TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/22 Ra 2019/10/0175

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Veröffentlicht am 22.10.2020
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Index

L92107 Behindertenhilfe Rehabilitation Tirol
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
24/01 Strafgesetzbuch
25/02 Strafvollzug
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §38
StGB §51 Abs2
StVG §179a Abs2 idF 2009/I/040
StVG §179a Abs2 idF 2018/I/032
TeilhabeG Tir 2018 §11
TeilhabeG Tir 2018 §12
TeilhabeG Tir 2018 §2 Abs2
TeilhabeG Tir 2018 §5
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg

Betreff

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie den Hofrat Dr. Fasching und die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Wurzer, über die Revision der E W in R, vertreten durch Dr. Monika Koidl, Rechtsanwältin in 6330 Kufstein, Kaiserbergstraße 8/2. Stock, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 12. September 2019, LVwG-2019/13/0345-3, betreffend Leistungen nach dem Tiroler Teilhabegesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Kufstein), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit (rechtskräftigem) Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Maßnahmenvollzugsgericht vom 2. Oktober 2018 wurde ausgesprochen, dass die Revisionswerberin aus einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs. 1 StGB gemäß § 47 StGB am 15. Oktober 2018 unter Bestimmung einer Probezeit von fünf Jahren bedingt entlassen werde. Gemäß §§ 50, 51 StGB wurden der Revisionswerberin u.a. folgende Weisungen erteilt:

„1.  Wohnungsnahme bei der Lebenshilfe [Tirol] in Reutte,

2.   Teilnahme am dort vorgeschlagenen Tagesgestaltungs- und Betreuungsprogramm,

...“

2        Mit Bescheid der belangten Behörde vom 10. Jänner 2019 wurde der Antrag der Revisionswerberin vom 10. Oktober 2018 auf Gewährung der Leistung „Tagesstruktur“ und „Wohnen“ nach § 11 und § 12 Tiroler Teilhabegesetz (TTHG) gemäß § 2 Abs. 2 TTHG abgewiesen.

3        Mit Schriftsatz vom 5. Juni 2019 stellte die Revisionswerberin daraufhin beim Landesgericht Innsbruck einen Antrag auf Kostenübernahme gemäß § 179a Strafvollzugsgesetz (StVG).

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 12. September 2019 wies das Landesverwaltungsgericht Tirol (Verwaltungsgericht) die von der Revisionswerberin gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 10. Jänner 2019 erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Weiters sprach es aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, nach § 2 Abs. 2 TTHG dürfe eine Leistung bzw. ein Zuschuss nur gewährt werden, wenn „ein“ [richtig: „kein“] Anspruch auf gleichartige ähnliche Leistungen und Zuschüsse nach anderen in- oder ausländischen Rechtsvorschriften bestehe. Die Bestimmung gelange daher nur subsidiär zur Anwendung.

6        Das Landesgericht Innsbruck habe in seinem Beschluss vom 2. Oktober 2018 über die Frage der Kostenübernahme für den Aufenthalt der Revisionswerberin in der „Lebenshilfe Reutte“ im Sinn des § 179a StVG nicht abgesprochen. Über den Antrag der Revisionswerberin auf Kostenübernahme sei eine Entscheidung bis dato nicht erfolgt. Vor dem Hintergrund des Verbotes des Pflegeregresses sei bezüglich der gegenständlichen Frage der Kostenübernahme [durch den Bund] der Rechtszug endgültig auszuschöpfen, ehe die Bestimmung des § 2 Abs. 2 TTHG zur Anwendung gelange. Die belangte Behörde habe daher zu Recht den Antrag auf Gewährung der Maßnahmen „Tagesstruktur“ und „Wohnen“ abgewiesen.

7        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, dem Verwaltungsgericht sei ein erheblicher Verfahrensfehler unterlaufen, indem das Verwaltungsgericht verkannt habe, dass das Vorliegen einer Vorfrage nicht zur Abweisung des gegenständlichen „Anspruchs“ berechtige; gemäß § 38 AVG habe das Verwaltungsgericht die Vorfrage vielmehr selbständig zu beurteilen bzw. das Verfahren des Verwaltungsgerichts allenfalls auszusetzen. Im Übrigen sei das Verwaltungsgericht auch von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach selbst im Falle der Kostentragung gemäß § 179a Abs. 2 StVG durch den Bund im Ausmaß des vom Bund nicht übernommenen Anteils Raum für einen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe bestehe.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9        Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

10       Die maßgeblichen Bestimmungen des Tiroler Teilhabegesetzes, LGBl. Nr. 32/2018 in der Fassung LGBl. Nr. 144/2018 (TTHG), lauten:

§ 2

Grundsätze

(1) ...

(2) Hat der Mensch mit Behinderungen

a)   Anspruch auf gleichartige oder ähnliche Leistungen und Zuschüsse nach anderen in- oder ausländischen Rechtsvorschriften oder nach statutarischen oder vertraglichen Regelungen oder

b)   ...

so darf eine Leistung bzw. ein Zuschuss nach diesem Gesetz nicht gewährt werden (Subsidiarität).

...

§ 11

Arbeit-Tagesstruktur

(1) Die Leistungen Arbeit-Tagesstruktur sollen Menschen mit Behinderungen bedarfsgerecht bei der Strukturierung des Tages unterstützen und fördern und/oder auf den Arbeitsmarkt vorbereiten.

(2) Leistungen der Arbeit-Tagesstruktur sind:

a)   ...

...

f)   Tagesstruktur in Wohnhäusern: Menschen mit Behinderungen, die die Leistung Tagesstruktur (lit. b) nicht mehr oder noch nicht in Anspruch nehmen können, soll in Kombination mit der Leistung Wohnen exklusive Tagesstruktur (§ 12 Abs. 2 lit. c) eine sinnstiftende, bedürfnisorientierte, tagesstrukturierende Aktivität und Tätigkeit angeboten werden.

...

§ 12

Wohnen

(1) Wohnleistungen sollen Menschen mit Behinderungen, angepasst an den Unterstützungsbedarf, eine adäquate Wohnform in einer Einrichtung ermöglichen.

(2) Wohnleistungen sind:

...

e)   Begleitetes Wohnen inklusive Tagesstruktur - Sozialpsychiatrie: Menschen mit psychischen Erkrankungen und wesentlichen Einschränkungen ihrer psychosozialen Fähigkeiten sollen mit dieser Wohnleistung durch tagesstrukturierende Angebote sowie Angebote im Wohnbereich in der selbstständigen Lebens- und Alltagsführung und in der Teilhabe unterstützt werden.“

11       § 179a Abs. 2 Strafvollzugsgesetz, BGBl. Nr. 144/1969 in der Fassung BGBl. I Nr. 32/2018 (StVG) lautet:

Ärztliche Nachbetreuung

§ 179a. (1) ...

(2) Ist einem bedingt Entlassenen sonst die Weisung erteilt worden, sich einer Entwöhnungsbehandlung, einer psychotherapeutischen oder einer medizinischen Behandlung zu unterziehen oder in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung Aufenthalt zu nehmen, hat der Verurteilte nicht Anspruch auf entsprechende Leistungen aus einer Krankenversicherung und würde durch die Verpflichtung zur Zahlung der Behandlungskosten sein Fortkommen erschwert, so hat die Kosten der Behandlung oder des Aufenthaltes ganz oder teilweise der Bund zu übernehmen. Der Höhe nach übernimmt der Bund die Kosten jedoch grundsätzlich nur bis zu dem Ausmaß, in dem die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau für die Kosten aufkommen könnte, wenn der Entlassene in der Krankenversicherung öffentlich Bediensteter versichert wäre; einen Behandlungsbeitrag (§ 63 Abs. 4 des Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 200/1967) hat der Rechtsbrecher nicht zu erbringen. Die Entscheidung über die Übernahme der Kosten steht dem für die Erteilung der Weisung zuständigen Gericht zu und soll nach Möglichkeit zumindest dem Grunde nach bereits bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung in geeigneter Form berücksichtigt werden.

(3) ...“

12       Der Anspruch eines Menschen mit Behinderung auf Gewährung einer Leistung nach dem TTHG besteht gemäß dessen § 2 Abs. 2 nur subsidiär, nämlich nur insoweit als (u.a.) nicht Anspruch auf „gleichartige oder ähnliche Leistungen“ nach anderen inländischen oder ausländischen Rechtsvorschriften besteht.

13       Die Frage, ob bzw. in welchem Ausmaß ein Anspruch auf Kostenübernahme nach § 179a Abs. 2 StVG besteht, stellt im Verfahren betreffend Gewährung von Leistungen nach dem TTHG eine Vorfrage im Sinne des § 38 AVG dar.

14       Der - gemäß § 17 VwGVG auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht maßgebliche - § 38 zweiter Satz AVG berechtigt die Behörde dazu, eine Vorfrage selbst zu beurteilen oder das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer im Ermittlungsverfahren auftauchenden Vorfrage auszusetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird. § 38 AVG erfasst nur Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären. (vgl. etwa VwGH 23.11.2017, Ra 2017/22/0081).

15       Da im vorliegenden Fall die (vom Landesgericht Innsbruck als Hauptfrage zu entscheidende) Frage des Bestehens eines Anspruchs der Revisionswerberin auf Kostenübernahme gemäß § 179a Abs. 2 StVG noch nicht (rechtskräftig) entschieden war, hätte das Verwaltungsgericht diese Frage nach eigener Überzeugung selbst zu beurteilen oder das bei ihm anhängige Verfahren nach dem TTHG bis zur rechtskräftigen Entscheidung dieser Vorfrage durch das zuständige Gericht auszusetzen gehabt.

16       Dies hat das Verwaltungsgericht verkannt, indem es, ohne das Verfahren auszusetzen oder die genannte Vorfrage selbst zu beurteilen (zur mangelhaften Vorfragenbeurteilung in einer Sozialhilfesache vgl. jüngst auch VwGH 9.6.2020, Ra 2019/10/0195), die Beschwerde abgewiesen hat.

17       Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Anspruch der Revisionswerberin auf Leistungen nach dem TTHG nach dessen § 2 Abs. 2 nicht bestehe, weil „vor dem Hintergrund des Verbotes des Pflegregresses“ der Rechtszug betreffend Kostenübernahme durch den Bund nicht ausgeschöpft sei, findet im Gesetz aber auch aus einem anderen Grund keine Deckung:

18       Zwar enthält § 179a Abs. 2 StVG seit der Novelle BGBl. I Nr. 40/2009 auch die Verpflichtung des Bundes zur Übernahme von Kosten einer anlässlich der bedingten Entlassung durch Weisung vorgeschriebenen Unterkunftnahme in einem Wohnheim (vgl. den Sachverhalt in VwGH 20.5.2015, 2012/10/0188; vgl. demgegenüber zur früheren Rechtslage VfSlg. 17.632 sowie VwGH 27.3.2012, 2008/10/0157). Nach den Materialien wurde damit die im Maßnahmenvollzug häufig anzutreffende Erteilung einer Weisung, in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung Aufenthalt zu nehmen (§ 51 Abs. 2 StGB), in den Katalog der anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 179a Abs. 2 StVG aufgenommen (vgl. IA 271/A, 24. GP, S. 39).

19       Es ist jedoch - worauf die Revision zutreffend hinweist - zu beachten, dass (auch in diesem Fall) die Verpflichtung des Bundes zur Übernahme von Kosten nur in dem in § 179a Abs. 2 StVG normierten Umfang besteht, weshalb im Ausmaß des vom Bund nicht übernommenen Anteils an den Kosten durchaus ein Raum für einen Anspruch auf Leistungen nach dem TTHG bliebe (vgl. die unter Rz 18 zitierte Rechtsprechung). Auch das hat das Verwaltungsgericht verkannt.

20       Das angefochtene Erkenntnis war daher aus den genannten Gründen wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

21       Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

22       Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

23       Im fortgesetzten Verfahren wird das Verwaltungsgericht für den Fall, dass kein Anspruch der Revisionswerberin auf (vollständige) Kostenübernahme durch den Bund gemäß § 179a Abs. 2 StVG besteht (zur diesbezüglichen Nichtanwendbarkeit des § 330a ASVG vgl. OGH 9.10.2019, 13 Os 77/19a), zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Leistung nach den §§ 11 und 12 TTHG vorliegen (zur Frage, ob der Aufenthalt in einem Wohnheim eine - dem Verbot des Pflegregresses unterliegende - Unterbringung in einer stationären Pflegeeinrichtung darstellt vgl. VwGH 30.4.2019, Ro 2018/10/0035, mit Hinweisen auf VwGH 29.11.2018, Ra 2018/10/0062, und VfSlg. 20.315).

Wien, am 22. Oktober 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019100175.L00

Im RIS seit

08.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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