TE Vfgh Erkenntnis 2020/9/22 E763/2020 ua

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Veröffentlicht am 22.09.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten betreffend eine Familie aus dem Irak; mangelnde Auseinandersetzung mit der Minderjährigkeit der Kinder und der innerstaatlichen Fluchtalternative der Familie

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln sowie gegen die erlassenen Rückkehrentscheidungen und gegen die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.400,80 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind aus Bagdad stammende Staatsangehörige des Irak, gehören der Volksgruppe der Araber an und bekennen sich zum sunnitischen Islam. Der Erstbeschwerdeführer wurde am 4. Oktober 1971 geboren und ist mit der am 6. November 1979 geborenen Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Gemeinsam haben sie vier minderjährige Kinder (die Dritt- bis Sechsbeschwerdeführerinnen), die am 24. Februar 2003, am 8. August 2004, am 24. Oktober 2009 und am 20. August 2016 geboren wurden. Sie stellten nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 23. September 2015 bzw zu einem späteren Zeitpunkt für die im Bundesgebiet nachgeborene Sechstbeschwerdeführerin Anträge auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheiden vom 9. Dezember 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurden die Anträge auf Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Weiters wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG ausgesprochen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.

3. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit am 5. Februar 2019 mündlich verkündetem und am 30. Jänner 2020 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis als unbegründet ab. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden könne, dass eine Rückkehr der Beschwerdeführer in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder 13 der Konvention bedeuten oder für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Auch seien im Verfahren keine in den Personen der Beschwerdeführer liegenden Gründe, die einer Rückkehr bzw Abschiebung entgegenstehen würden, zum Vorschein gekommen.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung von Gegenschriften aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Die in der angefochtenen Entscheidung getroffenen Feststellungen betreffen ua die Sicherheitslage im Irak, insbesondere in Bagdad, die politische, wirtschaftliche und menschenrechtliche Lage sowie die Situation von sunnitischen Arabern, Binnenflüchtlingen und Rückkehrern. Diese Feststellungen basieren ausweislich der Beweiswürdigung auf unterschiedlichen, überwiegend aus dem Jahr 2018 stammenden Länderberichten verschiedener, teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen. Allerdings finden sich in den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Länderfeststellungen keinerlei Angaben zur Lage von Minderjährigen.

3.2. Bei der Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob diese unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, zur Beurteilung der Sicherheitslage einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage jedenfalls erforderlich (vgl UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikel 1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74). Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung von Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben (vgl zB VfGH 28.11.2019, E2526/2019 ua mwN).

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht geht in der angefochtenen Entscheidung auf die Minderjährigkeit der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführerinnen nicht ein. Es fehlen sämtliche Feststellungen hinsichtlich der speziellen Gefährdungslage für Minderjährige im Irak. Ebenso wenig erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Tatsache der Minderjährigkeit in der Beweiswürdigung oder (über die Zurechnung von Handlungen der Eltern an die Minderjährigen hinausgehend) in der rechtlichen Beurteilung. Damit unterbleibt eine Klärung der Frage, ob den Dritt- bis Sechstbeschwerdeführerinnen im Falle einer Rückkehr in den Irak eine Verletzung insbesondere ihrer gemäß Art2 oder 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten droht (vgl zuletzt VfGH 10.3.2020, E4415/2019 ua mwN).

3.4. Zudem kommt gemäß den "International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq" des UNHCR vom Mai 2019, S 122, eine Rückkehr nach Bagdad nur für arabische, sunnitische oder schiitische, alleinstehende, gesunde Männer oder ebensolche kinderlose Paare im erwerbsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilitäten in Betracht. Die Beschwerdeführer als Familie mit vier minderjährigen Kindern fallen jedoch nicht in diese Kategorien. Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin die spezifische Situation der Beschwerdeführer, insbesondere (auch) des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin als Eltern vierer minderjähriger Kinder, nicht hinreichend berücksichtigt und dadurch seiner Entscheidung nicht den konkreten Sachverhalt zugrunde gelegt.

3.5. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich im Hinblick auf die Beurteilung einer den Beschwerdeführern im Falle der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK schon aus diesen Gründen als verfassungswidrig. Soweit sich die Entscheidung auf die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten an die Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie auf die erlassenen Rückkehrentscheidungen und die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie somit als objektiv willkürlich zu qualifizieren und insoweit aufzuheben.

4. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

4.1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

4.2. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

4.3. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde – soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet – abzusehen und sie insoweit gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie gegen die erlassenen Rückkehrentscheidungen und die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen werden, in dem durch ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag von 30 vH des Pauschalsatzes, zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 566,80 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E763.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.10.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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