RS Vfgh 2020/10/1 V392/2020 (V392/2020-12)

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Veröffentlicht am 01.10.2020
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
COVID-19-MaßnahmenG §1
COVID-19-MaßnahmenV BGBl II 96/2020 idF BGBl II 151/2020 §2 Abs1 Z12
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verstoß des Betretungsverbots von nicht an Tankstellen angeschlossene Waschstraßen – im Gegensatz zur Zulässigkeit der Betretung von an Tankstellen angeschlossenen Waschstraßen – zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 gegen den Gleichheitssatz; Betretungsverbot mangels aktenmäßiger Dokumentation der maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen im Verordnungserlassungsverfahren gesetzwidrig

Rechtssatz

Gesetzwidrigkeit des Wortes "angeschlossene" in der Wortfolge "Tankstellen und angeschlossene Waschstraßen" in den Ausnahmen der Betretungsverbote gemäß §2 Abs1 Z12 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020, idF BGBl II 151/2020; Individualantrag von Autowaschstraßenbetreibern.

Durch die mit der Verordnung BGBl II 151/2020 erfolgte Änderung des §2 Abs1 Z12 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 von "Tankstellen" zu "Tankstellen und angeschlossene Waschstraßen" wird der antragstellenden Partei weiterhin untersagt, dass Kunden ihre nicht an Tankstellen angeschlossenen Waschstraßen betreten dürfen. Dieses Verbot greift sohin unmittelbar in die Rechtssphäre der antragstellenden Partei ein. Im Hinblick auf die Bedrohung mit einer Verwaltungsstrafe bis zu € 30.000,- gemäß §3 Abs2 COVID-19-MaßnahmenG, steht der antragstellenden Partei auch kein anderer zumutbarer Weg offen, die behauptete Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bestimmung an den VfGH heranzutragen. Das Außerkrafttreten des §2 Abs1 Z12 COVID-19-MaßnahmenV idF BGBl II 151/2020 nach der Antragstellung mit Ablauf des 30.04.2020 schadet nicht. Vor dem Hintergrund des Regelungszusammenhanges ist es im vorliegenden Fall nicht erforderlich, den gesamten Ausnahmetatbestand des §2 Abs1 Z12 bzw den allgemeinen Verbotstatbestand des §1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 mitanzufechten. Die behauptete Rechtswidrigkeit liegt ausschließlich im Wort "angeschlossene".

§2 Abs1 Z12 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 hat seine Rechtsgrundlage jedenfalls in §1 COVID-19-Maßnahmengesetz. Diese Gesetzesbestimmung ermächtigt den BMSGPK beim Auftreten von COVID-19 insbesondere dazu, durch Verordnung "das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten" (vgl demgegenüber §2 COVID-19-Maßnahmengesetz) zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen zu untersagen, "soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen."

Aus dem Regelungszusammenhang insbesondere mit §2 COVID-19-Maßnahmengesetz geht die grundsätzliche Zielsetzung des Gesetzgebers hervor, durch Betretungsverbote für Betriebsstätten die persönlichen Kontakte von Menschen einzudämmen, die damit verbunden sind, wenn Menschen die Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen aufsuchen. Damit gibt das Gesetz den Zweck der Betretungsverbote konkret vor. Weiters ordnet das Gesetz an, dass der Verordnungsgeber diese Betretungsverbote im Hinblick auf den Zweck der Maßnahme nach Art und Ausmaß differenziert auszugestalten hat, je nachdem, inwieweit er es in einer Gesamtabwägung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 für erforderlich hält, das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zu untersagen, oder deren Betreten unter bestimmte Voraussetzungen oder Auflagen zu stellen.

Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet §1 COVID-19-Maßnahmengesetz vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.

Dem BMSGPK steht ein Einschätzungs- und Prognosespielraum bei der Evaluierung zu, welche Lockerungsschritte unter Berücksichtigung der epidemiologischen Entwicklungen er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 für erforderlich hält. Er kann daher auch eine schrittweise Lockerung im Lichte der epidemiologischen Entwicklungen vorsehen, wobei diese Entwicklungsschritte auch von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen und, jedenfalls für entsprechend angemessen kurze Zeitperioden, auch gewisse Ungleichbehandlungen in Kauf nehmen können, um die tatsächliche Entwicklung beobachten zu können. Auch machen einzelne Härtefälle eine entsprechende Regelung nicht unsachlich.

Im vorliegenden Fall ist kein sachlicher Grund erkennbar, warum der im Kontext der gesamten, mit der Verordnung BGBl II 151/2020 getroffenen Maßnahmen erfolgte Schritt, das Betretungsverbot für Waschstraßen zurückzunehmen, im Wege der vorliegenden Ungleichbehandlung erfolgen sollte. Wie im Verfahren unbestritten geblieben ist, unterscheiden sich an Tankstellen angeschlossene Waschstraßen im Hinblick auf die mit der Benützung einer Waschstraße verbundenen persönlichen Kontakte von Menschen typischerweise nicht von solchen, die an anderen Orten gelegen sind. Auch wenn der Verordnungsgeber das Waschen systemrelevanter Fahrzeuge vor Augen gehabt haben sollte, würde sich dieses nur auf eine größere Zahl von Waschstraßen verteilen. Ein hinzunehmender Härtefall iSd stRsp des VfGH kann angesichts des gerade auch nicht an Tankstellen angeschlossene Waschstraßen regelnden Inhaltes des §2 Abs1 Z12 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 von vorneherein nicht vorliegen.

Der VfGH hat insbesondere auch zu prüfen, ob der BMSGPK den gesetzlichen Vorgaben dahingehend entsprochen hat, als er im Verordnungserlassungsverfahren festgehalten hat, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Dass es damit dafür, ob die angefochtene Verordnungsbestimmung mit den Zielsetzungen des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz im Einklang steht, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.

Im Verordnungsakt finden sich nun aber zu der hier in Rede stehenden Regelung, mit Ausnahme des ins Auge gefassten Verordnungstextes, überhaupt keine Bezugnahmen. Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelung betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus dem vorgelegten Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung, Waschstraßen ungleich zu behandeln, geleitet haben; dabei wiegt die Tatsache, dass diese Regelung intensiv in die Grundrechtssphäre der Betreiber von weiterhin mit einem Betretungsverbot belegten Waschstraßen eingreift, schwer.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), VfGH / Individualantrag, Legalitätsprinzip, Verordnungserlassung, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / Weg zumutbarer, VfGH / Präjudizialität, Bindung (des Verordnungsgebers)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:V392.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.03.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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