TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/28 W251 2213442-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.08.2020
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Entscheidungsdatum

28.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W251 2213442-1/18E

W251 2213441-1/20E

W251 2225597-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX alias XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , und 3.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1.) vom 20.12.2018, Zl. 1098081702 - 151938195, 2.) vom 20.12.2018, Zl. 1098081800 - 151938204, und 3.) vom 20.12.2018, Zl. 1235235201 - 190634419, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 28.08.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten – abgesehen von der Drittbeschwerdeführerin – gemeinsam mit zwei Schwestern und einem Bruder des Erstbeschwerdeführers in das Bundesgebiet ein. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin stellten am 04.12.2015, betreffend die Drittbeschwerdeführerin am 24.06.2019, die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin nach traditionellem Ritus verheiratet. Die Drittbeschwerdeführerin ist die leibliche Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin.

2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 06.12.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass die Schwester des Erstbeschwerdeführers in Afghanistan von einem Jungen aus der Ortschaft belästigt worden sei und dieser versucht habe, sie zu vergewaltigen. Dieser Junge sei kriminell und die Polizei könne gegen ihn nichts tun. Da die Belästigungen (gegen die gesamte Familie und die Zweitbeschwerdeführerin) weiter zugenommen hätten, hätten sie Afghanistan schließlich verlassen.

3. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin wurden am 19.07.2016 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) im Zulassungsverfahren niederschriftlich einvernommen.

Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 22.09.2016 wurden die Anträge des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzes Kroatien zuständig ist. Es wurde die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin nach Kroatien zulässig ist.

Gegen diese Bescheide erhoben der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde, zu der die Landespolizeidirektion XXXX eine Gegenschrift erstattete.

Das Bundesverwaltungsgericht gab den Beschwerden mit Erkenntnis vom 18.10.2016 statt und behob diese Bescheide.

4. Am 07.03.2018 wurden der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen an, dass seine Schwester in Afghanistan vergewaltigt und zuhause angegriffen worden sei. Der Erstbeschwerdeführer habe bei der Polizei Anzeige erstattet, weshalb auch er von den Personen geschlagen worden sei. Zudem habe er Probleme mit seinen Schwiegereltern gehabt, die gegen seine Heirat mit der Zweitbeschwerdeführerin gewesen seien.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass ihr Vater sie geschlagen, gefoltert und im Zimmer eingesperrt habe. Er habe ihr auch nicht erlaubt die Schule zu besuchen oder zu lernen. Zudem habe ihr Vater sie an einen ihrer drei Cousins versprochen. Als er davon erfahren habe, dass die Zweitbeschwerdeführerin einen Schiiten heiraten wolle, habe er ihr das Leben zur Hölle gemacht. Die Zweitbeschwerdeführerin sei deshalb heimlich mit Hilfe des Erstbeschwerdeführers nach Kabul geflüchtet, wo sie gegen den Willen ihres Vaters den Erstbeschwerdeführer geheiratet habe.

5. Das Bundesamt wies die Anträge des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.) und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführer keine asylrelevanten Fluchtgründe glaubhaft gemacht hätten. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin seien gesund, anpassungs- und arbeitsfähig und würden über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfügen und zusammen zurückkehren. Es sei daher nicht ersichtlich, dass sie im Falle einer Rückkehr einer ausweglosen bzw. existenzbedrohenden Situation ausgesetzt wären. Die Beschwerdeführer würden in Österreich – abgesehen voneinander – zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde. Die Beschwerdeführer brachten im Wesentlichen vor, dass das Bundesamt veraltete und unzureichende Länderberichte herangezogen habe. Zudem habe es das Bundesamt unterlassen Ermittlungen betreffend eine westliche Orientierung der Zweitbeschwerde-führerin anzustellen. Der Erstbeschwerdeführer habe betreffend seine Ausführungen zu den Drohanrufen durch seine Schwiegereltern unrichtige Angaben getätigt, weil er das Gefühl gehabt habe, bei der Einvernahme nicht ernst genommen zu werden. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin habe ihre Mutter zur Prostitution gezwungen. Sie selbst sei dazu nicht gezwungen worden, weil ihre Mutter dies nicht zugelassen habe. Das Neuerungsverbot stehe diesem Vorbringen nicht entgegen, weil die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Scham und des männlichen Dolmetschers beim Bundesamt nicht in der Lage gewesen sei, das Vorbringen zu erstatten. Der Zweitbeschwerdeführerin drohe in Afghanistan Verfolgungsgefahr, weil sie von zuhause weggelaufen sei, was als „Zina“ angesehen werde und sowohl vom Staat als auch durch Tötungen durch die Familie geahndet werde. Ihr drohe auch wegen ihrer Heirat, die ohne das Einverständnis ihrer Familie geschlossen worden sei sowie aufgrund ihrer pro-westlichen Orientierung asylrelevante Verfolgung in Afghanistan. Den Beschwerdeführern sei aufgrund der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar. Den Beschwerdeführern hätte daher der Status der Asylberechtigten jedenfalls jedoch der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen. Zudem würden sich die Beschwerdeführer um eine gute Integration, Deutschkenntnisse und sozialen Anschluss bemühen, weshalb ihnen Aufenthalts-berechtigungen zu erteilen gewesen wären.

7. Mit Urkundenvorlage vom 23.01.2018 legte die Zweitbeschwerdeführerin medizinische Unterlagen sowie der Erstbeschwerdeführer drei Fotos seiner Schwester zum Zweck der Untermauerung seines Vorbringens, vor.

8. Am XXXX wurde die Drittbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Für sie wurde am 24.06.2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Die Zweitbeschwerdeführerin wurde als gesetzliche Vertreterin der Drittbeschwerdeführerin am 08.08.2019 betreffend deren Antrag auf internationalen Schutz beim Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Für die Drittbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Im Falle einer Rückkehr fürchte die Zweitbeschwerdeführerin ihr Vater oder Onkel würde ihr ihre Tochter wegnehmen und diese verkaufen.

Das Bundesamt wies mit Bescheid vom 24.10.2019 den Antrag der Drittbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.). Ihr wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Für die freiwillige Ausreise wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass für die Drittbeschwerdeführerin keine asylrelevanten Fluchtgründe geltend bzw. glaubhaft gemacht wurden. Die Drittbeschwerdeführerin stehe unter der Obhut ihrer Eltern und würde im gemeinsamen Familienverband mit diesen nach Afghanistan zurückkehren. Ihre Existenz sei in Afghanistan im Familienverband gesichert. Auch betreffend die Minderjährigkeit der Drittbeschwerdeführerin könne aufgrund ihres familiären Umfeldes nicht von einer potenzierten Gefährdungslage und einer besonderen altersspezifischen Vulnerabilität, die der Drittbeschwerdeführerin ein Leben im urbanen Raum im Familienverband verunmöglichen würde, ausgegangen werden. Zudem würde sie in Österreich – abgesehen von ihren Eltern – über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde und die Beschwerdegründe ihrer Eltern zu jenen der Drittbeschwerdeführerin erhoben. Darüber hinaus wurden für die Dritt-beschwerdeführerin eigene Fluchtgründe geltend gemacht, zumal die Lage für Kinder – insbesondere Mädchen – in Afghanistan katastrophal sei und sie von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen betroffen seien. Das Bundesamt habe das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt und es unterlassen Feststellungen darüber zu treffen, dass es sich bei den (Klein)kindern um Kinder und Mädchen handelt. Durch die Nichtanerkennung des Asylstatus sei ihr Kindeswohl und ihre persönliche Entwicklung jedenfalls gefährdet.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.11.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer und einer Vertreterin des Bundesamtes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

10. Mit Stellungnahme vom 04.12.2019 wurde vorgebracht, dass der Zweitbeschwerde-führerin, die sich bereits in Afghanistan den vorherrschenden Regeln und Normen nicht habe beugen wollen und sich dies in Österreich verstärkt habe, in Afghanistan Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen drohe. Zudem seien die Beschwerdeführer als Familie mit einem Säugling als besonders vulnerabel zu betrachten. Die Situation für Kinder, insbesondere Mädchen, sei in Afghanistan sehr schlecht. Eine Abschiebung der Beschwerdeführer, insbesondere der Drittbeschwerdeführerin, würde gegen das Kindeswohl sprechen und die reale Gefahr der Verletzung ihrer Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK mit sich bringen, weshalb zumindest der Drittbeschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei.

11. Mit Parteigehör vom 12.08.2020 wurden den Beschwerdeführer aktuelle Länderinformationen übermittelt sowie aufgetragen bekannt zu geben, ob sich seit der letzten Verhandlung etwas an ihren Angaben, an ihrer Situation in Österreich bzw. im Herkunftsland oder an der Situation in Afghanistan geändert hat.

12. Mit Stellungnahme vom 21.08.2020 brachten die Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass die Beschwerdeführer aufgrund der COVID-19-Situation ihre Deutschkenntnisse nicht verbessern konnten und auch keine ehrenamtliche Arbeit finden konnten. Die Zweitbeschwerdeführerin sei im 6. Monat schwanger und daher besonders vulnerabel. Es ist dieser daher nicht möglich in Afghanistan ein Leben ohne unbillige Härten zu führen. Die Beschwerdeführer wären in Afghanistan erheblich von der COBID-19-Situation sowie der angespannten wirtschaftlichen Lage betroffen. Die Beschwerdeführer beantragten die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu den Beweisthemen der Beurteilung der Situation von Rückkehrern sowie der wirtschaftlichen und sozioökonomischen Lagen sowie der Versorgungslage unter Berücksichtigung der COVID-19-Situation, da dem Gericht keine ausreichenden Länderinformationen zur Verfügung stehen würden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX alias XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerde-führerin traditionell verheiratet. Die Drittbeschwerdeführerin ist die leibliche Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin und führt den Namen XXXX sowie das Geburtsdatum XXXX . Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zum muslimischen Glauben schiitischer (Erstbeschwerdeführer) und sunnitischer Richtung (Zweitbeschwerdeführerin). Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 AS 3, 312, 317; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 AS 13, 286, 289; Verhandlungsprotokoll vom 20.11.2019 = VP, S. 10 f, 13, 30).

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist dort zunächst mit seinen Eltern und zwei Schwestern sowie seinem geistig beeinträchtigten Bruder aufgewachsen (BF 1 AS 315; VP, S. 10, 14). Ca. im Jahr 2001 starb der Vater des Erstbeschwerdeführers (BF 1 AS 318; VP, S. 17). Der Erstbeschwerdeführer lebte zunächst mit seiner Mutter und seinen Geschwistern bei seinem Onkel väterlicherseits in Ghazni und zog dann gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in die Stadt Kabul. Der genaue Zeitpunkt seiner Übersiedelung kann nicht festgestellt werden. Die Mutter des Erstbeschwerdeführers zog im Zuge der Ausreise des Erstbeschwerdeführers und seiner Geschwister in Richtung Europa nach Mazar-e Sharif. Der Erstbeschwerdeführer hat drei Klassen der Schule in Afghanistan besucht (BF 1 AS 3, 317; VP, S. 13). Er hat mit ca. 13 Jahren als Hilfsarbeiter zu arbeiten begonnen und war mindestens drei Jahre lang in einem Sportgeschäft in Kabul beschäftigt, danach hat er als Taxifahrer gearbeitet (VP, S. 14). Der Beschwerdeführer hat nicht in Pakistan gelebt.

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Provinz Baghlan geboren. Sie ist bereits im Kindesalter nach Mazar-e Sharif gezogen und dort gemeinsam mit ihren Eltern und ihren drei Brüdern und zwei Schwestern in einem Miethaus aufgewachsen (BF 2 AS 289; VP, S. 34). Die Zweitbeschwerdeführerin ist mit ihrer Familie nicht alle paar Monate innerhalb Mazar-e Sharifs umgezogen. Die Zweitbeschwerdeführerin hat keine Schule besucht, sie ist Analphabetin (BF 2 AS 13, 289; VP, S. 34f). Ihr Vater ist für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen (VP, S. 34).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist derzeit im 6. Monat schwanger (OZ 8).

1.1.4. Die Zweitbeschwerdeführerin und ihr Bruder haben ihre Schwester im Jahr 2014/2015 in Kabul besucht und bei dieser in der Wohnung gelebt (BF 2 AS 293). Die Zweitbeschwerde-führerin hat den Erstbeschwerdeführer während ihres Aufenthaltes bei ihrer Schwester in Kabul dadurch kennengelernt, dass die Wohnung ihrer Schwester und des Erstbeschwerde-führers im selben Haus lagen (BF 1 AS 315, 324; BF 2 AS 288; VP, S. 13, 32 f). Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan traditionell geheiratet. Es hat sich dabei nicht um eine heimliche, gegen den Willen des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin erfolgte Eheschließung gehandelt. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin war mit der Heirat einverstanden. Die Zweitbeschwerdeführerin ist nach der Heirat zum Erstbeschwerdeführer nach Kabul gezogen, wo sie ca. sechs Monate gelebt haben, bevor sie aus Afghanistan ausgereist sind (BF 1 AS 325; BF 2 AS 288).

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 04.12.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am XXXX wurde die Drittbeschwerdeführerin in Österreich geboren, für sie wurde am 24.06.2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

1.1.5. Zwei Onkel des Erstbeschwerdeführers mütterlicherseits leben in Mazar-e Sharif (BF 1 AS 319). Die Mutter des Erstbeschwerdeführers lebt bei einem ihrer Brüder in Mazar-e Sharif (VP, S. 15). Zwei Onkel väterlicherseits des Erstbeschwerdeführers leben in der Provinz Ghazni (BF 1 AS 319; VP, S. 15).

Der Vater des Erstbeschwerdeführers ist bereits verstorben. Der Erstbeschwerdeführer hat von ihm ein Grundstück im Ausmaß von ca. zwei Jirib vererbt bekommen, dass sich in Ghazni befindet. Das Grundstück wird von seinen Onkeln väterlicherseits landwirtschaftlich bewirtschaftet (BF 1 AS 322; VP, S. 16). Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinen Onkeln väterlicherseits.

Die Geschwister des Erstbeschwerdeführers leben in Deutschland. Ihnen wurde ein Aufenthaltstitel befristet für drei Jahre erteilt (VP, S. 16).

1.1.7. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin sowie eine Schwester und zwei ihrer Brüder leben nach wie vor in Mazar-e Sharif in einem gemieteten Haus (VP, S. 34 f). Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin zieht nicht alle paar Monate innerhalb Mazar-e Sharifs um. Der Vater ist Polizist (VP, S. 36), die Brüder der Zweitbeschwerdeführerin arbeiten als Tagelöhner (VP, S. 44 f). Sie sind nicht verheiratet (VP, S. 41). Die Zweitbeschwerdeführerin hat regelmäßig Kontakt zu ihrer Familie (VP, S. 35).

Eine Schwester der Zweitbeschwerdeführerin ist verheiratet, hat mindestens drei Kinder und lebt in der Stadt Kabul. Die Schwester der Zweitbeschwerdeführerin ist Hausfrau (VP, S. 36 f). Die Zweitbeschwerdeführerin hat ein gutes Verhältnis zu ihrer Schwester (VP, S. 45) und steht mit dieser in regelmäßigem Kontakt.

Ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin war verheiratet und hat eine Tochter. Er lebt nunmehr jedoch getrennt von seiner Frau und Tochter im Iran (VP, S. 44).

Ein Onkel und eine Tante der Zweitbeschwerdeführerin sowie viele Cousins väterlicherseits leben in der Provinz Baghlan. Ihre zwei Onkel und ihre Tante mütterlicherseits leben in Mazar-e Sharif (VP, S. 35).

1.1.8. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, sie sind gesund. Der Erstbeschwerdeführer ist arbeitsfähig (VP, S. 20, 23, 39 f).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden aufgrund ihrer Heirat nicht von der Familie der Zweitbeschwerdeführerin, insbesondere ihrem Vater, verfolgt. Die Zweitbeschwerdeführerin war keinem ihrer Cousins väterlicherseits versprochen.

Weder die Zweitbeschwerdeführerin noch ihre Geschwister oder ihre Mutter waren in Afghanistan psychischen oder physischen Misshandlungen oder Belästigungen durch ihren Vater ausgesetzt. Die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin wird nicht von diesem zur Prostitution gezwungen. Die Zweitbeschwerdeführerin war ebenso keiner Gefahr ausgesetzt durch ihren Vater zur Prostitution gezwungen zu werden.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Familie der Zweitbeschwerdeführerin, ihren Onkel oder Cousin väterlicherseits, staatliche Organe oder durch andere Personen.

1.2.2. Weder die Schwester des Erstbeschwerdeführers noch andere Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers wurden in Afghanistan vergewaltigt oder von Personen (zuhause) angegriffen. Der Erstbeschwerdeführer wurde ebenso nicht von diesen Personen geschlagen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Personen, die angeblich die Schwester des Erstbeschwerdeführers vergewaltigt hätten.

1.2.3. Die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie verfügt lediglich über geringe Deutschkenntnisse und kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und ihre Tochter. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Sie steht in Österreich nur zu Nachbarn und einer afghanischen Familie in engerem Kontakt.

1.2.4. Der Drittbeschwerdeführerin ist es möglich, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihr droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch ist sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in Kabul und Mazar-e Sharif faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn der Drittbeschwerdeführerin eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden die Drittbeschwerdeführerin in Kabul in die Schule schicken und dieser eine Schulbildung ermöglichen. Der Drittbeschwerdeführerin droht in Kabul und Mazar-e Sharif weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung oder Misshandlungen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

1.3.1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut.

1.3.2. Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Provinz Ghazni, dem Geburtsort des Erstbeschwerdeführers, ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit.

1.3.3. Der Erstbeschwerdeführer kann in der Stadt Kabul sowie in der Stadt Mazar-e Sharif grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.3.4. Der Drittbeschwerdeführerin droht in der Stadt Kabul sowie in der Stadt Mazar-e Sharif weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat. Es droht dieser dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe Entführungen oder Ausbeutungen oder Gefahren durch explosive Kriegsrückstände. Ihr ist es möglich in der Stadt Kabul eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan anzupassen.

1.3.5. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Kabul und Mazar-e Shraif weiter angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen. Die Drittbeschwerdeführerin ist erst ein Jahr alt und daher noch ein unmündiges minderjähriges Kind. Sie kann ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Die Zweitbeschwerdeführerin ist im 6. Monat schwanger. Durch die Schwangerschaft sind derzeit die Arbeitsmöglichkeiten der Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan erheblich eingeschränkt und reduziert. Auch diese ist daher derzeit nicht in der Lage in Afghanistan ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft selber zubefriedigen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage (trotz familiärer Unterstützung in Kabul und Mazar-e Sharif) derzeit nicht möglich für die schwangere Zweitbeschwerdeführerin, die minderjährige Drittbeschwerdeführerin und nach der Geburt des zweiten Kindes auch für dieses den notwendigen Lebensunterhalt in der Stadt Kabul oder der Stadt Mazar-e Sharif ausreichend sicher zu stellen.

Es ist der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin derzeit somit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul oder der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest 04.12.2015 durchgehend in Österreich auf.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben einen Deutschkurs auf dem Niveau A0 besucht. Sie verfügen lediglich über sehr geringe Deutschkenntnisse (BF 2 AS 313; VP, S. 19, 38). Sie haben an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen (BF 1 AS 341; BF 2 AS 312).

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin gehen keiner beruflichen Tätigkeit nach. Sie leben von der Grundversorgung. Sie haben auch keine ehrenamtliche oder gemeinnützige Tätigkeiten ausgeübt (Beilage ./I; VP, S. 20, 39)

Der Erstbeschwerdeführer hat in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu seiner Nachbarin, seinem Vermieter und einen Afghanen geknüpft. Darüber hinaus hat er Bekanntschaften mit denen er Fußball spielt (VP, S. 22). Die Zweitbeschwerdeführerin hat Bekanntschaften an ihrem früheren Wohnort gemacht, mit denen sie nicht mehr in Kontakt steht. Sie hat eine Freundschaft zu einer Frau geknüpft, die nach Afrika gereist ist und mit der sie schriftlich in Kontakt steht. Darüber hinaus hat sie lediglich zu einer afghanischen Familie engeren Kontakt in Österreich (VP, S. 40). Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben zu ihren freundschaftlichen Kontakten und Bekanntschaften keine enge soziale Bindung (VP, S. 22, 40).

Der Cousin des Erstbeschwerdeführers mütterlicherseits lebt in Österreich. Die Beschwerdeführer haben den Kontakt zu diesem abgebrochen. Sie stehen zu diesem in keinem Abhängigkeitsverhältnis (VP, S. 21 f). Darüber hinaus verfügen die Beschwerdeführer über keine Verwandte in Österreich.

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Sie waren weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, ihre Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

Die Zweitbeschwerdeführerin wird verdächtigt am 10.01.2020 beim Verkehrsamt in Österreich einen gefälschten afghanischen Führerschein abgegeben zu haben und den Austausch des afghanischen Führerscheins gegen einen österreichischen Führerschein beantragt zu haben. Es wurde daher gegen die Zweitbeschwerdeführerin am 14.07.2020 Anklage erhoben. Eine rechtskräftige Verurteilung liegt noch nicht vor.

Die Drittbeschwerdeführerin ist in Österreich aufgrund ihres Alters noch strafunmündig.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019 mit Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (Beilage ./III),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Beilage ./IV)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Beilage ./V)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Beilage ./VI)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Beilage ./VII)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Beilage ./VIII)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Beilage ./IX)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Beilage ./X)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Beilage ./XI)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sexuellen Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Beilage ./XII)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Erpresserischer Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Beilage ./XIII)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Beilage ./XIV)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Beilage ./XV)

-        Analyse der Staatendokumentation, Ehe im Islam vom 05.05.2015 (Beilage ./XVI)

1.5.1. Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 - LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen (LIB, Kapitel 2).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlingsund Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

1.5.4.1. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen ist. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 16.3).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre turko-mongolide Physiognomie, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (Dossier der Staatendokumentation Grundlage der Stammes- und Clanstruktur).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB, Kapitel 16.3).

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 16.3).

1.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten und c.a 10 – 19% Shiiten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15, 15.1).

Die Schiiten Afghanistans sind mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren lokale Diskriminierungsfälle (LIB Kapitel 15.1).

In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt. Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (LIB Kapitel 15.1).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 18).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschaftsbzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.8. Korruption, Dokumente

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2018 von Transparency International belegt Afghanistan, von 180 untersuchten Ländern den 172. Platz, was eine Verbesserung um fünf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (LIB, Kapitel 6).

Korruption findet in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens statt. Beamte gehen oft ungestraft korrupten Praktiken nach. Es kam jedoch in den vergangenen Jahren zu leichten Verbesserungen bei der Wahrnehmung der Rechenschaftspflicht in der öffentlichen Verwaltung (LIB, Kapitel 6).

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf und stellt aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor. Sämtliche Urkunden in Afghanistan können problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhalten werden (LIB, Kapitel 23).

1.5.9. Regionen

1.5.9.1. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 2.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

1.5.9.2. Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 2.5 und 2.35). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 20). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.5.9.3. Provinz Ghazni

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans. Es leben ca. 1.338.597 Menschen in Ghazni. Die Provinz wird von Paschtunen, Tadschiken und Hazara sowie von mehreren kleineren Gruppen wie Bayats, Sadats und Sikhs bewohnt. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken (LIB, Kapitel 2.10).

Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktyas Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung. Im Dezember 2018 stand die Ghazni-Paktika-Autobahn unter Taliban-Kontrolle und war für Zivil- und Regierungsfahrzeuge gesperrt. Im Mai 2019 war die Ghazni-PaktikaAutobahn seit einem Jahr geschlossen. Auch die Ghazni-Paktia-Autobahn war Anfang März 2019 trotz einer 20-tägigen Militäroperation gegen die Taliban immer noch gesperrt. Im Mai 2019 führten die Regierungskräfte an den Rändern von Ghazni-Stadt Räumungsoperationen zur Befreiung der Verkehrswege durch (LIB, Kapitel 2.10).

Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Talibankämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben (LIB, Kapitel 2.10).

Im Jahr 2018 wurden 653 zivile Opfer (253 Tote und 400 Verletzte) in Ghazni dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 84% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe, gefolgt von Luftangriffen und gezielten oder vorsätzlichen Morden (LIB, Kapitel 2.10).

Ghazni war neben Helmand und Farah zwischen Februar und Juni 2019 eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen, zudem werden Luftangriffe in der Provinz durchgeführt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Auch verlautbarte die Regierung im September 2019 nach wie vor Offensiven gegen die Aufständischen in der Provinz zu führen, um das Territorium der Taliban zu verkleinern (LIB, Kapitel 2.10).

1.5.10. Situation für Rückkehrer

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück. Vom 01.01.2020 bis 18.05.2020 kehrten 279.738 Afghanen aus dem Iran nach Afghanistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeins

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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