TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/23 W191 2152769-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.09.2020
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Entscheidungsdatum

23.09.2020

Norm

AsylG 2005 §15b Abs1
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W191 2152769-2/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut Blum, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2020, Zahl 1046773208/200508520, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz – AVG und § 15b Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Vorverfahren:

1.1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 29.11.2014 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.1.2. Am 30.11.2014 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari statt.

Der BF gab an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und stamme aus XXXX , Distrikt Jaghuri, Provinz Ghazni, Afghanistan. Als Geburtsdatum wurde nach seinen Angaben der XXXX festgehalten.

1.1.3. Da beim BF Schriftstücke der ungarischen Grenzpolizei vorgefunden worden waren, führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Ungarn bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF, die negativ verliefen.

1.1.4. Das BFA hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter und veranlasste eine sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung. Aus dem Gutachten vom 07.02.2015 nach Untersuchung am 28.01.2015 ergab sich ein fiktives Mindestgeburtsdatum XXXX . Eine Minderjährigkeit des BF könne nicht ausgeschlossen werden.

1.1.5. Laut mehreren Berichten und Anzeigen der Sicherheitsorgane wurde der BF am 29.11.2015, 29.12.2015 und 23.01.2016 im Besitz von Marihuana betreten und wiederholt wegen des Verdachtes von Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz (SMG) angezeigt.

1.1.6. Mit Abschlussbericht der Polizeiinspektion Linz-Hauptbahnhof vom 01.09.2016 an die Staatsanwaltschaft wurde der BF gemeinsam mit zwei Mittätern wegen des Verdachtes der Hehlerei eines von einer Bekannten veruntreuten Mobiltelefons angezeigt.

1.1.7. Am 12.09.2016 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA, die aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetsch für die Sprache Dari abgebrochen wurde.

Der BF hatte zuvor noch angegeben, dass er ca. zehn bis elf Jahre in Kabul, XXXX gelebt habe und am XXXX geboren sei. Seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) befinde sich bei seinen Eltern in Afghanistan.

Dabei legte der BF Belege zu seinen Integrationsbemühungen vor (u.a. Teilnahmebestätigung an einem Pflichtschulabschlusslehrgang samt Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschlussprüfung).

1.1.8. Laut Aktenvermerk des BFA vom 13.09.2016 teilte das Bezirksgericht Linz telefonisch mit, dass die Obsorge für den BF an das Land Oberösterreich übertragen werde. Der BF habe beim Bezirksgericht seine Tazkira vorgelegt, der Dolmetsch habe das Geburtsdatum – mit Inhalt wie vom BF angegeben – übersetzt.

1.1.9. Laut Meldung der Sicherheitsorgane vom 09.12.2016 wurde der BF beschuldigt, am 10.09.2016 im Zuge eines Raufhandels eine andere Person verletzt zu haben, indem er sich einen Gürtel um die Hand gewickelt und das Opfer im Kopfbereich geschlagen habe.

1.1.10. Am 06.02.2017 führte das BFA eine weitere (fortgesetzte) Einvernahme des BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch. Der BF gab an, den Dolmetsch einwandfrei zu verstehen.

Zu seinen Ausreisegründen führte der BF an, dass sein Vater in Afghanistan schon lange Mitglied der Partei Hezb-e Islami sei. Aus diesem Grund habe sein Vater persönliche Feinde bei den anderen Parteien gehabt. Diese Parteien seien zwar nun nicht mehr vorhanden, ihre ehemaligen Mitglieder seien aber noch immer in Afghanistan. Die Feinde des Vaters des BF seien daher nach wie vor in Afghanistan, weshalb der Vater des BF immer noch Sicherheitsprobleme habe, z.B., wenn er die Wohnung verlasse. Der Vater des BF habe damals entschieden, dass der BF Afghanistan verlassen müsse. Der BF sei daher zunächst nach Pakistan geschickt worden, wo er ca. acht bis neun Monate bei seiner Tante gelebt habe. In der Folge sei er nach Europa gereist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er umgebracht zu werden, wobei er nicht wisse, wer ihn umbringen würde; sein Vater wisse Bescheid.

Der BF legte in dieser Einvernahme u.a. eine Kopie seiner Tazkira samt Übersetzung und eine Kopie der Tazkira seines Vaters vor.

1.1.11. Mit Bescheid vom 15.03.2017 wies das BFA diesen (ersten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 30.11.2014 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre.

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zu seinem Fluchtvorbringen hielt das BFA fest, dass der BF das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgung nicht einmal angegeben habe. Seine Eltern und Geschwister würden weiterhin in Kabul leben.

1.1.12. Der BF erhob mit Schreiben seines damaligen Vertreters vom 04.04.2017 gegen diesen – ersten – Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG).

In der Beilage legte er mehrere Fotos zum Nachweis von Verletzungen seines Vaters sowie von Ausweisen seines Vaters vor. Weiters brachte er Kopien des Titelblatts und zweier Seiten eines Buches über die Hezb-e Islami in Vorlage, in welchem sein Vater vorkomme.

1.1.13. Laut Meldung der Sicherheitsorgane vom 03.05.2017 wurde der BF beschuldigt, am 11.02.2017 bei einer Rauferei mit einer anderen Person sich gegenseitig durch Schlagen mit Füßen und Fäusten verletzt zu haben.

1.1.14. Mit Abschlussbericht des Stadtpolizeikommando Linz vom 24.07.2017 an die Staatsanwaltschaft wurde der BF am 08.06.2017 im Besitz von Marihuana betreten und wiederholt wegen des Verdachtes von Verstößen gegen das SMG angezeigt.

1.1.15. Am 15.08.2017 wurde der BF gemeinsam mit drei weiteren Personen angezeigt, weil sie am 13.08.2019 im Volksgarten herumgeschrien, sich aggressiv verhalten und den öffentlichen Anstand verletzt hätten.

1.1.16. Der BF wurde deshalb mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion Oberösterreich vom 01.11.2017 mit einer Geldstrafe von 150 Euro wegen § 82 Sicherheitspolizeigesetz belegt.

1.1.17. Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 28.11.2017, Zahl 33 Hv 54/17p, wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) als junger Erwachsener zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Monaten, verurteilt.

1.1.18. Das BFA wurde von der Staatsanwaltschaft Linz am 29.03.2019 verständigt, dass gegen den BF Anklage wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen nach dem SMG erhoben worden sei.

1.1.19. Mit Bescheid des BFA vom 25.04.2019 wurde gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG ausgesprochen, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 29.03.2019 verloren habe.

1.1.20. Das BVwG führte am 09.07.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein seiner damaligen Vertreterin persönlich erschien und zu seinen Fluchtgründen, seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und seiner Integration in Österreich befragt wurde.

Seine angegebene Lebensgefährtin XXXX , geboren am XXXX , eine rumänische Staatsangehörige, wurde zu ihrer Beziehung mit dem BF sowie zu seiner Integration in Österreich als Zeugin einvernommen.

Die Vertreterin des BF brachte in der Verhandlung eine Stellungnahme vom 08.07.2019 zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere betreffend Hazara, ein.

1.1.21. Mit Schreiben seiner Vertreterin vom 24.07.2019 nahm der BF zu der ihm vom BVwG zuvor mit Schreiben vom 10.07.2019 übermittelten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 16.03.2018 zu Tätowierungen in Afghanistan Stellung und legte eine Kopie eines vorläufig für ihn in Österreich ausgestellten Führerscheins vor.

1.1.22. Mit Erkenntnis des BVwG vom 21.08.2019, Zahl W246 2152769-1/27E, rechtskräftig mit 22.08.2019, wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

In der Erkenntnisbegründung setzte sich das Gericht unter anderem ausführlich mit der angegebenen Beziehung des BF mit seiner Freundin auseinander und kam zum Ergebnis, dass „keine Umstände […] hervorgekommen [seien], nach welchen die zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Lebensgefährtin geführte Lebensgemeinschaft derart ausgeprägt wäre, dass von einem schützenswerten, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung entgegenstehenden Familienleben iSd Art. 8 EMRK auszugehen wäre.“

Bezüglich seines Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK führte das Gericht u.a. aus:

„3.3.4.3.2. Es wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes zwar nicht verkannt, dass sich der Beschwerdeführer seit ca. 4-¾ Jahren in Österreich befindet (Antragstellung im November 2014) und in diesem Zeitraum durchaus Schritte zu seiner Integrationsverfestigung gesetzt hat, was v.a. durch die von ihm absolvierten Deutschkurse sowie sonstigen Kurse, seinen Pflichtschulabschluss, seine aktive Arbeitssuche, die Erlangung des Führerscheins, seine Lebensgemeinschaft und seine österreichischen Freunde sowie Bekannten zum Ausdruck kommt. Der Beschwerdeführer verfügt zudem über Deutschkenntnisse und spricht ein zwar einfaches, aber relativ gut verständliches Deutsch.

Diese integrationsverfestigenden Tatsachen sind jedoch nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes vor dem Hintergrund der oben dargestellten strengen höchstgerichtlichen Judikatur nicht derart ausgeprägt, dass von einem schützenswerten Privatleben des Beschwerdeführers iSd Art. 8 EMRK auszugehen ist. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig und befindet sich nach wie vor in der Grundversorgung. Er hält sich seit seiner Antragstellung im Bundesgebiet auf, wo er nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts in seinem Asylverfahren verfügt hat. Der Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein und stellte in weiterer Folge seinen Antrag auf internationalen Schutz, der sich als unberechtigt erwies. Die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie dem Bundesverwaltungsgericht überstieg zudem noch nicht das Maß dessen, was für ein rechtsstaatlich geordnetes, den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Sachverhaltsermittlungen und Rechtschutzmöglichkeiten entsprechendes Asylverfahren angemessen ist. Es liegt somit kein Fall vor, in dem die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der einreise- und fremdenrechtlichen Vorschriften sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angesichts der langen Verfahrensdauer oder der langjährigen Duldung des Aufenthaltes im Inland nicht mehr hinreichendes Gewicht haben, die Rückkehrentscheidung als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ erscheinen zu lassen (vgl. VfSlg. 19.752/2013; EGMR 04.12.2012, Butt gegen Norwegen, Appl. 47.017/09, 85 f.).

Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird die für die Integration eines Fremden wesentliche soziale Komponente durch vom Fremden begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt (vgl. etwa VwGH 19.11.2003, 2002/21/0181 mwN). Im vorliegenden Fall muss sich der Beschwerdeführer in der ihn betreffenden Interessenabwägung entgegenhalten lassen, dass er im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich einmal wegen einer von ihm begangenen Körperverletzung strafgerichtlich verurteilt wurde. Diese strafrechtliche Handlung des Beschwerdeführers schlägt daher zu seinen Ungunsten aus.

Das Interesse des Beschwerdeführers an der Aufrechterhaltung privater Kontakte in Österreich ist noch zusätzlich dadurch geschwächt, dass er sich bei seinem Aufenthalt im Bundesgebiet stets seines unsicheren bzw. unrechtmäßigen Aufenthaltsstatus bewusst sein musste.“

1.1.23. Der gegen dieses Erkenntnis eingebrachten Beschwerde erkannte der Verfassungsgerichtshof (in der Folge VfGH) zunächst mit Beschluss vom 01.10.2019 aufschiebende Wirkung zu, lehnte aber sodann mit Beschluss vom 09.10.2019, E 3634/2019-8, die Behandlung der Beschwerde ab.

1.1.24. Die vom nunmehrigen anwaltlichen Vertreter des BF eingebrachte außerordentliche Revision wies der Verwaltungsgerichtshof (in der Folge) mit Beschluss vom 30.12.2019, Ra 2019/18/0491, zurück, und begründete dies unter anderem damit, dass der BF jedenfalls in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative finde.

1.2. Gegenständliches Verfahren:

1.2.1. Der BF stellte am 19.06.2020 gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.2. In seiner Erstbefragung am selben Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass seit 2018 seine Eltern und Brüder nach einem Hochzeitsbesuch in Jaghuri verschwunden und unauffindbar seien. Er wisse nicht, was mit ihnen passiert sei. Er habe dies von Bekannten in Afghanistan erfahren, die er angerufen habe.

Beweis- oder Bescheinigungsmittel legte der BF keine vor.

1.2.3. Dem BF wurde mit Verfahrenanordnung ohne Datum, dem BF nachweislich übergeben am 19.06.2020, gemäß § 15b AsylG in Verbindung mit § 7 Abs. 1 VwGVG mitgeteilt, dass er ab sofort in einem angegebenen Quartier (in der Erstaufnahmestelle – EAST West in St. Georgen im Attergau) durchgehend Unterkunft zu nehmen habe. Das bedeute, dass er dort jedenfalls zu den Nachtstunden (22:00 bis 06:00 Uhr) anwesend zu sein habe. Im verfahrensabschließenden Bescheid werde das BFA über diese Anordnung der Unterkunftnahme absprechen.

1.2.4. Laut Bericht der Landespolizeidirektion Oberösterreich vom 25.06.2020 wurde der BF bei einer Lenker- und Fahrzeugkontrolle am 18.06.2020 als Lenker im Besitz von Cannabis angetroffen und festgenommen. Ein Drogentest wurde durchgeführt.

1.2.5. Laut Vorfallmeldung vom 22.06.2020 hat der BF am 19.06.2020 die Grundversorgungseinrichtung ab 19.06.2020 unerlaubt verlassen.

1.2.6. In seiner Einvernahme im Zulassungsverfahren am 07.07.2020 vor einem Referenten des BFA, EAST West, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF im Wesentlichen Folgendes an:

Er wiederholte im Wesentlichen seine Angaben aus der Erstbefragung vom 19.06.2020. Zuletzt Kontakt mit seinen Eltern hätte er glaube er, im November 2018 gehabt. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, wohin solle er. Er sei mittlerweise seit sechs Jahren in Österreich, habe sich hier gut angepasst. Außerdem sei die Lage in Afghanistan momentan wegen der Corona-Pandemie sehr kritisch.

Auf Nachfrage schilderte der BF in Umrissen die angebliche Reise seiner Familie zu einer Hochzeit und seine Bemühungen, mehr darüber zu erfahren. Er hätte ihr Verschwinden schon bei seiner Einvernahme vor dem BVwG vorgebracht.

Dem BF wurde zugesagt, „die Länderberichte“ zu seinem Herkunftsstaat per E-Mail an seine Vertretung zur Abgabe einer allfälligen Stellungnahme zu übermitteln.

1.2.7. Mit Verfahrensanordnung ohne Datum, dem BF nachweislich übergeben am 07.07.2020, wurde ihm mitgeteilt, dass die Behörde beabsichtige, den gegenständlichen Antrag zurückzuweisen, da sie davon ausgehe, dass entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege.

1.2.8. Mit Stellungnahme seines Vertreters vom 14.07.2020 machte der BF Ausführungen zur Lage in Afghanistan insbesondere aufgrund der Corona-Pandemie. Er führe in Österreich eine Beziehung mit Frau XXXX , mit der er eine gemeinsame Zukunft plane.

1.2.9. Am 14.07.2020 erfolgte eine weitere Einvernahme des BF vor dem BFA im Zulassungsverfahren im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und einer Rechtsberaterin. Die Teilnahme einer Vertrauensperson wurde verweigert, da sie keinen Ausweis mitführte.

Die Rechtsberaterin beantragte, das Verfahren zuzulassen, da bei einer Rückkehr eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu befürchten sei.

1.2.10. Mit – verfahrensgegenständlich angefochtenem – Bescheid vom 23.07.2020 wies das BFA den (zweiten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 19.06.2020 gemäß § 68 Abs. 1 AVG bezüglich Asyl und subsidiärem Schutz wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). In Spruchpunkt III. wurde ausgesprochen, dass dem BF gemäß § 15b Abs. 1 AsylG aufgetragen worden sei, ab 19.06.2020 in einem genannten Quartier Unterkunft zu nehmen.

Das BFA führte den Verfahrensgang an, traf Feststellungen zur Person des BF sowie zur Lage im Herkunftsstaat (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation), insbesondere auch zum Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan.

Die Identität des BF sei ungeklärt. Er leide an keinen erheblichen Erkrankungen.

Das BFA stellte fest, dass der Antrag des BF auf internationalen Schutz im Vorverfahren rechtskräftig abgewiesen worden sei und er im gegenständlichen Asylverfahren – den Fluchtgrund betreffend – keinen glaubhaften neuen Sachverhalt, welcher sich nach Abschluss des Vorverfahrens ereignet hätte, vorgebracht habe.

Bereits im Vorverfahren sei festgestellt worden, dass dem BF eine Rückkehr nach Herat oder Mazar-e Sharif zumutbar sei. Die Lage in diesen beiden Städten habe sich nicht entscheidungswesentlich geändert.

Es habe sich daher kein neuer objektiver Sachverhalt ergeben.

Zur Anordnung der Unterkunftnahme wurde festgehalten, dass der BF mit Verfahrensanordnung bis zur Rechtskraft des Verfahrens zur Wohnsitznahme in der EAST West verpflichtet worden sei, da gegen ihn bereits im Vorverfahren eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erlassen worden und dies zur zügigen Verfahrensführung und wirksamen Überwachung seines Antrages auf internationalen Schutz notwendig gewesen sei.

Zum Vorbringen, dass seine Familie nunmehr verschwunden wäre, wurde festgehalten, dass der BF dies bereits in der Verhandlung vor dem BVwG am 09.07.2019 vorgebracht hatte. Dieser Sachverhalt sei daher von der Rechtskraft des Vorverfahrens umfasst und sei eine neuerliche inhaltliche Prüfung nicht zulässig.

[Anmerkung: dies gilt auch für das Vorbringen bezüglich seiner Freundin, die in der Verhandlung vor dem BVwG am 09.07.2019 als Zeugin einvernommen worden ist.]

Der BF gehöre keiner Risikogruppe an, ihm drohe daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verletzung von Art. 3 EMRK.

1.2.11. Auch gegen diesen verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 23.07.2020 brachte der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 06.08.2020 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen „Gesetzwidrigkeit“ ein und beantragte unter anderem, der gegenständlichen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

In der Beschwerdebegründung wurden im Wesentlichen Ausführungen zur Corona-Pandemie getroffen sowie moniert, dass der BF keinen Kontakt zu seiner Familie habe und seine Freundin in Österreich heiraten wolle. Eine Rückkehrentscheidung hätte nicht erlassen werden dürfen.

1.3. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in die dem erkennenden Gericht vorliegenden Akten des BFA und des BVwG samt Vorakten, insbesondere in die Niederschriften der Erstbefragungen am 30.11.2014 und 19.06.2020 und der Einvernahmen vor dem BFA am 12.09.2016 und 07.07.2020, den Schriftverkehr im Konsultationsverfahren mit dem Mitgliedstaat Ungarn, die sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung vom 29.07.2015, die vorgelegten Belege zur Integration des BF, die zahlreichen Aktenbestandteile betreffend wiederholt strafrechtlich relevantes Verhalten des BF, den angefochtenen Bescheid und die verfahrensgegenständliche Beschwerde vom 06.08.2020

?        Einsicht in aktenkundliche Dokumentationsquellen des BFA betreffend Afghanistan (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Aktenseiten 150 bis 164 des Verwaltungsaktes)

1.4. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhaltsfeststellungen):

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.4.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stammt aus XXXX , Distrikt Jaghuri, Provinz Ghazni, Afghanistan. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er spricht Dari und etwas Paschtu und Englisch sowie Deutsch.

Der BF zog mit ca. sechs Jahren mit seiner Familie (Eltern, zwei jüngere Brüder) nach Kabul, wo er zwei Jahre lang die Schule besuchte und zu Hause von seinem Vater im Lesen des Korans unterrichtet wurde. Der BF half seinem Vater gelegentlich bei seiner Tätigkeit als Immobilienmakler. Vor seiner Reise nach Europa war der BF einige Monate in Pakistan aufhältig, wo er für ca. sechs Monate einen Englischkurs besuchte. Er hat sich während seines Aufenthalts in Pakistan mehrere Tattoos stechen lassen.

Der BF hat nach seinen Angaben seit November 2018 keinen Kontakt mehr mit seinen Familienangehörigen.

Der BF leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen.

Der BF hat den Pflichtschulabschluss absolviert und den KFZ-Führerschein erlangt, übt aber keine Erwerbstätigkeit aus.

Der BF ist wegen zahlreicher Rechtsverletzungen (sowohl verwaltungsstrafrechtlich als auch strafgerichtlich) belangt worden und wegen Körperverletzung gerichtlich vorbestraft.

Im Bundesgebiet hat der BF seit ca. zwei Jahren eine Freundin, eine rumänische Staatsangehörige.

1.4.2. Seit dem rechtskräftigen Abschluss des vorhergehenden Asylverfahrens mit Erkenntnis des BVwG vom 21.08.2019, Zahl W246 2152769-1/27E, rechtskräftig mit 22.08.2019, sind keine maßgeblichen Änderungen des Sachverhaltes oder der im Fall anzuwendenden Rechtsvorschriften eingetreten.

1.4.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…] 1. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.05.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).

2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018) bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020). Jahrelange konzentrierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.01.2019).

2.2. Kabul

Letzte Änderung: 22.04.2020

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

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Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.03.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher, und Wohnsitzwechsel sind häufiger. D

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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