TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/15 Ra 2020/18/0223

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Veröffentlicht am 15.10.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §19
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §37
AVG §45 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des T A, vertreten durch Dr. Martin Oberndorfer, Rechtsanwalt in 4600 Wels, Bahnhofstraße 3/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2020, W155 2182829-1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus einem Dorf in der Provinz Nangarhar, beantragte am 29. Mai 2015 - im Alter von 16 Jahren - internationalen Schutz. Seine Flucht begründete er im Wesentlichen damit, sein Vater sei Dorfältester gewesen und von den Taliban aufgefordert worden, mit ihnen zusammenzuarbeiten (er sollte über Funk Informationen an die Taliban geben, wenn Militärkonvois sein Dorf durchquerten). Er habe dies abgelehnt und sei deshalb entführt und ermordet worden. Etwa ein Jahr später hätten die Taliban vom Revisionswerber verlangt, für sie tätig zu werden. Sie seien mehrmals erfolglos auf ihn zugekommen und hätten ihn bedroht. Er habe letztlich die Flucht ergriffen und fürchte im Falle der Rückkehr, von den Taliban getötet zu werden.

2        Mit Bescheid vom 23. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Begründend erachtete es das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers für nicht glaubhaft. Es könne daher nicht erkannt werden, dass dem Revisionswerber im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung drohe. Auch subsidiärer Schutz sei ihm nicht zu gewähren. Zwar stamme er aus einer volatilen Provinz Afghanistans, weshalb ihm bei Rückkehr dorthin die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen würde. Ihm stehe aber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK vor.

5        Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache geltend gemacht wird, das BVwG habe bei seiner Beweiswürdigung zum Fluchtvorbringen die Minderjährigkeit des Revisionswerbers nicht beachtet und sei insofern von - näher bezeichneter - kinderspezifischer Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Der Revisionswerber hat die Gründe seiner Flucht im Laufe des Verfahrens im Wesentlichen gleichbleibend geschildert. Ungeachtet dessen schenkt das BVwG seinen diesbezüglichen Angaben keinen Glauben und stützt sich dabei beweiswürdigend auf Widersprüche in Details, ohne die daraus gezogenen Schlussfolgerungen nachvollziehbar zu begründen. So schloss es beispielsweise aus dem Umstand, dass der Revisionswerber den Tod seines Vaters nicht schon in der Ersteinvernahme erwähnt hatte und anlässlich der Einvernahme vor dem BFA davon gesprochen hatte, dass sein Vater „Abdulwali“ heiße und schätzungsweise 45 Jahre alt sei (Formulierungen im Präsens), dass die Ermordung des Vaters nicht glaubhaft sei. Dass der Revisionswerber unmittelbar nach seiner diesbezüglichen Aussage vor dem BFA vom spurlosen Verschwinden des Vaters gesprochen hatte, blendet das BVwG bei diesen Erwägungen hingegen völlig aus. Geringfügige Unterschiede bei der Wiedergabe des Wortlauts der Drohungen der Taliban wertete das BVwG als Zeichen der Unglaubwürdigkeit des Revisionswerbers, ohne dabei auf den Zeitabstand zwischen den Einvernahmen von knapp zwei Jahren und, wie die Revision zutreffend ausführt, den Erfahrungshorizont eines Minderjährigen, der diese Geschehnisse erlebt haben will, näher einzugehen.

10       Zu Recht macht die Revision geltend, dass der Verwaltungsgerichtshofbereits wiederholt gefordert hat, dass zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines - im Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse - Minderjährigen eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung stattzufinden hat, bei der die vorgebrachte Fluchtgeschichte und allfällige Widersprüche in den Angaben unter dem Aspekt der Minderjährigkeit gewürdigt werden müssen. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte (vgl. etwa VwGH 14.12.2006, 2006/01/0362; VwGH 24.9.2014, Ra 2014/19/0020; VwGH 2.9.2015, Ra 2014/19/0127; VwGH 23.2.2016, Ra 2015/20/0161).

11       Den Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis ist nicht zu entnehmen, dass diese rechtlichen Leitlinien aus der höchstgerichtlichen Judikatur im gegenständlichen Fall Beachtung gefunden hätten. Die Revision führt auch näher aus, welche anderen beweiswürdigenden Schlussfolgerungen bei Bedachtnahme auf den kindlichen Wissens- und Erfahrungshorizont und die erwartbare „Dichte“ des Vorbringens möglich gewesen wären.

12       Das angefochtene Erkenntnis ist daher in Bezug auf seine Entscheidung zum Asyl mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet. Daran ändert auch nichts, dass das BVwG im Rahmen seiner Entscheidung über den subsidiären Schutz vom Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen ist, weil nicht geprüft wurde, ob dem Revisionswerber bei Wahrunterstellung seines Fluchtvorbringens in den als innerstaatliche Fluchtalternative herangezogenen Städten auch Schutz vor Verfolgung durch die Taliban zukommen würde.

13       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

14       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. Oktober 2020

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Parteienvernehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180223.L00

Im RIS seit

30.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

30.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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