TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/28 W273 2195193-1

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Veröffentlicht am 28.07.2020
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Entscheidungsdatum

28.07.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W273 2195195-1/7E

W273 2195261-1/6E

W273 2195191-1/6E

W273 2195197-1/5E

W273 2195193-1/5E

W273 2195250-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Isabel FUNK-LEISCH über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch: XXXX , 4. XXXX , vertreten durch: XXXX , 5. XXXX , vertreten durch: XXXX , 6. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch: XXXX , alle StA. AFGHANISTAN, alle vertreten durch: Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, 1. vom XXXX , Zl. XXXX , 2. vom XXXX , Zl. XXXX , 3. vom XXXX , Zl. XXXX , 4. vom XXXX , Zl. XXXX , 5. vom XXXX , Zl. XXXX , 6. vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt.

II.) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

III.) Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer XXXX (in Folge: BF1) und XXXX (in Folge: BF2) sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Beschwerdeführer XXXX (in Folge: BF3), XXXX (in Folge: BF4), XXXX (in Folge: BF5) und XXXX (in Folge: BF6).

BF1-BF5 stellten am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. BF6 stellte, vertreten durch die BF2, am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Erstbefragung des BF1 und der BF2 fand am XXXX statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) fand am XXXX statt.

2. Mit den angefochtenen Bescheiden vom XXXX wies das Bundesamt den Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde den Beschwerdeführern kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

3. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide fristgerecht Beschwerde.

4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine mündliche Verhandlung durch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zu den Personen der Erst- und Zweitbeschwerdeführer

Der BF1 führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zum sunnitischen Glauben und spricht Dari als Muttersprache. Er wurde in der Provinz Kunduz geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise nach Österreich.

Die BF2 führt den Namen XXXX und wurde am XXXX geboren. Sie ist afghanische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zum sunnitischen Glauben und spricht Dari als Muttersprache. Die BF2 wurde in der Provinz Kunduz geboren und lebte dort bis zu ihrer Ausreise nach Österreich. Die BF2 trug in Afghanistan eine Ganzkörperverhüllung (Burka, Handschuhe und Socken). Sie verließ das Haus ca. alle drei bis sechs Monate in Begleitung ihres Ehemannes.

BF1 und BF2 sind standesamtlich sowie traditionell verheiratet. Die Beschwerdeführer haben insgesamt vier minderjährige Kinder (BF3-BF6).

Die BF2 hat keine Schul- oder Berufsausbildung in Afghanistan absolviert. Sie war Analphabetin. In Afghanistan war privat als Kosmetikerin tätig und empfing Kundinnen im Haus der Beschwerdeführer.

Die BF2 hat in Österreich einen Alphabetisierungskurs besucht. Sie hat Deutschkurse sowie Integrationskurse besucht. Die BF2 ist in der Lage sich im Alltag auf Deutsch zu verständigen.

Von XXXX bis XXXX war die BF2 als Hilfsarbeiterin in der Küche des Sozialhilfeverbands XXXX tätig. Sie verfügt über eine Einstellungszusage als Hilfskraft in der Küche des XXXX in XXXX . Zudem leistet sie ehrenamtliche Arbeit in der Pfarre XXXX . Sie arbeitet auch ehrenamtlich zwei Tage in der Woche in einem Altenheim in ihrer Wohnsitzgemeinde.

Die Beschwerdeführer leben von der Grundversorgung, sie sind nicht selbsterhaltungsfähig.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

BF 1 und BF2 sind gesund.

1.2. Zu den Personen der Dritt-, Viert-, Fünft- und Sechstbeschwerdeführer

Der minderjährige BF3 trägt den Namen XXXX und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er wurde am XXXX in der Provinz Kunduz geboren und ist dort bis zur Ausreise nach Österreich auch aufgewachsen.

Der minderjährige BF4 trägt den Namen XXXX und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er wurde am XXXX in der Provinz Kunduz geboren und ist dort bis zur Ausreise nach Österreich auch aufgewachsen.

Die minderjährige BF5 trägt den Namen XXXX und ist afghanische Staatsangehörige. Sie wurde am XXXX in der Provinz Kunduz geboren und ist dort bis zur Ausreise nach Österreich auch aufgewachsen.

Der minderjährige BF6 trägt den Namen XXXX und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er wurde am XXXX in XXXX , Österreich, geboren.

Die BF3 bis BF6 gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Die minderjährigen Beschwerdeführer leben mit ihren Eltern im Familienverband. Die minderjährigen Beschwerdeführer sind gesund.

1.3. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer

Die BF2 ist eine junge Frau, die in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie trägt keine Kopfbedeckung und ist nicht traditionell gekleidet. Sie bewältigt sämtliche Alltagsaufgaben selbständig. Die BF2 spricht Deutsch auf gutem Alltagsniveau und benötigt keine Unterstützung im Alltag. Sie plant den Eintritt in ein konkretes Arbeitsverhältnis als Küchengehilfin und hat dafür eine Einstellungszusage. Die BF2 beabsichtigt, in Österreich ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen bzw. führt dieses bereits und hat die in Österreich gelebte Lebensweise verinnerlicht.

Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen. Der BF2 drohen aufgrund ihrer in Österreich angenommenen und verinnerlichten Lebensweise in ihrer Herkunftsprovinz Kunduz, sowie in allen anderen Teilen Afghanistans individuelle und konkrete Gefahren physischer oder psychischer Gewalt.

1.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2020, letzte Kurzinformation vom 29.06.2020 (betrifft COVID 19) (LIB).

-        Kurzinformation der Staatendokumentation COVID-19 Afghanistan; Stand: 9.4.2020

-        UNHCR - Richtlinien zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von AsylwerberInnen aus Afghanistan (Entwicklungen in Afghanistan; Sicherheitslage; Auswirkungen des Konflikts auf ZivilistInnen; Menschenrechtslage; humanitäre Lage; Risikoprofile; interne Fluchtalternative; Ausschlussgründe; etc.) vom 30.08.2018;

-        Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan, UNHCR Österreich, November 2018;

-        EASO-Leitlinien zu Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan Guidance Note and Common Analysis) vom Juni 2019;

-        EASO-Länderinformationen zu den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen in Afghanistan, Schwerpunkt Kabul City, Mazar-e Sharif und Herat City (EASO Country of Origin Report: Afghanistan Key socio-economic indicators, focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City) vom April 2019 (nur auf Englisch verfügbar).

-        Accord Information: Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020

-        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif / ecoi.net featured topic on Afghanistan: Security situation and socio-economic situation in Herat-City and Mazar-e Sharif, 26. Mai 2020

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2)

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        Bericht Landinfo: Afghanistan: Organisation und Struktur der Taliban vom 23.08.2017

-        Bericht Landinfo: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne vom 23.08.2017

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN: Taliban Drohbriefe, Bedrohung militärischer Mitarbeiter vom 28.07.2016

-        Bericht Landinfo: Afghanistan: Zwangsrekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017

-        UK Homeoffice Country Policy and Information Note Afghanistan: Anti-government elements (AGEs), June 2020

-        Anfragebeantwortung „Frauen in urbanen Zentren“ vom 18.09.2017

-        Anfragebeantwortung „Situation alleinstehender Frauen und Mädchen“ vom 13.10.2017

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

1.4.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet.

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (KI 29.06.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lockdown Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (KI 29.06.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt. Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (KI 29.06.2020).

1.4.2. Heimatprovinz Kunduz

Die Provinz Kunduz war schon immer ein strategischer Knotenpunkt. Darüber hinaus verbindet die Provinz Kunduz den Rest Afghanistans mit seiner nördlichen Region und liegt in der Nähe einer Hauptstraße nach Kabul. Somit liegt die Provinz Kunduz im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan, im Osten an die Provinz Takhar, im Süden an die Provinz Baghlan und im Westen an die Provinz Balkh. Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai (LIB, Kapitel 3.21).

Die Sicherheitslage der Provinz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Sowohl 2015 als auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz City durch die Taliban und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein.

Die Taliban hatten laut Quellen im Februar 2019 im Distrikt Dasht-e-Archi eine parallele Schattenregierung gebildet, die einen Distriktgouverneur, Bildungsleiter, Justiz, Gesundheit, Öffentlichkeitsarbeit, Militär und die Finanzkomitees umfasst.

In den vergangenen Monaten sind Zellen der Islamischen Staates in der nördlichen Provinz Kunduz aufgetaucht; auch soll der IS dort Basen und Ausbildungszentren unterhalten.

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kunduz in der Verantwortung des 217. ANA Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command – North (TAAC-N) unter der Führung deutscher Streitkräfte untersteht.

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 492 zivile Opfer (141 Tote und 351 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einer Steigerung von 46% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffen. In Kunduz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte; dabei werden unter anderem auch Aufständische getötet.

Auch kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften. Ende August 2019 starteten die Taliban in Kunduz-Stadt eine Großoffensive mit mehreren Hundert Kämpfern. Dabei konnten sie das Provinzkrankenhaus, die Zentrale der Elektrizitätsversorgung und den dritten Polizeibezirk der Stadt einnehmen. Die Kämpfer verschanzten sich in Häusern und lieferten sich Gefechte mit dem afghanischen Militär (LIB, Kapitel 3.21).

1.4.3. Frauen

1.4.3.1. Rechte:

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (LIB, Kap. 18.1). Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.2. Bildung:

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten. Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung, sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (LIB, Kap. 18.1).

Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041, also nur 22,5%, weiblich (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.3. Berufstätigkeit:

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kap. 18.1).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht. Für das Jahr 2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an. So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv – manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden. Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden.

Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.4. Politische Partizipation und Öffentlichkeit:

Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (LIB, Kap. 18.1).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.5. Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung:

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (LIB, Kap. 18.1).

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet. Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern – das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten. Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch. Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Justiz war weiterhin unterfinanziert, unterbesetzt, unzureichend ausgebildet, weitgehend ineffektiv und Drohungen, Voreingenommenheit, politischem Einfluss und allgegenwärtiger Korruption ausgesetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.6. Frauenhäuser:

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.7. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt:

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.8. Familienplanung und Verhütung:

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben. Dem Strafgesetzbuch zufolge, ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.9. Reisefreiheit von Frauen:

Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt. In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (LIB, Kapitel 18.1).

Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In unzähligen Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (LIB, Kap. 18.1).

1.4.3.10. Kleidung:

Kleidungs- und Kopftuchvorschriften variieren in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat erheblich. Generell umfasst Frauenkleidung in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung – diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten „Manteau shalwar“ tragen, d.h. Hosen und Mantel, mit verschieden Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten. Es herrschen weiterhin Debatten über die angemessenste Art der Bekleidung von Frauen, vor allem auch darüber was letztendlich eine richtige „islamische“ Körper- oder Kopfbedeckung darstellt. Die Vorstellungen, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigen sollen bzw. dürfen unterscheiden sich oft erheblich, je nach der Herkunft, Geschlecht und Bildungsstand der Befragten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.09.2017, AFGHANISTAN, Frauen in urbanen Zentren, S. 2).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Feststellungen zu den Personen der Beschwerdeführer

Die Feststellungen zu den Identitäten der Beschwerdeführer ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zu den Namen und den Geburtsdaten der Beschwerdeführerin gelten ausschließlich zur Identifizierung der Personen der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer, ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrer Muttersprache und ihrem Lebenslauf gründen sich auf ihren diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom XXXX (in Folge: VHS), S. 9, S. 19). Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen der Beschwerdeführer zu zweifeln.

Die Feststellung zum Familienstand des BF1 und der BF2 ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens sowie aus der vorgelegten standesamtlichen Heiratsurkunde (BFA-Akt des BF1, AS 509ff; Übersetzung AS 529f.). Es ergab sich im Verfahren kein Anlass, an den diesbezüglichen Angaben der BF zu zweifeln. Diese traten in der mündlichen Verhandlung als Familie auf (VHS).

Die Feststellung zur Kleidung der BF2 in Afghanistan und ihren Ausgehgewohnheiten ergeben sich aus ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung (VHS, S. 10).

Die Feststellung zur bisherigen Berufserfahrung der BF2 als Kosmetikerin beruhen auf ihren gleichbleibenden Angaben während des gesamten Verfahrens (BFA-Akt der BF2, AS 412; VHS, S. 15-16).

Die Feststellungen zum Leben der BF2 in Österreich (insbesondere zur Aufenthaltsdauer, ihren Deutschkenntnissen, ihren fehlenden familiären Anknüpfungspunkten (abgesehen von ihrem Ehemann, den gemeinsamen Kindern und dem Bruder des BF1) in Österreich und ihrer Integration in Österreich) stützen sich auf die Aktenlage (vgl. insbesondere den Auszug aus dem Grundversorgungs-Informationssystem), auf die Angaben der BF2 in der mündlichen Verhandlung (VHS, S. 11-15) sowie auf die von ihr in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen (Einstellungszusage XXXX vom XXXX , Arbeitsbestätigung XXXX vom XXXX , Bestätigung ehrenamtliche Tätigkeit Pfarramt XXXX vom XXXX , Unterstützungsschreiben Gemeindeamt XXXX vom XXXX , Unterstützungsschreiben Volkshilfe Flüchtlings- und Migrantinnenbetreuung GmbH vom XXXX , Zertifikat Spracherwerbsmaßnahme XXXX vom XXXX , ÖIF Werte- und Orientierungskurs vom XXXX , Unterstützungsschreiben XXXX vom XXXX )

Die Feststellungen zum täglichen Leben, den beruflichen Wünschen und zu den Freizeitaktivitäten der BF2 in Österreich stützen sich auf ihre eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung (VHS, S. 11-15).

Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen konnten auch vom Gericht getroffen werden, weil die Beschwerdeführerin in der Verhandlung die auf Deutsch gestellten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat (VHS, S. 11-12).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahren und insbesondere in der mündlichen Verhandlung (VHS, S. 14-15, S. 22) und auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF1 und der BF2 ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Strafregisterauszüge vom 30.06.2020 und vom 23.07.2020).

2.2. Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin

Die Feststellungen betreffend die überwiegende Orientierung der BF2 an dem allgemein als "westlich" zu bezeichnenden Frauen- und Gesellschaftsbild ergeben sich aus dem selbstbewussten und offenen Auftreten der BF2 in der mündlichen Verhandlung sowie aus den im konkreten Einzelfall vorliegenden Umständen hinsichtlich der Erwerbstätigkeit der BF2.

Die BF2 hat in Österreich bereits Arbeitserfahrung als Küchengehilfin in einem Altenheim gesammelt und verfügt über eine Einstellungszusage als Küchengehilfin in einem Gasthaus (Einstellungszusage XXXX vom XXXX ; VHS, S. 12: R: „Haben Sie Pläne für eine Erwerbsarbeit in Österreich?“ BF2: „Ja, ich möchte arbeiten. Ich habe eine Einstellungszusage für den Gasthof XXXX , der Besitzer kennt mich gut und hat mir zugesichert, dass ich dort arbeiten kann, wenn ich im Verfahren eine positive Entscheidung bekomme.“). Auf die Frage, wie die Kinderbetreuung ablaufen werde, wenn sie berufstätig sei, führte die BF2 aus, dass ihr Mann sich um Kinder und Haushalt kümmern werde, sobald sie arbeiten geht (VHS, S. 13). Diese Angaben wurden vom BF1 bestätigt (VHS, S. 21). Daraus ergibt sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, dass die BF2 eigeninitiativ ihr zukünftiges berufliches Leben plant und diese Pläne selbständig umsetzt bzw. umsetzen kann. Die BF2 hat auch bereits mit ihrem Mann Vereinbarungen getroffen, um diese Pläne konkret in die Tat umzusetzen. So erfüllt sie im konkreten Fall die Anforderungen und Voraussetzungen für die von ihr angestrebte berufliche Tätigkeit und hat sich zudem konkrete Ziele für ihre persönliche Zukunft gesetzt. Die von der BF2 getätigten Aussagen lassen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes darauf schließen, dass sich die BF2 bereits ernsthaft mit den Voraussetzungen zur Ergreifung eines Berufes auseinandergesetzt hat. Sie kann sich auf Deutsch auf ausreichendem Niveau über Alltagsthemen unterhalten (VHS, S. 11-12). Sie hat diesbezüglich überzeugend dargelegt, dass sie ihre Deutschkenntnisse für eine langfristige Erwerbstätigkeit weiterhin verbessern wird müssen und sich auch in diesem Zusammenhang ein konkretes Ziel gesetzt (VHS S. 11).

Die diesbezüglichen Angaben der BF2 in der mündlichen Verhandlung wurden durch die zahlreichen vorgelegten Unterlagen bestätigt, aus denen die gemeinnützige berufliche Tätigkeit der BF2 und ihre Integrationsschritte der letzten zwei Jahre in der Gemeinde XXXX hervorgehen (vorgelegte Unterlagen laut VHS S. 8). Die Tätigkeit der BF2, ihre Deutschkenntnisse und berufliche Zielen wurden von den Vertretern der Gemeinde ausdrücklich hervorgehoben. Es besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Zweifel, an der Echtheit und Richtigkeit dieser schriftlichen Angaben zu zweifeln.

Die Umstände ihres Alltagslebens in Österreich lassen ebenfalls darauf schließen, dass die BF2 eine selbstbestimmte Lebensführung und Geisteshaltung angenommen hat, und dies ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist, die sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan in einer die dortigen sozialen Normen verletzenden Weise exponieren würden.. Nachgefragt, wer in Österreich einkaufen geht, führte die BF2 aus, dass sie alleine einkaufen gehe und selbst über das Bankkonto der Familie verfüge. In Afghanistan habe sie hingegen nie alleine aus dem Haus gehen können. Sie hätte nur alle drei bis sechs Monate das Haus in Begleitung ihres Ehemannes verlassen (VHS, S. 10). Der BF1 bestätigte die Aktivitäten und beruflichen Pläne seiner Frau und gab an, sie dabei zu unterstützen (VHS, S. 20). Hier lässt sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes eine deutliche Veränderung im Verhalten der BF2 erkennen, aus dem sich eine von dem traditionellen in der afghanischen Gesellschaft verwurzelten Lebensbild von Frauen abweichende Orientierung ableiten lässt. Die BF2 hat sich in Österreich ein eigenständiges Leben aufgebaut, das sich – trotz der Sorgepflichten für vier minderjährige Kinder - an beruflichen und sozialen Aktivitäten außerhalb des häuslichen Bereiche ausrichtet. Sämtliche in diesem Zusammenhang getätigten Angaben der BF2 wurden zudem vom BF1 in seiner Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Ihre soziale Umgebung besteht laut ihrem angegeben Tagesablauf nicht mehr nur aus ihrem eigenen Familienkreis, sondern auch aus Sozialkontakten mit Österreichern sowie ihrem Arbeitsumfeld. Die BF2 nimmt des Weiteren Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und freiwilligen Tätigkeiten in Anspruch (ehrenamtliche Tätigkeiten für die Pfarre) und knüpft soziale Kontakte in Österreich, sodass sie typische Freizeitgestaltungen wahrnimmt und dem Kontakt zu Mitmenschen aktiv sucht.

Die BF2 verwaltet auch das Geld, welches den Beschwerdeführern monatlich zur Verfügung steht. Sie hat ein persönliches Bankkonto und eine eigene Bankomatkarte und verfügt eigenständig über das Geld der Familie (VHS, S. 12-13). Diese Angaben stehen im Einklang mit den diesbezüglichen Ausführungen des BF1 (VHS, S. 21). Die BF2 übt in Österreich alle finanziellen Angelegenheiten des täglichen Lebens ohne Mitwirkung ihres Ehemannes vollständig selbstständig aus.

Hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes trug die BF2 ihre Haare in der Beschwerdeverhandlung offen, trug dezente Schminke und eine gelbe Bluse (VHS, S. 15). Befragt, welche Kleidung sie in Afghanistan getragen habe, führte die BF2 aus: „Wenn ich hinausgegangen bin, habe ich eine Ganzkörperverhüllung getragen, es war eine Burka, Handschuhe und Socken. (…) Ich wurde von der Gesellschaft gezwungen, ein Kopftuch zu tragen. Die Taliban haben von Frauen verlangt ihren ganzen Körper zu verhüllen, Frauen durften keinen Nagellack tragen. Aus Angst das ich von den Taliban oder Nachbarn belästigt werden könnte, habe ich mich an die Vorschrift gehalten.“ (VHS, S. 10 und S. 11). Sie habe das Kopftuch seit ihrer Einreise in Österreich ganz abgelegt (VHS, S. 10). Dies wurde bereits vom BFA im Rahmen der Einvernahme der BF2 festgehalten (BFA-Akt, Einvernahme vom XXXX , S. 6). Aus den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen ergibt sich, dass Frauenkleidung in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum umfasst, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Marzar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel, mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservative Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes hat die BF2 während ihres Aufenthaltes in Österreich eine deutlich sichtbare Entwicklung durchgemacht, die sich in den Veränderungen ihres äußeren Erscheinungsbildes (Ablegen des Kopftuches) sowie in der ständigen Erweiterung ihres Bewegungs- und Kontaktradius ausdrücken. Durch die in der mündlichen Verhandlung getätigten Angaben, brachte die BF2 einen klaren Widerspruch zur traditionellen afghanischen Wertehaltung zum Ausdruck, weshalb ihr eine intensivere Verhüllung nicht zumutbar wäre. Das Zeigen ihres Gesichts und ihrer Haare in der Öffentlichkeit ist für die BF2 bereits zu einem solch wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden, dass von ihr nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Die BF legte diese Verinnerlichung des westlichen Frauen- und Gesellschaftsbildes bei der Frage, weswegen sie nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, auch selbst glaubhaft dar (VHS, S. 17).

Die BF2 vermochte in der Beschwerdeverhandlung somit zu überzeugen, dass sie in Österreich nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt, sondern diese aus tiefer Überzeugung ablehnt. Die BF2 hat sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich mittlerweile an die Lebensführung ohne religiös-motivierte Einschränkungen angepasst und will sich auch weiterhin anpassen. Die BF2 hat die zugrundeliegenden Werte verinnerlicht und lebt auch danach.

Dass diese Werthaltung in Widerspruch zu den Werthaltungen und Vorstellungen zu Verhaltensweisen von Frauen in Afghanistan steht, ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung der eingebrachten Länderinformationen, der Ausführungen in den UNHCRL RL 2018 und den individuellen Umständen der Beschwerdeführer. Aus dem LIB geht hervor, dass sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen zwar erhöht hat, dass aber konservative Einstellungen nach vor präsent sind und Frauen durch traditionelle schädliche Praktiken an Aktivitäten außerhalb des Hauses gehindert werden (LIB Kapitel 18).

Aus den UNHCR RL 2018 geht dazu hervor, dass trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidungsvorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf (UNHCR RL 2018, 87).

Es ist aufgrund einer Würdigung der eingebrachten Länderberichte und der glaubhaft dargestellten konkreten Lebensumstände der BF2 daher davon auszugehen, dass eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertvorstellungen den BF2 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes im westlichen Ausland und ihre Anpassung an das hier bestehende Gesellschaftssystem zumindest unterstellt würde. Wie aus den Länderberichten und den UNHCR RL 2018 hervorgeht, besteht demzufolge die konkrete Gefahr, dass die BF2 aufgrund dieser verinnerlichten Werthaltung physischer und psychischer Gewalt in Afghanistan ausgesetzt wäre.

2.3.    Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Zuerkennung des Status der Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH vom 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung muss zudem in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen (VwGH vom 22.03.2017, Ra 2016/19/0350).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, VwGH vom 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH vom 08.09.2015, Ra 2015/18/0010)

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0171).

3.1.2. Die BF2 hat seit ihrer Einreise nach Österreich im Jahr XXXX eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Sie hat somit eine „westliche“ Lebensführung angenommen, die ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist und mit der sie mit den sozialen Gepflogenheiten des Heimatlandes brechen würde.

Bezogen auf Afghanistan führt die Eigenschaft des Frau-Seins an sich gemäß der ständigen Judikatur der Höchstgerichte nicht zur Gewährung von Asyl. Lediglich die Glaubhaftmachung einer persönlichen Wertehaltung, die sich an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert, wird als asylrelevant erachtet; es ist daher zu prüfen, ob westliches Verhalten oder „westliche“ Lebensführung derart angenommen und wesentlicher Bestandteil der Identität einer Frauen geworden ist, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (VfGH 12.06.2015, Zl. E 573/2015).

BF2 hat glaubhaft dargelegt, dass sie auf Grund ihrer inneren und nach außen hin erkennbaren persönlichen Wertehaltung und wegen ihres Widerstandes gegen die in Afghanistan vorherrschenden Diskriminierungen und Einschränkungen im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre. Das von der persönlichen Wertehaltung der BF2 überwiegend getragene und als westlich zu bezeichnende Frauen- und Gesellschaftsbild steht im Gegensatz zu der in weiten Teilen Afghanistans vorherrschenden Lebensweise. Die BF2 trägt diese Wertehaltung auch nach außen. Infolgedessen verletzt die BF2 mit ihrer Lebensweise die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan in einem Ausmaß, dass ihr bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des derzeitigen Lebensstils) eine Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde.

Im vorliegenden Fall ist nicht hervorgekommen, dass es der afghanischen Zentralregierung möglich wäre, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Bevölkerungsgruppe der afghanischen Frauen Sorge zu tragen, der afghanische Staat kommt somit seinen Schutzpflichten hinsichtlich dieser Bevölkerungsgruppe meist nicht nach. Ausgehend davon kann die BF2 nicht mit hinreichender Sicherheit damit rechnen, dass sie angesichts des sie als Frau betreffenden Risikos, Opfer von Übergriffen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann. Angesichts der dargestellten Umstände ist bei der Beschwerdeführerin daher davon auszugehen, dass sie in Afghanistan den Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus der befürchteten Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat.

Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die der BF2 im Fall der Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation als Frau und aufgrund der von ihren inneren Wertehaltungen getragenen und nach außen hin erkennbaren überwiegenden Orientierung am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild, ihrem bisherigen Verhalten, sowie ihrer individuellen Lebensumstände in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität ist.

Bei der BF2 liegt somit jedenfalls das oben dargestellte Verfolgungsrisiko in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen, vor (vgl. dazu VwGH 16.04.2002, Zl. 99/20/0483; 20.06.2002, Zl. 99/20/0172, u.a.). Eine inländische Fluchtalternative steht der BF2 unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände in Afghanistan ebenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Verfügung.

Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, noch ein in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der Beschwerde stattzugeben und der BF2 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.

3.1.3. Zur Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an BF1, BF3, BF4, BF5 und BF6:

Gemäß § 34 Abs. 2 iVm Abs. 5 AsylG 2005 hat das Bundesverwaltungsgericht aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist, gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde und kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9).

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist "Familienangehöriger", wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits im Herkunftsland bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.

Der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen ist - anders als etwa bei der Anwendung des § 35 AsylG 2005, der in seinem Abs. 5 festlegt, wer nach dieser Bestimmung als Familienangehöriger anzusehen ist - im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen. Weiters ist aus dem Blickwinkel des Kindes, das die Eigenschaft als Familienangehöriger von seinen Eltern ableiten möchte, auf den Zeitpunkt der Antragstellung - bezogen auf den von ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz - abzustellen. Es muss, um als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu gelten, in diesem Zeitpunkt minderjährig und ledig sein. Dem Eintritt der Volljährigkeit vor dem Entscheidungszeitpunkt kommt in diesem Fall keine Bedeutung zu. Für die Anwendung des § 34 AsylG 2005 ist es hinreichend, dass (und solange) zumindest ein Fall des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 gegeben ist (vgl. VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040 bis 0044).

Darüber hinaus differenziert das Gesetz beim Status der Asylberechtigten jedoch nicht. Weder kennt das Gesetz einen "originären" Status des Asylberechtigten, noch spricht das Gesetz in § 34 Abs. 4 AsylG 2005 davon, dass im Familienverfahren ein anderer, nur "abgeleiteter" Status zuzuerkennen ist. Im Gegenteil spricht der zweite Satz des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 ausdrücklich davon, dass "der" Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist, was nur bedeuten kann, dass der Status der Asylberechtigten an sich (ohne weitere Differenzierung) zuzuerkennen ist. Im Übrigen lässt sich auch der Status-Richtlinie 2011/95/EU eine solche Differenzierung bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entnehmen (vgl. insbesondere deren Art. 13). Ist einem Familienangehörigen - aus welchen Gründen auch immer - ohnedies der Status der Asylberechtigten zu gewähren, so kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, er habe darüber hinaus vorgesehen, dass auch in diesem Fall eigene Fluchtgründe zu prüfen wären. Dies würde der vom Gesetzgeber ausdrücklich angeführten Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband entgegenstehen (vgl. VwGH, 30.04.2018, Ra 2017/01/0418). Demzufolge war auf das Vorbringen zu den Fluchtgründen der BF1, BF3, BF4, BF5 und BF6 nicht weiter einzugehen.

Gemäß § 34 Abs. 2 iVm Abs. 5 AsylG 2005 ist folglich dem Ehemann der BF2, dem BF1, und den minderjährigen Kindern der BF2, BF3-BF6, der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, zumal keine Sachverhaltselemente, die unter einen der Tatbestände des § 34 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 zu subsumieren wären, erkennbar sind.

3.1.4. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass den Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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