TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/11 Ra 2020/18/0154

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Veröffentlicht am 11.11.2020
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Index

19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A H, vertreten durch Mag. Emanuel Boesch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 47 (K47), als bestellter Verfahrenshelfer, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. April 2020, W207 2191129-1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Baghlan, stellte am 22. August 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er zusammengefasst vor, Probleme mit den Taliban gehabt zu haben. Eines Nachts seien zwei Mitglieder dieser Gruppierung zum Haus seiner Familie gekommen und hätten seinen Onkel entführen wollen. Der Revisionswerber habe um sein Leben gefürchtet und sei deshalb geflohen.

2        Mit Bescheid vom 9. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß § 25a VwGG für nicht zulässig.

4        Begründend hielt das BVwG zusammengefasst fest, es könne - aus näher dargestellten Erwägungen - nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber oder seine Familie in Afghanistan Verfolgung durch Mitglieder der Taliban ausgesetzt gewesen sei. Es sei dem Revisionswerber nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihn gerichtete Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen. Zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes führte das BVwG aus, dass dahinstehen könne, ob dem Revisionswerber eine ungefährdete Rückkehr in seine Herkunftsprovinz möglich sei, da ihm die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den großen afghanischen Städten, insbesondere in Mazar-e Sharif oder Herat, zur Verfügung stehe.

5        Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit insbesondere eine Verletzung der Begründungspflicht beanstandet und dazu vorbringt, das BVwG habe seine Feststellungen nicht hinreichend von der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung getrennt, was eine nachprüfende Beurteilung der Entscheidung verhindere. Weiters macht sie geltend, das BVwG habe eine unschlüssige Beweiswürdigung in Zusammenhang mit der vorgebrachten Verfolgung durch Mitglieder der Taliban vorgenommen. Zudem sei das BVwG von der höchstgerichtlichen Judikatur zur Aktualität der Länderberichte abgewichen, da es unter anderem keine Feststellungen zur Lage aufgrund der Covid-19-Pandemie in Afghanistan getroffen habe.

6        Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

9        Zu I.:

Sofern die Revision ins Treffen führt, das BVwG habe seine Begründungspflicht verletzt, da die Feststellungen nicht hinreichend von der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung getrennt seien, erweist sich dies am Boden des angefochtenen Erkenntnisses als nicht zutreffend. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist nämlich im vorliegenden Fall sehr wohl erkennbar, von welchem Sachverhalt das BVwG basierend auf welchen beweiswürdigenden Erwägungen ausging. Wenn die Revision (vereinzelte) dislozierte Feststellungen ins Treffen führt, vermag sie nicht darzulegen, dass dies dazu führen würde, dass eine nachprüfende Kontrolle des angefochtenen Erkenntnisses verunmöglicht werde.

10       Die Revision wendet sich weiters gegen die Beweiswürdigung des BVwG. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung liegt im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung der Verwaltungsgerichte jedoch nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 16.9.2020, Ra 2020/18/0360, mwN).

11       Eine solche vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende Mangelhaftigkeit kann dem BVwG im vorliegenden Fall nicht angelastet werden. Das BVwG setzte sich in seinen beweiswürdigenden Überlegungen mit dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers ausführlich auseinander und kam gestützt auf erhebliche Widersprüche in den Angaben des Revisionswerbers (im Wesentlichen zum Hergang des behaupteten, nächtlichen Entführungsversuchs seines Onkels) zu dem Ergebnis, dass die behaupteten Verfolgungshandlungen nicht glaubhaft seien.

12       Die Revision war daher hinsichtlich des Abspruchs des BVwG über den Status des Asylberechtigten gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG zurückzuweisen.

13       Zu II.:

Zulässig und begründet erweist sich die Revision in Bezug auf die Bekämpfung der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und der darauf aufbauenden Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses.

14       Das BVwG verwies den Revisionswerber hinsichtlich seines Begehrens auf subsidiären Schutz tragend auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif oder Herat.

15       Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen hat sowie im Rahmen der Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative auf die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und die persönlichen Umstände des Asylwerbers Bedacht zu nehmen hat. Dabei hat es sich auch mit der zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden Situation in Afghanistan auseinanderzusetzen (vgl. in diesem Sinne VwGH 15.9.2020, Ra 2020/18/0152, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird; zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative vgl. auch VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0284, sowie VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0305).

16       Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass sich dem angefochtenen Erkenntnis keinerlei Feststellungen zur Lage aufgrund der aktuell vorherrschenden Covid-19-Pandemie oder deren Auswirkung auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Revisionswerber in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat entnehmen lassen.

17       Diesem Verfahrensmangel kann im vorliegenden Fall auch nicht die Relevanz abgesprochen werden, weil nicht auszuschließen ist, dass das BVwG unter Zugrundelegung aktuellen Berichtsmaterials und nach Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

18       Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG daher die entsprechenden Feststellungen zur vorherrschenden Lage in Afghanistan in Hinblick auf die Covid-19-Pandemie unter Einräumung von Parteiengehör zu treffen haben.

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

20       Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 11. November 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180154.L01

Im RIS seit

04.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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