mit Schriftsatz vom 21.07.2016, beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) eingelangt am 26.07.2016, ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

4. Mit Schriftsatz vom 06.05.2017 und 21.07.2017 legten die Beschwerdeführer Unterlagen betreffend ihre Integration in Österreich vor.

5. Am 07.11.2017 wurden der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin gaben zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass der Vater des Erstbeschwerdeführers gemeinsam mit seinem Bruder (Anm. BVwG: dem Onkel des Erstbeschwerdeführers) ein Grundstück gekauft habe. Ca. 40 Tage vor der Flucht der Beschwerdeführer aus Afghanistan sei der Onkel des Erstbeschwerdeführers verstorben. Bei seiner Beerdigung sei sein Sohn (Anm. BVwG: der Cousin des Erstbeschwerdeführers) zum Erstbeschwerdeführer und zu seinen Brüdern gekommen, habe aufgrund des Todes seines Vaters das Haus für sich beansprucht und habe die Übergabe der Dokumente des Hauses verlangt. Der Erstbeschwerdeführer und seine Brüder hätten sich geweigert, weil ihr Vater das Haus gemeinsam mit ihrem Onkel gekauft habe. Der Erstbeschwerdeführer und seine Brüder hätten ein klärendes Gespräch mit ihrem Cousin gesucht, dieser habe jedoch nur gesagt, dass sie das Haus so bald wie möglich räumen müssten. Ca. 10 Tage danach sei der Erstbeschwerdeführer nach Hause gekommen und habe gesehen, dass sein Cousin seinen Vater gewürgt habe und einen Zettel, mit dem sein Vater ihm das Haus habe überschreiben sollen, in der Hand gehalten habe. Der Erstbeschwerdeführer habe seinen Cousin weggestoßen, woraufhin der Cousin und zwei weitere Männer, die sein Cousin mitgenommen habe, auf den Erstbeschwerdeführer losgegangen seien. Der Erstbeschwerdeführer und sein Vater seien am nächsten Tag zur Behörde gegangen um den Vorfall zu melden. Als der Polizist den Namen des Cousins des Erstbeschwerdeführers gehört habe, habe er versucht den Erstbeschwerdeführer loszuwerden, weil sein Cousin Kommandant sei und Macht habe. Eine Woche später seien zwei Männer ins Taxi des Erstbeschwerdeführers gestiegen und hätten während der Fahrt verlangt, dass er in eine Seitengasse einbiege, wobei sie ihm ein Messer an den Rücken hielten. Die Männer hätten ihm gesagt, dass der Cousin des Erstbeschwerdeführers geschickt habe. Der Erstbeschwerdeführer sei noch ein paar Minuten gefahren und kurz vor einer Kontrollstation habe er sich aus dem Auto geworfen und um Hilfe geschrien. Die Soldaten der Station hätten den Erstbeschwerdeführer sowie die Männer im Taxi auf die Polizeistation gebracht, wo sie einvernommen worden seien. Der Kommandant der Station habe dem Erstbeschwerdeführer geraten, das Land zu verlassen, da die Leute die ihn suchen würden sehr mächtig seien und mit den Behörden und den Taliban zusammenarbeiten würden. Die Beschwerdeführer beschlossen mit einem iranischen Visum Afghanistan zu verlassen. Die Visumsausstellung dauerte jedoch zwei Monate, weshalb sie weiterhin im Haus geblieben seien. Ca. drei oder vier Tage später sei auf dem Weg der Zweit- und der Drittbeschwerdeführerin zu einem Hamam vor ihnen ein Auto stehen geblieben. Die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin seien gefesselt und ihnen sei mit Vergewaltigung und dem Tod gedroht worden, wenn der Erstbeschwerdeführer nicht die Dokumente des Hauses unterschrieben übergebe. Die Beschwerdeführer seien daraufhin bis zur Visumsausstellung zu den Eltern der Zweitbeschwerdeführerin gezogen. Drei oder vier Tage nachdem die Beschwerdeführer aus ihrem Haus ausgezogen seien, habe der Cousin zunächst beim Vater des Erstbeschwerdeführers und danach bei den Brüdern des Erstbeschwerdeführers nach diesem und den Dokumenten des Hauses gesucht. Der Vater sowie die Brüder des Erstbeschwerdeführers hätten dem Cousin des Erstbeschwerdeführers mittgeteilt, dass dieser bereits in die Türkei ausgereist sei, woraufhin die Brüder geschlagen worden seien. Ca. 17 bis 18 Tage später seien die Erst- bis Drittbeschwerdeführer mit einem iranischen Visum in den Iran gereist.

Hinsichtlich der Dritt- und des Viertbeschwerdeführers wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

6. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen zwar glaubhaft sei, es könne jedoch nicht erkannt werden, dass der Cousin des Erstbeschwerdeführers die Beschwerdeführer im gesamten Staatsgebiet Afghanistan finden könnte, weshalb den Beschwerdeführern eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Zudem habe die Zweitbeschwerdeführerin keine „westliche“ Lebensführung angenommen. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die Erstbeschwerdeführer verfüge über eine zwölfjährige Schulbildung und mehrjährige Berufserfahrung als Schuster und Taxifahrer sowie über ein Haus im Herat, das er verkaufen könne. Sie könnten auch mit finanzieller Unterstützung durch ihre Familien aus dem Iran rechnen. Es sei dem Erstbeschwerdeführer bereits vor der Ausreise möglich gewesen für die Existenz und den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen. Die Beschwerdeführer würden in Österreich – abgesehen voneinander – zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

7. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe, zumal UNHCR eine innerstaatliche Fluchtalternative in all jene Gebiete, die unter staatlicher Kontrolle ausschließe, wenn die Verfolgungsgefahr von einem staatlichen Akteur ausgehe. Betreffend die Zweitbeschwerdeführerin habe das Bundesamt in keiner Weise berücksichtigt, dass es einer Frau mit einem Klein- und einem Schulkind für einen zeitlich begrenzten Zeitraum nicht möglich sei, effektiv einer Schul- bzw. Berufsausbildung nachzugehen. Die Zweitbeschwerdeführerin trage auch westliche Kleidung und erledige außerhäusliche Erledigungen auch alleine. Das Bundesamt habe sich nicht mit dem konkreten Vorbringen der Beschwerdeführer auseinandergesetzt und Teile davon sowie die aktuelle Berichtslage zu Kabul ignoriert. Das Bundesamt habe auch verkannt, dass der Erstbeschwerdeführer alleine für seine Frau und zwei kleine Kinder den Lebensunterhalt bestreiten müsse. Die Beschwerdeführer wären daher im Falle einer Rückkehr einer unzumutbaren Notlage ausgesetzt. Die Beschwerdeführer würden in Afghanistan auch über keine familiären oder sozialen Netzwerke verfügen und könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie finanzielle Unterstützung ihrer Familien aus dem Iran erhalten würden.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 08.05.2018 in Anwesenheit einer Dolmetscherin sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung betreffend die Beschwerdeführer sowie die Schwester des Erstbeschwerdeführers, deren Mann und Kind sowie dem Neffen deren Mannes durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer sowie die Verfahren der Schwester des Erstbeschwerdeführers, deren Mannes und Kindes und dem Verfahren des Neffen deren Mannes wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

9. Mit Stellungnahme vom 18.09.2019 wurde vorgebracht, dass sich sowohl die Sicherheits- als auch die humanitäre Lage in Afghanistan dramatisch verschlechtert habe. In Afghanistan herrsche ein Mangel an allen erforderlichen Lebensgrundlagen – dies auch in den urbanen Zentren des Landes, wie Kabul, Herat und Mazer-e Sharif. Aufgrund der gegenwärtigen menschenrechtlichen und humanitären Lage in Kabul sei eine innerstaatliche Flucht- oder Ansiedelungsalternative in Kabul nicht möglich oder zumutbar. Auch die Städte Herat und Mazar-e Sharif seien zu Zentren humanitärer Notlage geworden. Der Lebensstil einer afghanischen Frau und das Ausmaß ihrer Einschränkungen seien auch im urbanen Raum abhängig von ihrer Herkunft, der Tradition, der gesellschaftlichen und religiösen Position ihrer Familie und dem Bildungsstand sowie finanziellen Möglichkeiten. Es könne nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass Frauen in großen Städten ein freies, modernes bzw. westliches Leben würden führen können. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität einer Familie mit minderjährigen Kindern, sei den Beschwerdeführer zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren.

10. Am 09.10.2019 setzte das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung vom 08.05.2019 ausschließlich mit den Beschwerdeführern und in Anwesenheit einer Dolmetscherin sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer fort. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

11. Mit Parteigehör vom 12.08.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderinformationen und forderte die Beschwerdeführer auf alle Neuerungen seit der letzten Verhandlung dem Gericht bekannt zu geben.

12. Mit Stellungnahme vom 14.09.2020 gaben die Beschwerdeführer im Wesentlichen bekannt, dass der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin in Afghanistan geschlechtsspezifische Verfolgung drohen würde. Beide haben sich in Österreich einen westlichen Lebensstil angeeignet. Die Zweitbeschwerdeführerin habe zudem eine Einstellungszusage. Die Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin seien aufgrund der schlechten Sicherheitslage in den Iran geflüchtet. Die Zweitbeschwerdeführerin legte zwei Fotos und Integrationsunterlagen vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Diese haben zwei leibliche Kinder, die Drittbeschwerdeführerin, die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX alias XXXX führt, und den in Österreich geborenen Viertbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 AS 1, 104; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 AS 1, 70; Verhandlungsprotokoll vom 08.05.2018 = VP 1; S. 47; Verhandlungsprotokoll vom 09.10.2019 = VP 2, S. 18; in beiden Verhandlungsprotokollen wurde der BF 1 als BF 5 geführt, die BF 2 als BF 6, die BF 3 als BF 7 und der BF 4 als BF 8).

Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut. Die Muttersprache der Dritt- und des Viertbeschwerdeführers ist Dari bzw. Farsi (VP 2, S. 16, 30).

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Stadt Herat geboren. Im Jahr XXXX / XXXX im Alter von ca. sechs Monaten ist seine Familie mit ihm in den Iran gezogen. Er hat dort zwölf Jahre lang die Schule besucht und als Schuster gearbeitet (BF 1 AS 105; VP 1, S. 47; VP 2, S. 7). Im Jahr 2003/2004 kehrte der Erstbeschwerdeführer mit seinen Eltern, seinen Brüdern und zwei Schwestern nach Afghanistan in die Stadt Herat zurück. Er lebte dort im Stadtviertel XXXX im Eigentumshaus seines Vaters gemeinsam mit seinen Eltern und arbeitete als Taxifahrer (BF 1 AS 105; VP 1, S. 47; VP 2, S. 7, 10).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Stadt Herat geboren. Im Jahr XXXX / XXXX im Alter von ca. zwei Monaten ist ihre Familie mit ihr in den Iran gezogen. Die Zweitbeschwerdeführerin hat dort drei Jahre lang die Schule besucht. Im Jahr 1993/1994 kehrte die Zweitbeschwerdeführerin mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan in die Stadt Herat. Sie wohnte dort im Stadtviertel XXXX gemeinsam mit ihren Eltern in deren Eigentumshaus. In der Stadt Herat bekam sie zwei Jahre lang Unterricht an einer Moschee (BF 2 AS 70 f; VP 2, S. 18 f, 21).

1.1.4. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben am 15.04.1386 (Anm. BVwG: entspricht dem 06.07.2007) traditionell geheiratet (BF 1 AS 106; BF 2 AS 71). Die Zweitbeschwerdeführerin ist nach der Heirat zum Erstbeschwerdeführer ins Haus seiner Eltern gezogen, wo sie im oberen Stockwerk und die Eltern des Erstbeschwerdeführers im unteren Stockwerk gelebt haben. Die Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin – die Drittbeschwerdeführerin – wurde im Jahr XXXX / XXXX in Afghanistan geboren (BF 1 AS 106). Der Erstbeschwerdeführer hat den Unterhalt für seine Ehefrau und seine Tochter bestritten. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer haben Afghanistan am 28.01.1394 (Anm. BVwG: entspricht dem 17.04.2015) verlassen (BF 1 AS 107; BF 2 AS 73; VP 1, S. 47; VP 2, S. 19).

Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 11.07.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am XXXX wurde der Viertbeschwerdeführer in Österreich geboren.

1.1.5. Die Familie des Erstbeschwerdeführers verfügt in der Stadt Herat im Stadtviertel XXXX über ein Grundstück samt dem darauf befindlichen Eigentumshaus. Der Vater des Erstbeschwerdeführers hat das Grundstück nicht gemeinsam mit seinem Bruder – dem Onkel des Erstbeschwerdeführers -, sondern alleine gekauft (BF 1 AS 85). Das gesamte Grundstück ist ca. 400 m2 groß (BF 1 AS 113). Das darauf gelegene Eigentumshaus der Familie des Erstbeschwerdeführers verfügt über zwei Stockwerke mit jeweils einer Wohneinheit und Wasserleitungen sowie fließendem Wasser im Haus. Es hat einen großen Garten und im zweiten Stock befindet sich ein Balkon (VP 2, S. 12). Das Haus wird derzeit von den Nachbarn beaufsichtigt (VP 2, S. 11).

1.1.6. Der Vater des Erstbeschwerdeführers ist bereits verstorben. Die Mutter, ein Bruder und zwei Schwestern sowie ein Onkel des Erstbeschwerdeführers leben im Iran (VP 1, S. 23; VP 2, S. 7, 9). Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu ihnen (VP 2, S. 7).

Die Brüder des Erstbeschwerdeführers verfügen über ein Eigentumshaus in der Stadt Herat. Dieses Haus verfügt über zwei Geschosse, in dem sich jeweils eine Wohneinheit mit Küche, Bad und zwei Zimmer befinden. In diesem Haus lebt derzeit der Schwager einer seiner Brüder (VP 2, S. 12).

1.1.7. Eine Schwester des Erstbeschwerdeführers lebt seit ca. 20 Jahren in Deutschland. Sie ist verheiratet und hat zwei volljährige Söhne sowie eine volljährige und eine mündig minderjährige Tochter (VP 2, S. 8).

Ein Bruder des Erstbeschwerdeführers hält sich ebenfalls in Deutschland auf. Er befindet sich im Asylverfahren (VP 2, S. 8).

Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinen in Deutschland lebenden Verwandten (VP 2, S. 7), insbesondere zu seiner Schwester hat der Erstbeschwerdeführer zwei- bis dreimal in der Woche Kontakt (VP 2, S. 8).

1.1.8. Die Eltern, zwei Brüder und die Schwestern sowie vier Tanten und sechs Onkel der Zweitbeschwerdeführerin leben im Iran (VP 2, S. 19; OZ 21). Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin verfügen noch über ein Eigentumshaus in der Stadt Herat im Stadtteil XXXX . Das Haus verfügt über zwei Geschosse. Im Erdgeschoss befinden sich drei Zimmer, eine Küche und ein Vorzimmer. Das obere Stockwerk verfügt über zwei Wohneinheiten, wobei jede über zwei Zimmer, eine Küche, ein WC und ein Bad verfügt. Alle Wohneinheiten des Hauses sind vermietet (VP 2, S. 21).

1.1.9. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Sie sind gesund und der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind auch arbeitsfähig (VP 2, S. 14, 24, 27 f).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Cousin väterlicherseits des Erstbeschwerdeführers hat nach der Beerdigung seines Vaters nicht die Herausgabe des Eigentumshauses der Familie des Erstbeschwerdeführers verlangt. Der Cousin des Erstbeschwerdeführers arbeitet weder für die Regierung noch ist er Kommandant, Oberbefehlshaber oder Polizeichef. Der Cousin des Erstbeschwerdeführers hat auch weder den Vater des Erstbeschwerdeführers gewürgt, noch der Familie des Erstbeschwerdeführers gedroht. Es fand auch der Vorfall, wonach zwei Personen, die vom Cousin des Erstbeschwerdeführers geschickt worden seien, ins Taxi gestiegen seien und dem Beschwerdeführer mit einem Messer gedroht hätten, nicht statt. Auch der Vorfall, wonach die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin auf der Straße von Personen des Cousins des Erstbeschwerdeführers gefesselt und ins Auto gezerrt worden seien, hat nicht stattgefunden.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch den Cousin des Erstbeschwerdeführers, die Taliban, staatliche Organe oder durch andere Gruppierungen.

1.2.2. Die Beschwerdeführer hatten in Afghanistan keine konkret und individuell gegen sie gerichteten Probleme aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit zu den Schiiten.

1.2.3. Die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie verfügt nur über sehr geringe Deutschkenntnisse. Sie nimmt zwar an einem Schwimmkurs für geflüchtete Frauen und einem Volkstanzkurs für Tänze aus Afghanistan teil, diese finden jedoch lediglich im geschützten Rahmen statt und wurden ihr von ihrer Betreuerin vermittelt. Sie hat diesbezüglich keine Eigeninitiative gezeigt. Zudem kümmert sie sich primär um den Haushalt und ihre Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich und hat lediglich Kontakte zu Betreuerinnen und Nachbarn sowie zu afghanischen Frauen, die sie im Deutschkurs kennengelernt hat.

1.2.4. Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer ist es möglich, sich (wieder) in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihnen droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sind sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in der Stadt Herat faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden die Dritt- und den Viertbeschwerdeführer in der Stadt Herat in die Schule schicken und ihnen eine Schulbildung ermöglichen. Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer drohen in der Stadt Herat weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt Herat kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können in der Stadt Herat ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer sind mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Die Beschwerdeführer können in Herat im Eigentumshaus der Familie des Erstbeschwerdeführers wohnen. Zudem verfügen auch die Brüder des Erstbeschwerdeführers über ein Eigentumshaus in der Stadt Herat, in dem die Beschwerdeführer vorübergehend unterkommen könnten. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können für ihr Auskommen und Fortkommen selber sorgen.

Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin somit möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer ist es möglich in der Stadt Herat eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan anzupassen, nämlich neue Kontakte knüpfen, die Schule besuchen, einen Beruf lernen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache vertiefen.

Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer droht in der Stadt Herat weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat. Es droht diesen dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe oder Ausbeutungen.

Die Drittbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer sind noch unmündige Minderjährige. Diese können ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Herat angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage (trotz familiärer Unterstützung in Herat) derzeit nicht möglich den notwendigen Lebensunterhalt für die Drittbeschwerdeführerin und den Viertbeschwerdeführer in der Stadt Herat ausreichend sicher zu stellen.

Es ist der Drittbeschwerdeführerin und dem Viertbeschwerdeführer somit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest 11.07.2015 durchgehend in Österreich auf.

Eine Schwester des Erstbeschwerdeführers lebt samt ihrer Familie in Österreich. Der Familie der Schwester des Erstbeschwerdeführers wurde mit mündlich verkündeten Erkenntnis vom 08.05.2018 der Status der Asylberechtigten zuerkannt (VP 1, S. 53 ff). Die Beschwerdeführer haben zwar regelmäßig telefonischen Kontakt zur Schwester der Erstbeschwerdeführerin und in den Schulferien finden gegenseitige Besuche statt. Die Beschwerdeführer stehen jedoch zu der Schwester des Erstbeschwerdeführers in keinem Abhängigkeitsverhältnis.

Die Beschwerdeführer werden von der Betreuerin der Schwester des Erstbeschwerdeführers und von ihrer Nachbarin geschätzt. Es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen.

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Sie waren weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, ihre Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.

1.4.1. Der Erstbeschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer hat Deutschkurse besucht (BF 1 AS 37 [ident mit AS 139]; 53-57 [ident mit AS 143 und 147], 141, 145, 149, 151, 155). Er hat die ÖSD Deutschprüfung für die Stufe A1 am 31.10.2016 gut, für die Stufe A2 am 24.01.2017 gut und für die Stufe B1 am 01.08.2017 befriedigend bestanden (BF 1 AS 29-31 [ident mit AS 131-133]; AS 33-35 [ident mit AS 127-129]; Beilage ./U [ident mit AS 135-137]). Der Erstbeschwerdeführer verfügt über ausreichende Deutschkenntnisse.

Der Erstbeschwerdeführer hat an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen (Beilage ./Q).

Der Erstbeschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./VI; VP 1, S. 45; VP 2, S. 13). Er erbringt seit 04.06.2018 freiwillig Tätigkeiten für die XXXX (Beilage ./U).

Der Erstbeschwerdeführer hat in Österreich freundschaftliche Kontakte knüpfen können (VP 2, S. 14). Es besteht keine enge soziale Bindung zu diesen.

Der Erstbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./VI).

1.4.2. Die Zweitbeschwerdeführerin:

Die Zweitbeschwerdeführerin hat Deutschkurse sowie eine Deutsch-Lerngruppe besucht (Beilage ./R [ident mit BF 2 AS 41 und 91], ./K, ./M und ./V). Sie hat die ÖSD Deutschprüfung am 12.12.2018 für die Stufe A1 gut bestanden, jene am 06.06.2019 und 20.08.2019 für die Stufe A2 jedoch nicht bestanden (Beilage ./V). Die Zweitbeschwerdeführerin hat im September 2019 an einem Deutschkurs B1 teilgenommen (OZ 15). Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt nur über sehr geringe Deutschkenntnisse (VP 2, S. 22 f).

Die Zweitbeschwerdeführerin geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./VI; VP 2, S. 24). Sie hat in Österreich bis zur mündlichen Verhandlung noch nie gemeinnützige, ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt oder – abgesehen von Deutschkursen – Ausbildungsmöglichkeiten in Anspruch genommen (VP 2, S. 24 f). Seit November 2019 übernimmt sie im Ausmaß von 15 Stunden pro Woche freiwillige Tätigkeiten bei der XXXX (OZ 15, OZ 21). Sie ist in Österreich am Arbeitsmarkt nicht integriert. Ihr wurde im August 2020 ein Vorvertrag für eine Arbeitsstelle als Reinigungskraft ausgestellt (OZ 21).

Die Zweitbeschwerdeführerin hat in Österreich an einem Werte- und Orientierungskurs (Beilage ./J) und einem Handarbeitsworkshop (Beilage ./M) sowie an einem Schwimmkurs für geflüchtete Frauen (Beilage ./V, OZ 15) teilgenommen. Sie nimmt seit Juni 2019 auch monatlich an einem Volkstanzkurs für Tänze aus Afghanistan teil (Beilage ./V).

Die Zweitbeschwerdeführerin hat in Österreich freundschaftliche Kontakte zu einer Betreuerin und einer Betreuerin ihrer Schwägerin sowie zu ihrer Nachbarin und drei afghanischen Frauen aus dem Deutschkurs geknüpft (VP 2, S. 26 f). Es besteht jedoch keine enge soziale Bindung zu diesen.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./VI).

1.4.3. Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer:

Die nun ca. XXXX jährige Drittbeschwerdeführerin hat im Schuljahr 2015/16 die Vorschule und im Schuljahr 2016/17 die erste Klasse Volksschule als außerordentliche Schülerin besucht (Verwaltungsakt der Drittbeschwerdeführerin – BF 3 AS 17, 51). Im Schuljahr 2017/18 hat sie die zweite Klasse Volksschule (Beilage ./O) und im Schuljahr 2018/19 die dritte Klasse Volksschule als ordentliche Schülerin besucht (Beilage ./W). Die Drittbeschwerdeführerin verfügt über altersentsprechende Deutschkenntnisse.

Der XXXX ährige Viertbeschwerdeführer besucht in Österreich den Kindergarten (VP 2, S. 13, 25).

Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan aus Juni 2019 (EASO)

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        EASO-Bericht Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020 (EASO August 2020)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Frauen in urbanen Zentren),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Anzahl der Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Bildungsmöglichkeiten für Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Erpresserischer Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Erpresserische Entführungen von Kindern),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Kinderarbeit und Ausbeutung),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Kinderehen und Zwangsehen),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Kinderschutzprogramme),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Rückkehrleistungen für Familien bzw. Kinder vom 14.05.2019 (Rückkehrleistungen für Familien bzw. Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sexuellen Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Sexueller Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Sicherheitslage für Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Zugang zu Lebensmitteln),

1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO August 2020, Kapitel 2.1.1.).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Einer Schätzung der Weltbank zufolge wird der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Afghanen infolge der COVID-19-Maßnahmen im Jahr 2020 auf 61 bis 72 % steigen, dies aufgrund sinkender Einkommen und steigender Preise für Nahrungsmittel und andere Haushaltswaren (EASO 2020, Kapitel 2.3.1.).

Aufgrund der COVID-19-Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z. B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO August 2020, Kapitel 2.4.1.).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020). Einem FEWS-Bericht zur Ernährungssicherheit von April 2020 sind Haushalte in Kabul, Herat, Mazar-e Sharif und anderen großen Städten sowie jene, die von kleinen Geschäften oder Gewerben, Überweisungen, nicht-landwirtschaftlicher Lohnarbeit und geringbezahlten Jobs abhängig sind, am schlimmsten vom eingeschränkten Zugang zu Beschäftigung und den gestiegenen Nahrungsmittelpreisen betroffen (EASO August 2020, Kapitel 2.4.1.).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf.

In Kabul hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO August 2020, Kapitel 2.6.1.).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurden einige medizinische Leistungen, wie routinemäßige Impfungen, das Polio-Programm, Schwangerschaftsuntersuchungen und psychische und psychosoziale Behandlungen, entweder eingestellt oder zumindest reduziert (EASO August 2020, Kapitel 2.6.2.).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

1.5.5. Religionen:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen:

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale priv

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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