TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/13 W261 2221073-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.10.2020
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Entscheidungsdatum

13.10.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
VOG §1 Abs1
VOG §1 Abs3
VOG §10 Abs1
VOG §3

Spruch

W261 2221073-1/43E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzerin und als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch Mag. Franz GALLA, Rechtsanwalt in 1040 Wien, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 16.05.2019, betreffend die Abweisung des Antrages auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß § 1 Abs. 1 und Abs.3, § 3 sowie § 10 Abs.1 Verbrechensopfergesetz (VOG) nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin brachte am 16.01.2017 beim Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien (im Folgenden: belangte Behörde), einen Antrag auf Ersatz des Verdienstentganges ein. Sie gab an, sie sei im Heim XXXX regelmäßigen Schlägen und psychischen Erniedrigungen ausgesetzt gewesen, wodurch der Tatbestand des § 92 StGB (Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen) erfüllt sei. Zudem sei es im Jahr 1970 zu einer Vergewaltigung durch den Vater im Rondell-Kino im ersten Bezirk gekommen. Sie leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung, an V.a. organischen Verhaltensstörung und einer komplexen oculomotorischen Störung. Sie befinde sich seit Mitte Dezember 2016 in Therapie, welche vom WEISSEN RING bezahlt werde. Sie sei bereits in Pension und beziehe € 680,- monatlich. Die Beschwerdeführerin legte eine Reihe von medizinischen Befunden vor.

2. Mit Schreiben vom 26.01.2017 forderte die belangte Behörde die Beschwerdeführerin auf, ergänzende Informationen bzw. Unterlagen zum oben genannten Antrag zu übermitteln.

3. In weiterer Folge kommunizierte die belangte Behörde mit der Beschwerdeführerin über den WEISSEN RING, welcher die Beschwerdeführerin unterstütze. Mit Schreiben vom 20.02.2017 legte der WEISSE RING für die Beschwerdeführerin eine Reihe der geforderten Unterlagen vor.

4. Nach Vorliegen der entsprechenden Einverständniserklärung der Beschwerdeführerin ersuchte die belangte Behörde die Wiener Gebietskrankenkasse eine Aufstellung zur übermitteln, aus welcher sämtliche Krankenstände der Beschwerdeführerin samt den jeweiligen Diagnosen ersichtlich seien. Mit E-Mailnachricht vom 03.03.2017 teilte die Wiener Gebietskrankenkasse mit, dass die Beschwerdeführerin bislang keinen Krankenstand in Anspruch genommen habe, weswegen keine Unterlagen übermittelt werden könnten.

5. Der WEISSE RING übermittelte in weiterer Folge Anfang März 2017 auch den von der Beschwerdeführerin beigeschafften Heimakt an die belangte Behörde.

6. Mit Schreiben vom 09.03.2017 ersuchte die belangte Behörde die Pensionsversicherungsanstalt um Übermittlung des Pensionsaktes der Beschwerdeführerin zur kurzen Einsicht.

7. Mit Schreiben vom 23.03.2017 übermittelte die nunmehr durch Mag. Franz GALLA, Rechtsanwalt in Wien anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin eine Reihe der von der belangten Behörde geforderten Angaben.

8. Nach mehrmaliger Urgenz durch die belangte Behörde übermittelte die Pensionsversicherungsanstalt die ärztlichen Gutachten mit Schreiben vom 17.08.2017. Demnach leide die Beschwerdeführerin letztendlich an einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung und an Angst und depressive Störung gemischt und sei dauernd invalid.

9. Über Ersuchen der belangten Behörde übermittelte die Psychotherapeutin der Beschwerdeführerin der belangten Behörde am 09.11.2017 eine psychotherapeutische Stellungnahme. Demnach leide die Beschwerdeführerin an einer Traumafolgestörung in Form einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (im ICD-10: Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung F62.9) begleitet von Angst und depressiver Symptomatik (F41.2). Eine weitere psychotherapeutische Begleitung sei indiziert.

11. Mit Schreiben vom 02.01.2017 ersuchte die belangte Behörde die Reha-Klinik für XXXX die komplette Krankengeschichte der Beschwerdeführerin zu übermitteln.

Die Rehaklinik für XXXX ersuchte unter Hinweis auf datenschutzrechtliche Vorschriften mit Schreiben vom 23.01.2018 um Übermittlung der von der Beschwerdeführerin unterschriebenen Einverständniserklärung. Die belangte Behörde übermittelte diese mit E-Mailnachricht vom 29.01.2028, woraufhin die Rehaklinik die angeforderten Unterlagen übermittelte.

11. Die belangte Behörde ersuchte mit Gutachtensauftrag vom 21.03.2018 den ärztlichen Dienst ein nervenfachärztliches Gutachten auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin zu erstellen.

Im nervenfachärztlichen Sachverständigengutachten vom 14.06.2018 kommt der medizinische Sachverständige nach einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 25.05.2018 zusammenfassend zum Ergebnis, dass die Beschwerdeführerin an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.3) und an einer Dysthymie (F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung) leide. Ein Kausalzusammenhang mit dem Verbrechen könne nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden. In der Biographie der Beschwerdeführerin gebe es mehrere belastende Lebensereignisse, und es sei nicht mit Sicherheit oder hoher Wahrscheinlichkeit abzugrenzen, welches für das gegenwärtige psychische Zustandsbild überwiegend zu verantworten sei. Die Leidenszustände der Beschwerdeführerin seien überwiegend auf akausale Umstände zurückzuführen. Diese sei bereits einjährig aufgrund problematischer Familienverhältnisse in einem Heim aufgenommen worden, abermals in der Zeit von ihrem 11. bis zu ihrem 16. Lebensjahr. Insbesondere die Heimaufnahme im Kleinstkindalter müsse aus fachärztlicher Sicht als ein massives Trauma für die weitere psychische Entwicklung der Beschwerdeführerin angesehen werden. Nach Entlassung zur Mutter hätten sich die Bedingungen des Heranwachsens nicht wesentlich geändert, weswegen die Beschwerdeführerin mit 11 Jahren neuerlich ins Heim gekommen sei. Zu diesem Zeitpunkt sei ihre Persönlichkeitsentwicklung bereits abgeschlossen gewesen. Der weitere Lebenslauf sei geprägt gewesen von wechselnden Anstellungen, Beziehungsproblemen und Erkrankung an einer schweren Depression mit mehrfachen stationären Aufenthalten im XXXX , wobei auch die gegenwärtige Lebenssituation nicht unbelastet erscheine. Aus fachärztlich psychiatrischer Sicht hätten die Misshandlungen zwar möglicherweise einen Einfluss auf den derzeitigen psychischen Leidenszustand, seien jedoch nicht als wesentliche Ursache anzusehen.

12. Mit Schreiben vom 06.07.2018 übermittelte die belangte Behörde dieses medizinische Sachverständigengutachten der Beschwerdeführerin im Rahmen des Parteiengehörs und räumte ihr die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb von vier Wochen ab Zustellung eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Über mehrfaches Ersuchen des anwaltlichen Vertreters der Beschwerdeführerin erstreckte die belangte Behörde mehrfach die Frist zur Abgabe einer Stellungnahme.

13. Mit Eingabe vom 15.10.2018 gab die Beschwerdeführerin durch ihren anwaltlichen Vertreter eine schriftliche Stellungnahme ab. Darin führte diese aus, dass der medizinische Sachverständige keine Begründung für seine Diagnose abgegeben habe. Es sei nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Erwägungen der Sachverständige zu seiner Diagnose gekommen sei. Unter Hinweis auf im Schriftsatz zitierte Befunde der Beschwerdeführerin hätte der medizinische Sachverständige zu einer anderen Diagnose kommen müssen.

Der Sachverständige habe bei der Frage der Kausalität auf problematische Familienverhältnisse der Beschwerdeführerin hingewiesen, wodurch er eine Beweiswürdigung vorweggenommen habe, was ihm nicht zustehe. Es falle generell auf, dass der Sachverständige den Zeiträumen vor und nach dem Heimaufenthalt einen zu großen Stellenwert beimesse. Diese Ereignisse im Leben der Beschwerdeführerin würden nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, wie dies der Sachverständige in seinem Gutachten gemacht habe. Es sei gerade nicht der Fall, dass die Lebensumstände der Beschwerdeführerin nach dem Heim mit der Heimzeit nichts zu tun haben würden. Es liege vielmehr auf der Hand, dass der weitere Lebenslauf kausale Folge der während der Heimzeit an der Beschwerdeführerin verübten Verbrechen sei. Die Beschwerdeführerin legte eine Reihe von medizinischen Befunden vor.

14. Mit Schreiben vom 02.11.2028 ersuchte die belangte Behörde den medizinischen Dienst, eine Stellungnahme zu den Ausführungen der Beschwerdeführerin und den von ihr vorgelegten Befunden abzugeben.

Der nervenfachärztliche Sachverständige führte in dessen Ergänzungsgutachten vom 30.11.2018 aus, dass er sich bei der Erstellung an der ICD-10 orientiert habe, welche die Basis für die Erstellung von Diagnosen darstelle. Die dort angeführten Symptome seien verbindlich für das Stellen einer Diagnose. Jene Symptome, welche unter ICD-10: F43.1 – Posttraumatische Belastungsstörung, angeführt seien, hätten bei der Beschwerdeführerin bei der Untersuchung nicht festgestellt werden können. Der medizinische Sachverständige setzte sich in weiterer Folge mit den von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Befunden auseinander und erläuterte, weswegen diesen medizinischen Befunden und Gutachten teilweise gefolgt, und teilweise nicht gefolgt werden könne.

15. Mit Schreiben vom 21.02.2019 übermittelte die belangte Behörde dieses Ergänzungsgutachten der Beschwerdeführerin im Rahmen des Parteiengehörs und räumte ihr die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

16. Die Beschwerdeführerin gab durch ihren anwaltlichen Vertreter mit Schriftsatz vom 29.03.2019 eine schriftliche Stellungnahme ab, in welcher sie ausführte, dass die Diagnose des medizinischen Sachverständigen nach wie vor nicht hinreichend begründet sei. Konkret fehle die traumabezogene Anamnese im Gutachten des Sachverständigen, welche jedoch unbedingt erforderlich sei, um eine korrekte und zusammenfassende Diagnose erstellen zu können. Es sei auch markant, dass die meisten der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Gutachten ihre Diagnose im Laufe der Behandlung geändert hätten, woraus der Schluss gezogen werden könne, dass sich bei längerer Behandlung der Beschwerdeführerin deren tatsächliches Leiden herauskristallisiere, welches keine andere Diagnose als eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), bzw. eine Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (F62.0) zulassen würde. Der medizinische Sachverständige habe zwar behauptet, dass diese beiden Diagnosen einander ausschließen würden, aus welchen Gründen dies der Fall sei, habe er jedoch nicht ausgeführt.

17. Am 08.04.2019 übermittelte die Beschwerdeführerin durch ihren anwaltlichen Vertreter einen weiteren medizinischen Befund.

18. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.05.2019 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß § 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 3 sowie § 10 Abs.1 Verbrechensopfergesetz (VOG) ab. Die belangte Behörde begründete diese Entscheidung im Wesentlichen damit, dass bei der Beschwerdeführerin das Vorliegen eines verbrechenskausalen Verdienstentganges im fiktiven schadensfreien Verlauf nicht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit habe festgestellt werden können.

19. Die Beschwerdeführerin erhob mit Eingabe vom 02.07.2019 durch ihren anwaltlichen Vertreter rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde und führt aus, dass eine unrichtige Sachverhaltsfeststellung und daraus resultierend eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorliegen würde. Die belangte Behörde habe wesentliche, traumatisierende Ereignisse nicht festgestellt, das seien die sexuellen Übergriffe des Vaters im Alter von 11 bis 12 Jahren sowie die sexuellen Übergriffe durch einen Pater im Kinderheim XXXX . Die vom medizinischen Sachverständigen erstellten Diagnosen seien unzutreffend und würden durch die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befunde widerlegt. Der medizinische Sachverständige habe zu Unrecht eine Kausalitätsbeurteilung vorgenommen, dies sei eine Rechtsfrage, welche von der belangten Behörde unrichtig gelöst worden sei. Die psychischen Leiden der Beschwerdeführerin hätten dazu geführt, dass sie berufliche Aufstiegschancen verloren habe. Hätte die belangte Behörde den Sachverhalt richtig festgestellt und gewürdigt, hätte sie zum Ergebnis kommen müssen, dass dem Antrag der Beschwerdeführerin stattzugeben gewesen sei. Es werde beantragt, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen und einen anderen Sachverständigen bzw. eine andere Sachverständige mit der Begutachtung der psychischen Erkrankung der Beschwerdeführerin zu beauftragen, den gegenständlichen Bescheid aufzuheben und auszusprechen, dass der Beschwerdeführerin der Ersatz des Verdienstentganges dem Grunde nach bewilligt werden, in eventu, der Beschwerde stattzugeben, den Bescheid der belangten Behörde aufzuheben und zur neuerlichen Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.

Die Beschwerdeführerin legte die vom WEISSEN RING übermittelten Clearingberichte ergänzend vor.

20. Die belangte Behörde legte den Beschwerdeakt mit Schreiben vom 04.07.2019 dem Bundesverwaltungsgericht vor, wo dieser am 10.07.2019 einlangte.

21. Das Bundesverwaltungsgericht ersuchte mit Schreiben vom 29.07.2019 eine medizinische Amtssachverständige, gerichtlich beeidete Sachverständige und Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie um die Erstellung eines Sachverständigengutachtens auf Basis einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin.

In deren medizinischen Sachverständigengutachten vom 10.10.2019, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 04.09.2019, kommt diese zum Ergebnis, dass die Beschwerdeführerin an einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung als Komplikation im Rahmen einer Maser-Mumpsinfektion F07.9, einer Störung der Hirnnerven in Form von komplexen Okulomotorikstörung und Störung der Gaumeninervation im Rahmen einer Maser-Mumpsinfektion, einer rezidivierenden depressiven Störung F33, an Hypotyreose und an einer diffusen Gastritis leide. Keine dieser Erkrankungen sei auf die Heimaufenthalte und den allenfalls erlittenen sexuellen Missbrauch zurückzuführen.

22. Mit Schreiben vom 18.10.2019 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht das genannte Gutachten den Parteien des Verfahrens im Rahmen des Parteiengehörs und räumte die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

23. Mit Eingabe vom 07.11.2029 gab die Beschwerdeführerin durch ihren anwaltlichen Vertreter eine vorläufige Stellungnahme ab und ersuchte die Stellungnahmefrist bis zum 29.11.2019 zu erstrecken, weil beabsichtigt sei, dem Gutachten der medizinischen Sachverständigen auf gleicher fachlichen Ebene zu begegnen. Zudem legte die Beschwerdeführerin (neuerlich) eine Diagnose des XXXX vom 27.10.2005 und vom 22.12.2005 vor, wonach die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) und an einer rezidivieren depressiven Störung (ICD-10: F33.1) leide.

24. Mit Eingabe vom 29.11.2019 ersuchte die Beschwerdeführerin durch ihren anwaltlichen Vertreter zum Nachweis darüber, dass die an der Beschwerdeführerin während ihrer Heimzeit verübten Verbrechen kausal für die bestehenden psychischen Leiden und damit den Verdienstentgang sind, einen Arzt aus dem Fachbereich der Psychiatrie und Psychotherapie des XXXX als sachkundigen Zeugen zu der für den 27.01.2020 anberaumten mündlichen Beschwerdeverhandlung zu laden. Bis zu diesem Tag werden auch noch die Ausführungen, warum das Gutachten der medizinischen Sachverständigen vom 10.01.2029 unschlüssig und unzureichend seien, nachgereicht.

25. Mit Schreiben vom 03.12.2019 teilte das Bundesverwaltungsgericht mit, dass der Zeuge antragsgemäß geladen werde, und forderte die Beschwerdeführerin auf, die avisierten Ausführungen, weswegen das medizinische Sachverständigengutachten unschlüssig und unzutreffend sei, bis spätestens 10.01.2020 dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen.

26. Mit Eingabe vom 10.01.2020 gab die Beschwerdeführerin durch ihren anwaltlichen Vertreter eine Äußerung ab und legte Urkunden vor. In dieser Äußerung wird eine formlose Nachricht des beantragten Zeugen wiedergegeben, wonach dieser an der Expertise der medizinischen Sachverständigen, welche auch eine Fachärztin für Anästhesie sei, zur Erstellung derartiger Gutachten zweifle. Es würden aktuelle EEGs, PET oder (Funktions)MRT, Laborparameter oder eine neuropsychologische Testung völlig fehlen. Die Schlussfolgerungen der medizinischen Sachverständigen seien in Zusammenfassung nicht ausreichend, um die Vordiagnosen einer komplexen Traumafolgestörung zu widerlegen. Zudem habe die medizinische Sachverständige die im letzten Fachgutachten angegebene mögliche alternative Ursache (zusätzlicher) organischer Faktoren, nämlich einem schädlichen Substanzgebrauch nicht berücksichtigt. Er sei gerne bereit, den Kontakt zu entsprechenden Experten aus dem Fachbereich der Neurologie (nicht Anästhesie) zu vermitteln. Die Beschwerdeführerin beantragte, ein Obergutachten einzuholen oder einen weiteren Sachverständigen zu beauftragen.

27. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte diese Äußerung der Beschwerdeführerin an die medizinische Sachverständige und die belangte Behörde zur Information.

28. Die medizinische Sachverständige gab mit Eingabe vom 21.01.2020 eine Äußerung ab und stellte klar, dass sie gerichtlich beeidete Sachverständige und Fachärztin unter anderem auch in den Fachbereichen Neurologie, Psychiatrische Kriminalprognostik, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin sei. Die Äußerung des Arztes, welchen die Beschwerdeführerin beigezogen habe, sei zwar persönlich untergriffig und herabsetzend, vermöge jedoch keine mangelhafte Befunderhebung aufzuzeigen.

29. Am 27.01.2020 fand eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin und deren anwaltlicher Vertreter, eine Vertreterin der belangten Behörde, die beigezogene medizinische Sachverständige und der von der Beschwerdeführerin namhaft gemachte Zeuge teilnahmen. Der erkennende Senat stellte fest, dass die Beschwerdeführerin von ihrem Vater einmal im Alter von ca. 12 Jahren und mehrfach im Alter zwischen 17 und 20 Jahren missbraucht worden sei. Der von der Beschwerdeführerin namhaft gemachte Zeuge, welcher die Beschwerdeführerin in mehreren Terminen psychiatrisch untersucht hatte, erläuterte, er habe bei der Beschwerdeführerin die Diagnosen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und rezidivierender depressiver Episoden gestellt. Außerdem sei eine weitere neurologische Abklärung empfohlen worden, da der Eindruck entstanden sei, dass auch eine körperliche Beeinträchtigung eine Rolle spielen könnte. Der Zeuge führte weiters aus, die von der beigezogenen nervenfachärztlichen Sachverständigen getroffene Diagnose einer Masern-Mumps-Enzephalitis sei mangels entsprechender Befunde, die das tatsächliche Vorliegen einer Masern-Enzephalitis belegen würden, nicht nachvollziehbar. Befragt, wie lange nach dem letzten Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung abklingen könne, oder ob eine solche nie abklinge, gab der Zeuge an, eine spontane Remission oder ein Behandlungserfolg könnten zum Abklingen führen, wobei aber besonders bei sexuellem Missbrauch oder nach Folter die Beschwerden oft langfristig und sehr schwer behandelbar seien. Bei der Beschwerdeführerin sei die posttraumatische Belastungsstörung nicht abgeklungen und liege weiterhin vor. Diese äußere sich in Schlafstörungen, Alpträumen bezogen auf Missbrauchserfahrungen und verstärkt auftretenden Flashbacks, wenn sie mit den belastenden Erinnerungen oder ähnlichen Situationen konfrontiert sei und führe zu einer verstärkten Angstreaktion, starkem emotionalem Leiden und einer verstärkten Schreckreaktion, sowie einem Vermeidungsverhalten.

Das Bundesverwaltungsgericht ersuchte die beigezogene gerichtlich beeidete Sachverständige und Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie um die Abgabe einer ergänzenden gutachterlichen schriftlichen Stellungnahme. Es werde um gutachterliche Beurteilung ersucht, ob der sexuelle Missbrauch durch den Vater dauerhafte psychische Folgen im Ausmaß einer psychiatrischen Erkrankung nach sich gezogen habe. Außerdem wurde ersucht, die im Vorgutachten gestellte Diagnose einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung im Rahmen einer Masern-Musmpsinfektion insoweit zu präzisieren, als auszuführen sei, welche konkreten Befunde dieser Diagnose zu Grunde liegen würden. Des Weiteren solle erörtert werden, worauf die organische Persönlichkeitsstörung im Detail gegründet sei, ob die Ursache eine Enzephalitis sein könne, wie diese dokumentiert worden sei und, sollte es sich nicht um eine Enzephalitis handeln, welche andere Ursachen für die Persönlichkeitsstörung angenommen werden würden. Schließlich ersuchte das Bundesverwaltungsgericht, Punkt 5. des Vorgutachtens in einer auch für medizinische Laien nachvollziehbaren Sprache zu formulieren.

30. Die Sachverständige führte in der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 13.03.2020 zusammengefasst aus, dass sich bei der Beschwerdeführerin eine organische Persönlichkeitsstörung und eine episodisch verlaufende depressive Erkrankung diagnostizieren lassen würden, wobei die organische Persönlichkeitsstörung eine akausale Genese habe. Der fortgesetzte Prozess der Vernachlässigung und Verwahrlosung in der Ursprungsfamilie, die erlebten Misshandlungen in der Zeit der Fremdunterbringung und der sexuelle Missbrauch durch den eigenen Vater hätten bei der Beschwerdeführerin die adäquate seelische Entwicklung, Bindungsfähigkeit sowie Ausbildung der für ein Kind unabdingbar erforderlichen emotionalen Sicherheit verunmöglicht, und folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Aufrechterhaltung und Ausprägung der depressiven Störung beigetragen. Welche der drei genannten Faktoren und in welcher Gewichtung maßgeblich den Verlauf der depressiven Erkrankung negativ beeinflusst habe, lasse sich gutachterlich nicht bewerten. Die Beschwerdeführerin sei als Kleinkind wegen einer Masernerkrankung stationär behandelt worden, was nur bei schweren Krankheitsverläufen notwendig sei. Als bleibende gesundheitliche Schäden würden sich eine komplexe beidseitige okulomotorische Störung (Schielen) und Teillähmung des Gaumensegels rechts erkennen. Enzephalitis sei die häufigste schwere Komplikation einer Maserninfektion. Andere hirnschädigende Erkrankungen oder Traumata der Beschwerdeführerin seien weder aus der Anamnese noch aus der Dokumentation bekannt. Die im Rahmen des stationären Aufenthaltes in der psychiatrischen Klinik des XXXX klinisch erhobenen Symptome als auch operationalisierte Verfahren hätten die Diagnose einer organischen Persönlichkeitsstörung ergeben. Die EEG- und MRT-Untersuchungen hätten diffuse Veränderungen im zentralen Nervensystem gezeigt. Es könne mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass eine virale Enzephalitis im Rahmen der Maserninfektion bei der Beschwerdeführerin für die Ausbildung einer organischen Persönlichkeitsstörung verantwortlich sei. Die psychometrischen und klinischen Symptome würden für die organische Hirnschädigung sprechen. Zur Frage, weshalb eine Kausalität der Erlebnisse im Heim und der sexuellen Übergriffe für die vorliegenden psychischen Gesundheitsschädigungen verneint werde, führte die Sachverständige aus, dass sowohl organische (genetische Veranlagung) als auch reaktive Ursachen (negative psychosoziale individuell belastende Ereignisse) als Pathogenese depressiver Störungen angenommen werden könnten. Die auslösenden schädlichen Faktoren könnten bei genetischer Veranlagung zur Manifestation einer depressiven Episode führen, oder den Verlauf dieser negativ beeinflussen.

31. Mit Schreiben vom 31.03.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht die ergänzende gutachterliche Stellungnahme den Parteien des Verfahrens im Rahmen des Parteiengehörs und räumte die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

32. Die Beschwerdeführerin gab durch ihren anwaltlichen Vertreter mit Eingabe vom 15.05.2020 eine umfangreiche Äußerung ab. Darin wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass es laut der Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen drei Ursachen seien, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Aufrechterhaltung und Ausprägung der depressiven Störung beigetragen hätten. Es seien dies der fortgesetzte Prozess der Vernachlässigung und Verwahrlosung in der Ursprungsfamilie, die erlebten Misshandlungen in der Zeit der Fremdunterbringung und der sexuelle Missbrauch durch den eigenen Vater. Es sei der Sachverständigen nicht möglich zu bewerten, in welcher Gewichtung diese Ereignisse einen Anteil an der Entwicklung der depressiven Erkrankung der Beschwerdeführerin gehabt hätten, was als Mangel der gutachterlichen Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen gerügt werde. Sollte aber die genetische Disposition der Beschwerdeführerin eine der drei Faktoren sein, so sei festgehalten, dass in der gutachterlichen Stellungnahme angeführt worden sei, dass bei der Beschwerdeführerin genetisch bedingt eine geringe Toleranz gegenüber seelischen, körperlichen und biographischen Belastungsfaktoren anzunehmen sei. Es finde sich an keiner Stelle der gutachterlichen Äußerung eine Begründung für diese Annahme, es handle sich vielmehr um eine Vermutung, welche zum Nachteil der Beschwerdeführerin ausgelegt werde. Es werde daher beantragt, einen anderen Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen.

Die medizinische Sachverständige gehe trotz des mehrfachen sexuellen Missbrauchs durch den Vater „nur“ vom Vorliegen einer episodisch verlaufenden depressiven Erkrankung aus. Die Ansicht der Beschwerdeführerin, dass eine posttraumatische Belastungsstörung nach sechs Monaten abklinge, sei unzutreffend. Ebenso unzutreffend sei die Meinung der Sachverständigen, dass die Diagnose der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung wegen der organischen Persönlichkeitsstörung ausgeschlossen sei. Es würden hierzu zumindest drei zitierte medizinische Befunde vorliegen, die Gegenteiliges belegen würden. Es werde zudem auf die Ausführungen des bei der letzten Beschwerdeverhandlung einvernommen Zeugen verwiesen, welcher zudem noch eine ergänzende Stellungnahme abgegeben habe, welche der Äußerung angeschlossen sei. Es werde daher die Einholung eines Übergutachtens beantragt.

Die Beschwerdeführerin wies auf Widersprüche im Zusammenhang mit dem angeblichen Vorliegen einer organisch bedingten Persönlichkeitsstörung hin. Es werde beantragt, zur Beurteilung dieser Frage einen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Neuropsychologie zur Fragestellung der psychologischen Diagnostik nach Enzephalitis. Von Enzephalitis Langzeitfolgen und deren Verhältnis zu Traumafolgestörungen beizuziehen. Schließlich werde beantragt, die Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen in einer eigenen mündlichen Beschwerdeverhandlung zu erörtern.

Die Beschwerdeführerin schloss der Äußerung eine Emailnachricht von Prof. Dr. XXXX vom 12.05.2020 an.

33. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte diese Äußerung am 18.05.2020 an die belangte Behörde. Diese gab keine Stellungnahme ab.

34. Die Beschwerdeführerin übermittelte durch ihren anwaltlichen Vertreter mit Eingabe vom 18.06.2020 einen neuropsychiatrischen Befundbericht und eine gutachterliche Stellungnahme von Univ. Doz. Dr. XXXX , Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und neuropsychiatrischer Sachverständiger vom 11.06.2020. Darin kam er zu den Diagnosen Z.n. reaktiver Bindungsstörung im Kindesalter, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, ICD-10: F94.1, (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, anhaltend, im Sinne von ICD-10: F62.0 bzw. nach DSM 5 und rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, F33.1. Er könne einen Zusammenhang zwischen den Misshandlungen und dem Missbrauch und der Verhinderung der den kognitiven Fähigkeiten entsprechenden Ausbildung und des Fortkommens der Beschwerdeführerin feststellen. Es sei dadurch so gekommen, dass die Beschwerdeführerin sehr verzögert im fünften Lebensjahrzehnt aus eigenem Antrieb einen Ausbildungsstand und damit eine Berufsqualifikation und ein Einkommen erreicht habe, das sie ohne Beeinträchtigung und ohne fehlende Förderung von Seiten der Heimsituation schon mit 23 Jahren hätte erreichen können.

35. Mit Eingabe vom 01.07.2020 legte die Beschwerdeführerin durch ihren anwaltlichen Vertreter den Entlassungsbefund aus dem Zentralkinderheim vom 25.02.1960 vor, aus welchem hervorgehe, dass die Beschwerdeführerin seit ihrer Geburt unter den Augenproblemen leide und den Entlassungsbrief des XXXX vom 20.12.1964, woraus ersichtlich sei, dass der Aufenthalt im Krankenhaus wegen der Masernerkrankung nur einen Tag betragen habe.

36. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.09.2020 eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin, eine Vertreterin der belangten Behörde und die medizinische Sachverständige teilnahmen. Auf deren eigenen Wunsch und im Einvernehmen mit dem erkennenden Senat verzichtete die Beschwerdeführerin auf eine persönliche Teilnahme an der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Sämtliche davor dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Unterlagen und Äußerungen wurden den Parteien des Verfahrens mit der Ladung für diese Verhandlung übermittelt.

Im Zuge dieser Beschwerdeverhandlung erfolgte eine ausführliche Gutachtenserörterung, wobei die medizinische Sachverständige auch auf den von der Beschwerdeführerin vorgelegten neuropsychiatrischen Befundbericht und die gutachterliche Stellungnahme von Univ. Doz. Dr. XXXX einging. Demnach leide die Beschwerdeführerin an einer organisch bedingten Persönlichkeitsstörung und an einer endogenen rezidivierenden Depression. Laut ICD-11 bestehe keine Kausalität zwischen Trauma und Depression, auch ICD-10 sehe Depression nicht als posttraumatische Erkrankung an. Anhand einem von der medizinischen Sachverständigen zur Verfügung gestellten Diagnoseschlüssel für Posttraumatische Belastungsstörungen wurde von dieser im Detail erörtert, weswegen sie auf Basis der von ihr durchgeführten psychiatrischen Untersuchung der Beschwerdeführerin zum Ergebnis komme, dass bei der Beschwerdeführerin keine posttraumatische Belastungsstörung vorliege.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1      Zur Beschwerdeführerin und den allgemeinen Voraussetzungen:

Die Beschwerdeführerin ist österreichische Staatsbürgerin.

Sie beantragte am 16.01.2017 beim Sozialministeriumservice den Ersatz des Verdienstentganges nach dem Verbrechensopfergesetz.

Die Beschwerdeführerin wurde am XXXX als XXXX in Wien als voreheliches Kind ihrer Mutter geboren. Die Beschwerdeführerin war eine Frühgeburt und wog bei ihrer Geburt nur 1 Kilo und 80 Gramm. Die Mutter der Beschwerdeführerin war kränklich und nicht in der Lage, für ihre Tochter zu sorgen. Aufgrund drohender Verwahrlosungsgefahr wurde die Beschwerdeführerin am 08.10.1959 in Gemeindepflege der Stadt XXXX übernommen. Sie war bis zum 26.02.1960 im Zentralkinderheim untergebracht. Sie wurde dann wieder von ihrer Mutter betreut. Die Eltern der Beschwerdeführerin heirateten im Juni 1960, weswegen der Familienname der Beschwerdeführerin auf XXXX geändert wurde. Die häuslichen Verhältnisse der Eltern der Beschwerdeführerin waren ärmlich, der Vater hatte kein Interesse an seinem Kind. Die Eltern der Beschwerdeführerin ließen sich am 18.09.1964 scheiden. Die Beschwerdeführerin lebte sodann gemeinsam mit ihrer Mutter bei einer Freundin der Mutter mit deren Kindern. Die Mutter hatte verschiedene, unterschiedlich lange Männerbekanntschaften. Als Ihre Mutter einen Hausbesorgerposten bekam, war die Beschwerdeführerin sehr viel alleine.

Die Mutter der Beschwerdeführerin heiratete am 01.08.1969 ein zweites Mal, ihr Ehemann verweigerte es der Beschwerdeführerin, dass diese bei ihrer Mutter leben konnte. Aufgrund dieses Umstandes war die Beschwerdeführerin kurzfristig bei einer Freundin ihrer Mutter untergebracht.

Aufgrund Obdachlosigkeit wurde die Beschwerdeführerin am 02.09.1969 im Kinderheim XXXX , in XXXX untergebracht. Dort war die Beschwerdeführerin sowohl physischen als auch psychischen Misshandlungen durch die ErzieherInnen und Schwestern ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin wurde sowohl mit der Hand, als auch mit diversen Gegenständen geschlagen, im Dachboden eingesperrt, gedemütigt und beschimpft. Zudem wurde ihr das Essen entzogen, und sie musste bis zum Erbrechen essen. Es gab stundenlange Fußmärsche.

Bereits kurz nach der Heimunterbringung wurde bei der Beschwerdeführerin eine hohe Myopie (Kurzsichtigkeit) festgestellt, weswegen diese auch Brillenträgerin war. Aufgrund der starken Sehschwäche war die Beschwerdeführerin stark beeinträchtigt.

Der Stiefvater lehnte die Beschwerdeführerin weiterhin ab, weswegen sich diese auch über die Sommerferien in Gemeindepflege befand. Der Stiefvater der Beschwerdeführerin war gewalttätig.

Im Alter von 12 Jahren wurde die Beschwerdeführerin von ihrem leiblichen Vater missbraucht, indem sie ihn in einem Erotikkino sexuell befriedigen musste.

Nach einer „Berufsberatung“ wurde beschlossen, dass die Beschwerdeführerin die Handelsschule besuchen soll. Die Mutter der Beschwerdeführerin war zu der Zeit arbeitslos, die familiäre Situation war sehr angespannt, weswegen die Beschwerdeführerin am 22.08.1973 nach XXXX in ein Heim transferiert wurde.

Am 31.08.1974 wurde die Beschwerdeführerin im Heim der Schwestern zur Göttlichen Liebe, in der der XXXX , privat untergebracht und aufgrund der Selbsterhaltungsfähigkeit der Beschwerdeführerin außer Stand genommen.

Mit 17 Jahren zog die Beschwerdeführerin zuerst zu ihrer Mutter und sodann auf deren ausdrücklichen Wunsch und mit Genehmigung der Fürsorge zu ihrem Vater, der sie im Jahr 1978 auf die Straße setzte.

Während die Beschwerdeführerin im Alter zwischen 17 und 20 Jahren bei ihrem Vater lebte, wurde sie mehrfach von ihm sexuell missbraucht.

Die Beschwerdeführerin lernte, kurz nach dem sie ihr Vater hinausgeworfen hatte, ihren ersten Ehemann kennen, welchen sie ca. sechs Monate nach dem Kennerlernen heiratete.

Die Mutter der Beschwerdeführerin starb im Jahr 1982.

Die erste Ehe der Beschwerdeführerin war von Gewalt geprägt, die Scheidung erfolgte im Jahr 1983.

Die Beschwerdeführerin heiratete am 30.06.1983 ihren zweiten Ehemann, XXXX . Sie nahm den Familiennamen ihres Ehemannes an. Am 24.07.1985 kam deren gemeinsame eheliche Tochter, XXXX , auf die Welt.

Der Vater der Beschwerdeführerin verstarb im Jahr 1989.

Aufgrund der der Beschwerdeführerin während des Heimaufenthaltes widerfahrenden Misshandlungen wurde der Beschwerdeführerin von der Opferschutzeinrichtung WEISSER RING im Auftrag der Stadt XXXX eine finanzielle Entschädigungsleistung in der Höhe von € 20.000,- sowie die Übernahme der Kosten einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung für 80 Therapiestunden zugesprochen.

1.2     Ausbildungs-, Beschäftigungsverlauf und Lebensumstände der Beschwerdeführerin:

Nach dem Hauptschulabschluss und einem Jahr an der Handelsschule war die Beschwerdeführerin in verschiedenen Berufen, wie etwa als Stenotypistin, Stubenmädchen, Heimhilfe, Hilfsarbeiterin und Bürohilfe tätig. Zuletzt war sie bis 31.05.2002 bei einem Bekleidungsunternehmen angestellt. Danach folgte eine Zeit, in welcher die Beschwerdeführerin Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, Überbrückungshilfe bezog, bevor sie ab 01.08.2005 bis 31.08.2006 einen Übergangsbezug von der Pensionsversicherungs-anstalt erhielt.

Seit September 2006 bezieht die Beschwerdeführerin Invaliditätspension, im Jahr 2014 wurde diese wegen der Diagnose einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung ICD-10: F62.0 und Angst und depressive Störung gemischt ICD-10: F41.2 und als dauernd invalid eingestuft.

1.3      Festgestellte Funktionsbeeinträchtigungen der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin leidet an folgenden Gesundheitsschädigungen:

-        Organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung

-        Störung der Hirnnerven in Form einer komplexen Okulomotorikstörung und Störung der Gaumeninnervation

-        Rezidivierende depressive Störung

-        Hypothyreose

-        Diffuse Gastritis

Die Beschwerdeführerin befand sich in der Zeit vom 20.09.2005 bis 27.10.2005 und von 05.12.2005 bis 22.12.2005 in stationärer Behandlung des XXXX in der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie und Evaluationsforschung. Sie hatte im Zeitraum vom 14.03.2006 bis 24.04.2006 einen Rehabilitationsaufenthalt in der Rehaklinik XXXX .

Die Beschwerdeführerin leidet an keiner posttraumatischen Belastungsstörung, an keiner „komplexen“ posttraumatischen Belastungsstörung und an keiner komplexen Traumafolgestörung.

1.4     Kausalität

Es besteht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit kein Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Misshandlungen in den Kinderheimen und den sexuellen Missbräuchen durch den Vater und den Gesundheitsschädigungen, welche der Grund für die aktuelle Arbeitsunfähigkeit, bzw. für die fehlende Berufsqualifikation der Beschwerdeführerin sind.

2.       Beweiswürdigung:

2.1     Zur Beschwerdeführerin und den allgemeinen Voraussetzungen:

Diese Feststellungen wurden anlässlich der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 außer Streit gestellt und beruhen im Wesentlichen auf den im Verwaltungsakt aufliegenden Unterlagen.

Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin als Frühgeburt auf die Welt kam, beruht auf dem von ihr vorgelegten fachärztlichen Gutachten Dr. XXXX vom 02.07.2005 (vgl. AS 9).

2.2     Zum Ausbildungs-, Beschäftigungsverlauf und den Lebensumständen der Beschwerdeführerin:

Diese Feststellungen wurden anlässlich der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 außer Streit gestellt und beruhen im Wesentlichen auf den im Verwaltungsakt aufliegenden Unterlagen. Die Diagnosen, welche der dauerhaften Invalidität der Beschwerdeführerin zugrunde liegen, beruhen auf dem im Akt aufliegenden ärztlichen Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt vom 29.09.2014 (vgl. AS 124-128, insbesondere AS 126).

2.3     Zu den festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin leidet an mehreren Erkrankungen und befindet sich seit Jahren in medizinischer Behandlung, wie dies durch die zahlreichen im gegenständlichen Verfahren vorgelegten medizinischen Befunde belegt wird.

Laut dem von der beigezogenen medizinischen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Psychiatrie und Neurologie erstellten medizinischen Gutachten vom 10.10.2019, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 04.09.2019 (vgl. OZ 5) und die ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 13.03.2020 (vgl. OZ 25), welche in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 01.09.2020 (vgl. OZ 37) präzisiert wurde, leidet die Beschwerdeführerin an den festgestellten Krankheiten.

2.3.1 Zu den Feststellungen zur Störung der Hirnnerven in Form einer komplexen Okulomotorikstörung und Störung der Gaumeninnervation, zur Hypothyreose und zur diffusen Gastritis

Diese Feststellungen beruhen auf dem medizinischen Gutachten der beigezogenen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Psychiatrie und Neurologie vom 10.10.2019, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 04.09.2019 (vgl. OZ 5) und sind von den Parteien des Verfahrens unbestritten geblieben.

2.3.2   Zur Feststellung der organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung

Die Feststellung des Vorliegens der organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung bei der Beschwerdeführerin beruht einerseits im Wesentlichen auf die Ausführungen der medizinischen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Psychiatrie und Neurologie in der letzten mündlichen Beschwerdeverhandlung am 01.09.2020, in welcher sie ihr bisher im Verfahren vorgelegtes medizinischen Gutachten vom 10.10.2019, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 04.09.2019 und ihre ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 13.03.2020 insoweit präzisierte, als nicht mehr das Vorliegen einer Maser- Mumpsinfektion als organische Ursache für diese organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung herangezogen wird.

Diese Präzisierung erfolgte als Reaktion auf die Vorlage des Entlassungsbefundes des Zentralkinderheimes vom 25.02.1960, aus welchem hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin seit ihrer Geburt Augenprobleme hat und den Entlassungsbrief des XXXX vom 20.12.1964, aus dem hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin zur Behandlung der Masern nur einen Tag Aufenthalt im Krankenhaus hatte (vgl. OZ 32).

Die Genese dieser organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung ist nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens ungeklärt. Es handelt sich dabei jedenfalls um eine neurologische Erkrankung, die in einer Störung der Hirnsubstanz begründet ist. Derartige Hinweise auf das Vorliegen einer Störung der Hirnsubstanz bei der Beschwerdeführerin ergeben sich insbesondere aus der komplexen Schielerkrankung, die zentral bedingt ist, und der Teillähmung des Gaumensegels der Beschwerdeführerin (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 01.09.2020, S 5 und 12). Es gibt dazu auch eine Austestung, welche im Jahr 2005 im XXXX vorgenommen wurde (vgl. AS 16f und AS 223f), wobei in diesem Befundbericht vom 27.10.2005 erstmals in der Diagnose der Verdacht auf das Vorliegen einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung gestellt wurde (vgl. AS 17). Auch der Status post Komplikationen im Rahmen einer Masern- Mumpsinfektion findet sich in dieser Diagnose. Diese Diagnosen werden durch den weiteren Befundbericht des XXXX vom 22.12.2005 (vgl. AS 13f und AS 270f) bestätigt.

Selbst der von der Beschwerdeführerin namhaft gemachte Zeuge, ao Prof Dr. XXXX führt in seinem ambulanten Pateientenbrief vom 15.10.2018 dazu aus: „Der Verdacht auf eine organische Verhaltenstörung (F07.1) ehesten im Sinne von Spätfolgen einer Masern- Mumpserkrankung mit Gehirnbeteiligung kann im Rahmen der Befundlage nicht sicher beantwortet werden, erscheint aber wahrscheinlich, … „(vgl. AS 279).

Auch die Beschwerdeführerin selbst gibt dieses Leiden in ihrem Antrag auf Ersatz des Verdienstentganges nach dem VOG als eine der Gesundheitsschädigungen, welche sie durch die Tat erlitt, an (vgl. AS 4).

Aus den schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen der beigezogenen medizinischen Sachverständigen ergibt sich daher, auch unter Berücksichtigung der weiteren vorliegenden medizinischen Befunde, dass diese an einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung leidet, weswegen die entsprechende Feststellung getroffen wird.

2.3.3   Zur Feststellung der rezidivierenden depressiven Störung:

Der chronologisch erste fachärztliche Befundbericht, in welchem diese Diagnose aufscheint, ist jener von Dr. XXXX , einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 24.01.2005 (vgl. AS 7 und AS 235). In diesem Befundbericht findet sich ein Hinweis, wonach die Beschwerdeführerin bereits seit 1980 (Zeitpunkt der ersten Ehe der Beschwerdeführerin) an einer rezidivierend depressiven Erkrankung leidet. Dies wird auch durch das von der Beschwerdeführerin vorgelegte fachärztliche Gutachten von Dr. XXXX , einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 02.07.2005, bestätigt, wonach diese bei der Beschwerdeführerin eine Major Depression, Panikattacken, Soziophobie und Klaustrophobie diagnostizierte (vgl. AS 8 bis 12 und AS 236 – 240). Diese medizinischen Befunde und fachärztlichen Gutachten dienten zur Vorlage bei der Pensionsversicherungsanstalt, was sich auch damit in Einklang bringen lässt, dass die Beschwerdeführerin festgestellter Maßen seit 01.08.2005 einen Übergangsbezug von der Pensionsversicherungsanstalt erhielt und seitdem arbeitsunfähig ist.

Die Beschwerdeführerin gab bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 befragt dazu, an welchen Krankheiten sie aktuell leidet an: „An meinen Depressionen, an meinem Kopfweh und an diversen Alterserscheinungen etc. und das, woran ich am meisten leide ist, dass ich gerne wieder vollwertig leistungsfähig wäre, zum Beispiel, wenn Sie mir jetzt sagen, ich soll den Tisch aufräumen, würde ich das gerne machen, aber ich komme nicht einmal bis dorthin, um überhaupt anzufangen. Der Gedanke ist da, aber ich schaffe es nicht.“ (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 27.01.2020, S 6).

Die Beschwerdeführerin berichtet bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 auch darüber, dass im Alter von 11 Jahren und dann von 12 Jahren die ersten depressiven Zustände bei ihr aufgetreten seien (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 27.01.2020, S 7f).

Wie die medizinische Sachverständige in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 dazu erläuterte, hatte die Beschwerdeführerin im Alter von 11 Jahren, bei für sie vollkommen unerwarteten zweiten Unterbringung im Heim durch die Mutter, und im Alter von 12 Jahren, durch den ersten sexuellen Missbrauch durch den Vater, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit jeweils eine akute Belastungsreaktion, eine Reaktion auf eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung. Derartige akute Belastungsreaktionen dauern üblicherweise bis zu einer Woche an (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 27.01.2020, S 11). Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine depressive Episode, wie dies die Beschwerdeführerin annimmt.

Im Wesentlichen ist – mit wenigen Ausnahmen - aus allen im gegenständlichen Verfahren vorlegten medizinischen Befunden, fachärztlichen und gutachterlichen Stellungnahmen zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin seit Jahren an einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10: F33) leidet.

Auch diese Gesundheitsschädigung wird von der Antragstellerin selbst in ihrem Antrag vom 16.01.2017 angeführt (vgl. AS 4).

Nachdem auch die beigezogene medizinische Sachverständige schlüssig und nachvollziehbar diese Diagnose erstellte, wird die entsprechende Feststellung getroffen.

2.3.4   Zur Feststellung, dass bei der Beschwerdeführerin keine posttraumatische Belastungsstörung, keine „komplexe“ posttraumatische Belastungsstörung und keine komplexe Traumafolgestörung vorliegt:

Es ist der Beschwerdeführerin, trotz der Vorlage von zahlreichen Befunden und gutachterlichen Stellungnahmen, nicht gelungen nachzuweisen, dass diese an einer posttraumatischen Belastungsstörung (in der Folge auch PTBS), bzw. an einer „komplexen“ posttraumatischen Belastungsstörung oder an einer komplexen Traumafolgestörung leidet.

Erstmals findet sich im bereits genannten Befundbericht des XXXX vom 22.12.2005 die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung, ICD-10: F43.1“. Diese Diagnose wird im Abschlussbericht der Reha Klinik für XXXX vom 25.04.2006 bestätigt, wobei auch der Verdacht auf organische Verhaltensstörung diagnostiziert wird (vgl. AS 164ff).

Im PVA Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 12.10.2006 wird erstmals eine rezidivierend depressive Störung bei Borderline - Persönlichkeitsstruktur ICD-10: F33.1 diagnostiziert, nicht jedoch eine posttraumatische Belastungsstörung (vgl. AS 143f).

In den weiteren Gutachten der PVA aus den Jahren 2008 (vgl. AS 140f), 2010 (vgl. AS 137f) und 2011 (vgl. AS 134f) und 2014 (vgl. AS 22ff, 123 ff, 209ff und 266ff) werden unterschiedliche Diagnosen zu den psychischen Leiden der Beschwerdeführerin gestellt.

Es folgen eine Reihe von Untersuchungen, welchen sich die Beschwerdeführerin unterzog, wobei die Diagnosen auch in weiterer Folge uneinheitlich blieben.

Daher setzte sich der erkennende Senat in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 01.09.2020 gemeinsam mit der befassten medizinischen Sachverständigen und dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin ausführlich mit den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung auseinander (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 01.09.2020, S 10f). Diese Analyse erfolgte anhand der Kriterien bei der Begutachtung für eine PTBS nach ICD-10 laut einem von der medizinischen Sachverständigen vorgelegten Artikel von Prof. Dr. med. Harald Dreßnig aus dem Hessischen Ärzteblatt 05/2016, S 271ff (vgl. Beilage ./1 der NS der Beschwerdeverhandlung vom 01.09.2020). Darin wird anhand von fünf Kriterien (A-E) festgestellt, ob eine PTBS vorliegt, oder nicht.

Im Einzelnen ergab die gemeinsam durchgeführte Analyse folgendes Ergebnis:

Die Beschwerdeführerin war durch die erlebten Misshandlungen im Heim und durch die andauernden Vergewaltigungen durch ihren eigenen Vater festgestellter Maßen kurz- und langanhaltenden Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung ausgesetzt, welche nahezu bei jeder Person tiefgreifende Verzweiflung auslösen würden. (Punkt A).

Im Zuge der psychiatrischen Untersuchung bei der medizinischen Sachverständigen am 04.09.2019 erlebte die Beschwerdeführerin jedoch keine Flashbacks, das ist das kraftvolle Wiedererinnern des Erlebten nach einem Schlüsselreiz. Dabei fühlt sich die Person für kurze Zeit, meist einige Sekunden und selten länger als drei Minuten, in die Situation zurückversetzt bzw. erlebt sie erneut. Die Beschwerdeführerin konnte über das Erlebte ohne sichtbare Probleme erzählen. Daher trifft Kriterium B der genannten Kriterienliste bei der Beschwerdeführerin nicht zu (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 01.09.2020, S 10), wonach Flashbacks eines der Symptome einer PTBS sind.

Auch ein Wiedererleben der Ereignisse, wie diese in dem Kriterienkatalog unter Punkt B beschrieben werden, konnte bei der psychiatrischen Untersuchung am 04.09.2019 bei der medizinischen Sachverständigen nicht festgestellt werden.

Die Beschwerdeführerin zeigte bei der psychiatrischen Untersuchung am 04.09.2019 auch keine der im Cluster C dieser Kritierienliste aufgezählten Symptome des Vermeidungsverhaltens. Vielmehr schilderte die Beschwerdeführerin ihre Erlebnisse sehr genau und ausführlich (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 01.09.2020, S 11).

Die unter Cluster D der Kriterienliste aufgezählten Symptome sind unspezifisch. Die vollständige oder teilweise Unfähigkeit der Beschwerdeführerin, sich im Rahmen der Untersuchung an wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern, waren für die medizinische Sachverständige nicht feststellbar. Die Beschwerdeführerin war bei der Untersuchung am 04.09.2019 gereizt, jedoch konnten bei der Untersuchung keine gröberen Konzentrationsschwierigkeiten und auch keine Hypervigilanz, dh Aufregung, festgestellt werden. Die Gereiztheit der Beschwerdeführerin kann auch Symptom von anderen Krankheiten sein (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 01.09.2020, S 11).

Laut Punkt E der Kriterienliste treten diese Symptome laut Punkte B, C und D innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende der Belastungsperiode auf.

Aus dem Artikel ist auch zu entnehmen, dass dann, wenn die diagnostischen Kriterien der PTBS nicht vollumfänglich erfüllt sind, in der Praxis häufiger Begriffe einer „komplexen posttraumatischen Belastungsstörung“ bzw. der „komplexen Traumafolgestörung“ verwendet werden. Der Autor weist darauf hin, dass diese Begriffe im Gutachten nicht verwendet werden sollen, da diese zumindest bisher in keinen der einschlägigen Diagnosemanuale aufgeführt sind.

Bei der Beschwerdeführerin finden sich ab dem Jahr 2017 Befunde mit genau diesen Diagnosen. Es sei als Beispiel die Diagnosen der Psychotherapeutin der Beschwerdeführerin, Mag. XXXX , vom 11.09.2017 und vom 12.09.2018 genannt, welche eine „Traumafolgestörung in Form einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung“ feststellt (vgl. AS 156 und AS 288). Frau Mag. XXXX weist auch ausdrücklich darauf hin, dass eine derartige Symptomatik in ICD-10 fehlt (vgl. AS 288). Auch die klinische Psychologin Mag. XXXX kommt in ihrem psychologischen Befund vom 12.09.2018 zur Diagnose einer „komplexen Traumafolgestörung“ (andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung) (vgl. AS 285).

Nachdem die Beschwerdeführerin, wie festgestellt, unter einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung leidet, schließt dies jedoch die Diagnose andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, ICD-10: F62.0, aus (vgl. OZ 5, S 17).

Auch der von der Beschwerdeführerin namhaft gemachte und bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 einvernommene Zeuge, Herr Univ. Prof. Dr. XXXX , diagnostiziert in seinem ambulanten Patientenbrief des XXXX vom 15.10.2018 bei der Beschwerdeführerin eine „komplexe posttraumatische Belastungsstörung ICD-10: F43.1“ (vgl. AS 275 ff).

Auch in dem von der Beschwerdeführerin im Verfahren eingeholten neuropsychiatrischen Befundbericht und in der gutachterlichen Stellungnahme von Univ. Doz. Dr. XXXX vom 11.06.2020 wird unter anderem eine „(komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, anhaltend im Sinne von ICD-10: F62.0 bzw. nach DSM5 diagnostiziert (vgl. OZ 31).

Alle diese letztgenannten Befundberichte und Diagnosen sprechen dafür, dass bei der Beschwerdeführerin im Lichte der oben genannten Diagnosekriterien für eine PTBS eine derartige Erkrankung nicht mit allen Symptomen bei der Beschwerdeführerin festgestellt werden konnte. Daher folgt der erkennende Senat bei der Beurteilung der Frage, ob die Beschwerdeführerin an einer PTBS leidet, oder nicht, den klaren, schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen der beigezogenen medizinischen Sachverständigen, welche das Vorliegen einer PTBS, einer „komplexen“ PTBS und einer komplexen Traumafolgestörung, allenfalls im Sinne von ICD-10: F62.0 bei der Beschwerdeführerin verneint.

Es ist der Beschwerdeführerin in diesem Punkt, trotz der Vorlage eines eigenen neuropsychiatrischen Befundberichtes und gutachterliche Stellungnahme von Univ. Doz. Dr. XXXX vom 11.06.2020 nicht gelungen, das vorliegende medizinische Sachverständigengutachten vom 10.09.2020, samt ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 13.03.2020, präzisiert in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 01.09.2020 zu entkräften. Dies liegt vor allem in dem Umstand begründet, dass diese gutachterliche Stellungnahme aus einem einzigen Interview der Beschwerdeführerin besteht und der Mediziner alles so niederschrieb, wie ihm dies die Beschwerdeführerin erzählt haben dürfte. Dies mag für eine Anamnese erforderlich sein, es fand ganz offensichtlich bei Erstellung der gutachterlichen Stellungnahme kein Vergleich mit den im Verfahren vorgelegten zahlreichen medizinischen Befunden durch Univ. Doz. Dr. XXXX statt. Es fehlen insbesondere Angaben darüber, dass es die drohende Verwahrlosung der Beschwerdeführerin war, welche zu einer Kindesabnahme im Kleinstkindesalter der Beschwerdeführerin führte. Ebenso fehlen Angaben zu den depressiven Episoden, welche bei der Beschwerdeführerin bereits während ihrer ersten Ehe (1979 bis 1983) objektiviert sind, und auch Angaben darüber, dass die Beschwerdeführerin versuchte, sich damals das Leben zu nehmen.

Es finden sich im psychiatrischen Status (vgl. S 6 der OZ 31) keine bzw. kaum Hinweise auf Symptome einer PTBS. Er stellt eine klare Bewusstseinslage und volle Orientierung fest, was eine Dissoziation in Form von Flashbacks bei der Untersuchung ausschließt (Kriterium B laut oben zitiertem Artikel). Die Beschwerdeführerin ist in der Lage, das Erlebte umfangreich zu schildern, was gegen ein Vermeidungsverhalten spricht (Cluster C laut oben zitiertem Artikel). Univ. Doz. Dr. XXXX beschreibt im psychiatrischen Status emotionale Überreaktionen und aggressives Verhalten, jedoch werden die kognitiven und mnestischen Funktionen (Gedächtnisfunktionen) als ungestört beschrieben, was gegen Konzentrationsschwierigkeiten spricht. Es finden sich im psychiatrischen Status keine Angaben zu Schreckhaftigkeit. Daraus ergibt sich, dass die Kriterien des Cluster D des genannten Artikels auch nur teilweise erfüllt sind, was auch den Niederschlag in der Diagnose „(komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, anhaltend im Sinne von ICD-10: F62 bzw. nach DSM5“ findet. Wie schon oben ausgeführt, sollen derartige Diagnosen vermieden werden, da diese Diagnose zumindest bisher in keinem der einschlägigen Diagnosemanuale aufgeführt ist. Hinzu kommt, dass emotionale Überreaktionen und aggressives Verhalten auch bei anderen Krankheiten auftreten können, zumal die Beschwerdeführerin festgestellter Maßen an zwei (anderen) psychischen Erkrankungen leidet, welche auch diese Symptome aufweisen können. Zudem schließt, wie schon ausgeführt, die bei der Beschwerdeführerin festgestellte organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung eine Diagnose im Sinne der ICD-10: F62.0 aus (vgl. OZ 5, S 17).

Die Schlussfolgerungen des von der Beschwerdeführerin beigezogenen medizinischen Sachverständigen Dr. XXXX , wonach die Depressionen bei der Beschwerdeführerin erstmals im Alter von ca. 30 Jahren aufgetreten seien, widersprechen eindeutig den im Akt aufliegenden und von der Beschwerdeführerin selbst vorgelegten medizinischen Befunden.

Aus dem fachärztlichen Gutachten Dr. XXXX vom 02.07.2005 ist zu ersehen, dass die Beschwerdeführerin im Jahr 1980 (während ihrer ersten Ehe) Selbstmordgedanken hatte, und medikamentös eingestellt wurde (vgl. As 8ff und AS 236ff). Auch aus dem fachärztlichen Befundbericht Dr. XXXX vom 24.01.2005 ist zu folgern, dass die Beschwerdeführerin seit dem Jahr 1980 (während der ersten Ehe) an einer rezidivierenden depressiven Erkrankung leidet (vgl. AS 7 und AS 235).

Aus allen diesen Gründen kann dieser neuropsychiatrische Befundbericht und die gutachterliche Stellungnahme Dr. XXXX vom 11.06.2020 nicht als schlüssig und nachvollziehbar beweiswürdigend gewertet werden, weswegen dieses nicht der Entscheidung zur Grunde gelegt werden kann.

Die Beschwerdeführerin machte zum Beweis seiner persönlichen Wahrnehmungen im Zusammenhang mit der Beschwerdeführerin, deren Gespräche und Befundungen ihres Gesundheitszustandes den Zeugen ao. Prof. Dr. XXXX namhaft, welcher anlässlich der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.01.2020 als Zeuge einvernommen wurde (vgl. NS der Beschwerdeverhandlung vom 27.01.2020, S 12ff).

Der Zeuge ist außerordentlicher Professor für Psychiatrie an der medizinischen Universität XXXX und wissenschaftlicher Berater der Opferschutzeinrichtung WEISSER RING. Der Zeuge führte am 11.09.2018, 11.10.2018 und am 11.12.2019 mit der Beschwerdeführerin Gespräche in der Ambulanz am XXXX , weil er Opferschutzbeauftragter ist. Er erstellte dabei die Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ sowie „rezidivierende depressive Episoden“.

Wie schon mehrfach ausgeführt, ist diese erste Diagnose laut dem zitierten Artikel von Prof. Dr. med. Harald Dreßnig aus dem Hessischen Ärzteblatt 05/2016, S 271ff zumindest bisher in keinem der einschlägigen Diagnosemanuale aufgeführt, weswegen dieser die Empfehlung abgibt, in einem fachmedizinischen Gutachten diese Begriffe nicht zu verwenden.

Dass diese Ausführungen im genannten Artikel richtig sind, bestätigt auch der Zeuge selbst, wenn er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auf die Frage der vorsitzenden Richterin, ob es hierfür eine Diagnose nach ICD-10 gibt, versucht zu erklären, dass die Symptome dort zwar teilweise aufgleistet seien, es werde jedoch keine eigene Subkategorie vorgegeben. Es sei eine äußert komplizierte Angelegenheit, die dadurch entstanden sei, dass in der Forschung DSM 5 verwendet werde, während im klinischen Alltag ICD-9 und ICD-10 verwendet werden würden, die zwar laufend überarbeitet, jedoch

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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