Entscheidungsdatum
22.08.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2161610-1/38E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, Alser Straße 20, gegen die Spruchpunkte III. und IV. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.05.2017, Zl. 1143421100-170226065, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 26.06.2019 zu Recht:
A) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 20.02.2017 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am 21.02.2017 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Schwechat gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX und habe zuletzt in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, bekenne sich zum alevitischen Glauben und sei ledig.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er habe die Türkei am 18.02.2017 illegal mit einem Lastkraftwagen verlassen und sei dermaßen schlepperunterstützt auf dem Landweg nach Österreich verbracht worden.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, ein Freund von ihm habe sich im sozialen Medium Facebook schlecht über den türkischen Staatspräsidenten Erdogan geäußert und sei deshalb festgenommen. Auch er habe via Facebook über den türkischen Staatspräsidenten "geschimpft" und er fürchte daher ebenfalls die Festnahme.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 05.05.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in türkischer Sprache niederschriftlich von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin einvernommen.
3. Mit dem hier angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.05.2017, Zl. 1143421100-170226065, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz - nach der Wiedergabe der Einvernahmen des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person insbesondere aus, der Beschwerdeführer sei in der Türkei weder vorbestraft, noch werde nach ihm gefahndet. Im Fall einer Rückkehr in die Türkei habe der Beschwerdeführer keine staatlichen Sanktionen zu befürchten.
Der Beschwerdeführer verfüge im Heimatland über familiäre Anknüpfungspunkte, er sei ein gesunder junger Mann, der in der Lage sei, durch Arbeit selbst für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Der Beschwerdeführer sei in die türkische Gesellschaft integriert und der Landessprache mächtig, und es erweise sich deshalb eine Rückkehr als zumutbar und möglich. Eine asylrelevante Verfolgung im Rückkehrfall sei nicht feststellbar.
In der gewissenhaft und ausführlich vorgenommenen Beweiswürdigung wird diesbezüglich dargelegt, der Beschwerdeführer habe sein Fluchtvorbringen nicht glaubhaft darlegen können, da er ein sich steigerndes Vorbringen zu verantworten habe, sich die im Verfahren vorgebrachte Beschimpfung der türkischen Staatspräsidenten in Facebook in dieser Form nicht bewahrheitet habe und die entsprechenden Postings allesamt auf den 20.02.2017 und damit den Tag der Antragstellung im Bundesgebiet konzentrieren würden. Darüber hinaus habe sich der Beschwerdeführer in zahlreiche Wiedersprüche und Ungereimtheiten verwickelt und stelle die Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe bzw. zur alevitischen Religion keine asylrelevante Verfolgung dar.
In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem Beschwerdeführer sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er in der Türkei über genügend Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem Beschwerdeführer sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen und erweise sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Privatlebens als zulässig.
4. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.05.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Gegen den dem Beschwerdeführer am 24.05.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.05.2017 richtet sich die im Wege der bevollmächtigten Rechtsberatung fristgerecht am 06.06.2017 eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 zu erteilen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, er sei mehrmals gefoltert worden und habe dabei Zähne verloren, darüber hinaus wären ihm Messerstiche zugefügt worden. Allenfalls divergierende Aussagen wären auf psychische Instabilität zurückzuführen und würde er im Fall einer Rückkehr in die Türkei in eine ausweglose Lage geraten.
6. Die Beschwerdevorlage langte am 16.06.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde zunächst der Gerichtsabteilung L523 zur Erledigung zugewiesen. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 07.08.2018 wurde das Beschwerdeverfahren der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
7. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.01.2019 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage in der Türkei, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 09.05.2016 zu Konsequenzen bei negativen Äußerungen über den Staatspräsidenten in sozialen Netzwerken, der Bericht des British Home Office "Turkey: Kurdistan Workers' Party" vom August 2018 und der Bericht des British Home Office "Turkey: Kurds" vom September 2018 zur Vorbereitung der für den 19.02.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung übermittelt und die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme dazu freigestellt. Innerhalb der eingeräumten Frist langte keine Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers ein.
8. Der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 19.02.2019 blieb der Beschwerdeführer - wie unmittelbar vor Verhandlungsbeginn seitens seiner rechtsfreundlichen Vertreterin telefonisch angekündigt - fern. Er brachte am 19.02.2019, 12.52 Uhr, eine Arbeitsunfähigkeitsbestätigung einer Ärztin für Allgemeinmedizin in Wien in Vorlage, wonach er vom 19.02.2019 bis zum 22.02.2019 wegen Krankheit arbeitsunfähig sei. In der Folge wurde mittels zweier Eingaben seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 22.0.2019 detailliertere Befunde nachgereicht, mit welchen eine krankheitsbedingte Verhinderung des Beschwerdeführers hin Hinblick auf die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 19.02.2019 hinreichend nachgewiesen wurde.
9. Am 17.04.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung, eines Vertreters des belangten Bundesamtes sowie eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die für die türkische Sprache durchgeführt.
Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand des der anhand der im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen und Anfragebeantwortungen erörtert. Der Beschwerdeführer brachte im Gefolge der Verhandlung Urkunden zu seiner Integration im Bundesgebiet in Vorlage. Zuletzt brachte der Beschwerdeführer kurz vor Schluss der Verhandlung erstmals und erst über explizite Nachfrage seines rechtsfreundlichen Vertreters vor, Vater der im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältigen minderjährigen XXXX , zu sein.
Hinsichtlich der gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde wurde das Beschwerdeverfahren vom Bundesverwaltungsgerichte nach Schluss der Verhandlung am 17.04.2019 als entscheidungsreif erachtet und in weiterer Folge die gegen Spruchpunkte I. und II. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.05.2017, Zl. 1143421100-170226065, erhobenen Beschwerde mit mündlich verkündetem Teilerkenntnis als unbegründet abgewiesen.
10. Am 18.04.2019 richtete das Bundesverwaltungsgericht zunächst ein Ersuchen an den Standesamtsverband XXXX um Übermittlung eines Auszuges aus dem Personenstandsregister in Ansehung der minderjährigen XXXX . Dem Ersuchen wurde am 24.04.2019 entsprochen.
11. Da im Personenstandsregister eine andere Person als der Beschwerdeführer als Vater der minderjährigen XXXX aufschien, wurde der Beschwerdeführer mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.04.2019 ersucht, ein qualifiziertes Vaterschaftsanerkenntnis in Vorlage zu bringen oder die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft nachzuweisen.
12. Mit Eingabe seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 14.05.2019 übermittelte der Beschwerdeführer einen an das Bezirksgericht Neunkirchen gerichteten Antrag auf Feststellung der Vaterschaft, ein Schreiben der Kindesmutter und Lichtbilder der minderjährigen XXXX .
13. Am 24.05.2019 übermittelte der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung den Beschluss des Bezirksgerichtes Neunkirchen vom 17.05.2019 über die Zurückweisung seines Antrages auf Feststellung der Vaterschaft als unzulässig und die Ablichtung einer Kopie seines Antrags auf Gewährung von Verfahrenshilfe zur Erhebung eines Rekurses gegen diesen Beschluss.
14. Am 26.06.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung, eines Vertreters des belangten Bundesamtes sowie eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die für die türkische Sprache fortgesetzt und die Mutter der minderjährigen XXXX , XXXX , sowie der rechtliche Vater der minderjährigen XXXX , XXXX , als Zeugen einvernommen und der Beschwerdeführer ergänzend befragt. Im Anschluss an die Einvernahmen wurde im Einvernehmen mit den Parteien die Einholung einer Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen als Kinder- und Jugendhilfeträger als letzter Verfahrensschritt festgelegt.
15. Die Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen als Kinder- und Jugendhilfeträger langte am 25.07.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Stellungnahme wurde unter einem mit aktualisierten Informationen zur Lage im Herkunftsstaat mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.08.2019 den Parteien des Beschwerdeverfahrens zur Wahrung des Gehörs übermittelt.
Die bezughabende Stellungnahme des belangten Bundesamtes langte am 07.08.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein, der Beschwerdeführers ließ die ihm eingeräumte Frist ungenutzt verstreichen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen und ist Staatsangehöriger der Türkei. Er wurde am XXXX in im Dorf XXXX im Landkreis XXXX der Provinz XXXX geboren und wuchs dort auf. Der Beschwerdeführer ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, bekennt sich zum alevitischen Glauben und ist ledig.
Der Beschwerdeführer besuche in der Türkei die Volksschule. Er absolvierte in der Türkei außerdem seinen Wehrdienst im gesetzlich vorgesehen Ausmaß. Nach der Übersiedlung seiner Familie nach Istanbul war er in der Textilbrache und im väterlichen Immobilienbüro erwerbstätig. Der letzte Wohnort des Beschwerdeführers ist nicht zweifelsfrei feststellbar, eigenen Angaben zufolge hielt sich der Beschwerdeführer einige Monate in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX und dann in der nahen Ortschaft XXXX auf.
Seine Mutter, drei seiner vier Schwestern und sein Bruder leben derzeit in der Türkei. Eine Schwester des Beschwerdeführers lebt im Bundesgebiet, sie ist verheiratet und hat zwei Töchter. In der Türkei leben ferner Tanten und Onkeln sowie zahlreiche Cousinen und Cousins des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie in der Türkei in Kontakt. Ein Onkel des Beschwerdeführers und eine Tante leben im Vereinigten Königreich. Der Vater des Beschwerdeführers ist dessen Angaben zufolge verstorben, nähere Feststellungen dazu sind nicht möglich.
Der Beschwerdeführer beherrscht die Sprachen Kurmanci und Türkisch.
Er verließ die Türkei am 18.02.2017 illegal und schlepperunterstützt mit einem Lastkraftwagen und gelangte auf dem Landweg nach Österreich, wo er am 20.02.2017 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Beschwerdeführer verfügt über keine türkischen Ausweisdokumente im Original. Seine Angabe zur Identität können nicht aufgrund unbedenklicher, im Original vorhandener Ausweisdokumente verifiziert werden.
1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
1.3. Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 20.02.2017 wurde mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.04.2019, L521 2161610-1/17Z, rechtskräftig abgewiesen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei vor seiner Ausreise einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei nicht der Gefahr einer von staatlichen Organen oder von Privatpersonen ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie oder zur alevitischen Glaubensgemeinschaft.
Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung aufgrund in sozialen Medien getätigter Äußerungen über Repräsentanten des türkischen Staates oder wegen des Teilens von kritischen Nachrichten dritter Personen Strafverfolgung und/oder eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würden.
1.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.
1.5. Der Beschwerdeführer ist ein arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.
Er verfügt über Berufserfahrung als Immobilienmakler und eine Wohnmöglichkeit bei seiner Familie. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar. Er leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung.
1.6. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 20.02.2017 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seit dem 20.02.2017 Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war zunächst in der Gemeinde XXXX untergebracht. Seit dem 16.06.2017 lebt der Beschwerdeführer in der Bundeshauptstadt Wien in Unterkünften für Asylwerber, zuletzt wurde er in eine vom Roten Kreuz betriebene Unterkunft für Asylwerber im 14. Bezirk in Wien verlegt.
Der Beschwerdeführer ist nicht legal erwerbstätig. Er hat am 24.06.2019 mit der XXXX einen Arbeitsvorvertrag als vollbeschäftigter Flughaften-Mietwagenfahrer zu einem Bruttogehalt von EUR 1.822,10 abgeschlossen, der im Fall eines Arbeitsmarktzugangs bis zum 31.12.2019 wirksam wird. Der Beschwerdeführer verfügt allerdings über keinen Führerschein. Er geht davon aus, in einem anderen Unternehmensbereich tatsächlich eingesetzt zu werden.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich alleinstehend und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte mit österreichischen und türkischen Staatsangehörigen. Im Bundesgebiet lebt eine Schwester des Beschwerdeführers, sie ist verheiratet und lebt mit ihren zwei Kindern in Wien. Der Beschwerdeführer besucht seine Schwester eigenen Angaben zufolge "hin und wieder" und holt seine Nichten bei Besuchen vom Kindergarten ab (dazu wurde er von seiner Schwester bevollmächtigt) und beaufsichtigt seine Nichten fallweise.
Der Beschwerdeführer hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet. Er ist weder in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation Mitglied.
Der Beschwerdeführer besuchte sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache auf dem Niveau A1 im ersten Halbjahr 2017 und auf dem Niveau A2 vom 02.04.2019 bis zum 26.06.2019. Am 26.03.2019 trat er zur Integrationsprüfung A1 an, bestand diese jedoch weder in ihrem sprachlichen Teil, noch hinsichtlich des Werte- und Orientierungswissens. Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache erst in geringem Umfang.
1.7. Der Beschwerdeführer ist biologischer Vater der minderjährigen XXXX , die in XXXX bei der Kindesmutter lebt. Der Beschwerdeführer scheint im Personenstandsregister und in den bezughabenden öffentlichen Urkunden nicht als Vater auf. Er leistet keinen Unterhalt für das Kind.
Mutter der XXXX . Das Kind entspringt einer sexuellen Beziehung, die der Beschwerdeführer im Jahr 2014 in Istanbul mit der Kindesmutter einging. Die Beziehung scheiterte jedoch noch während der Schwangerschaft. Derzeit unterhält die Kindesmutter keinen Kontakt mit dem Beschwerdeführer.
Als rechtlicher Vater der XXXX scheint der Ehegatte der Kindesmutter, XXXX , im Personenstandsregister auf (die Eheschließung erfolgte nach dem Verhältnis der Kindesmutter mit dem Beschwerdeführer). Dem XXXX ist bekannt, dass er nicht der biologische Vater der minderjährigen XXXX ist, er fühlt sich dennoch gegenüber dem Kind verpflichtet und nimmt die Vaterrolle faktisch wahr. Die minderjährige XXXX bezeichnet den XXXX als ihren Vater.
Die minderjährige XXXX leidet an Epilepsie und benötigt deshalb besondere Zuwendung und rasche (medizinische) Unterstützung bei Anfällen.
Der Beschwerdeführer übermittelte am 14.05.2019 dem Bezirksgericht Neunkirchen einen Antrag auf gerichtliche Feststellung der Vaterschaft. Der Antrag wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes Neunkirchen vom 17.05.2019, 13 FAM 8/19g-2, zurückgewiesen. Begründend führte das Bezirksgericht Neunkirchen im Wesentlichen aus, ein Antrag auf gerichtliche Feststellung der Vaterschaft gegen das Kind sei nur möglich, solange noch kein Vater des Kindes feststehe. Da in Ansehung der XXXX der Ehegatte der Kindesmutter kraft Gesetzes als Vater feststehe, sei der Antrag unzulässig und der Beschwerdeführer auf die Möglichkeit eines qualifizierten (und den bisherigen rechtlichen Vater verdrängenden) Vaterschaftsanerkenntnisses verwiesen. Der Beschwerdeführer beantragte die Verfahrenshilfe zur Erhebung eines Rekurses gegen diesen Beschluss, ob die Verfahrenshilfe gewährt wurde, kann nicht festgestellt werden.
Ein qualifiziertes und den rechtlichen Vater XXXX verdrängendes Vaterschaftsanerkenntnis setzt die Zustimmung der Kindesmutter und des Kinder- und Jugendhilfeträger voraus. Die Kindesmutter lehnt die Erteilung einer solchen Zustimmung ab und ist der Ansicht, dass ihre Tochter nach Eintritt der Volljährigkeit selbst entscheiden solle, wer als ihr rechtlicher Vater gilt.
Der Beschwerdeführer unterhält keinen persönlichen Kontakt zu seiner Tochter und lebt mit ihr nicht im gemeinsamen Haushalt. Er erhält im Wege seiner in Wien lebenden Schwester (die wiederum in Kontakt mit der Kindesmutter steht) Bilder und Videos der minderjährigen XXXX . Ein persönlicher Kontakt kam insbesondere deshalb nicht zustanden, weil dem Beschwerdeführer die Wohnanschrift seiner Tochter unbekannt ist und weil er eigenen Angaben zufolge über zu wenig Geld verfügt, um sich die Fahrt leisten zu können. In der Zukunft strebt der Beschwerdeführer einen persönlichen Kontakt zu seiner Tochter an, er möchte jedoch zuvor eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Der Beschwerdeführer möchte bis zu einem Lebensalter von 16 bis 18 Jahren seiner Tochter seine Vaterschaft nicht deklarieren und sich als Freund oder Nachbar vorstellen und seiner Tochter Geschenke bringen. Er rechnet für diesen Fall mit einer Zustimmung der Kindesmutter.
Die Kindesmutter XXXX möchte die minderjährige XXXX frühestens in der dritten oder vierten Klasse Volksschule über ihren biologischen Vater aufklären. Hinsichtlich persönlicher Kontakte des Beschwerdeführers mit der minderjährige XXXX würde sie solchen nur in Abstimmung mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger und in Begleitung zustimmen. Einer Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei steht die Kindermutter gleichgültig gegenüber. Die Kindermutter reist jährlich in die Türkei, sie steht einem persönlichen Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und der minderjährige XXXX in der Türkei nicht ablehnend gegenüber, solange die Kontaktaufnahme in Begleitung erfolgt und damit keine Übernachtung verbunden ist. Unbegleiteten Besuchen steht die Kindesmutter insbesondere deshalb ablehnend gegenüber, weil sie befürchtet, dass sich der Beschwerdeführer diesfalls nicht an die vereinbarten Modalitäten hält und mit der minderjährigen XXXX etwa andere Orte aufsucht, als zuvor vereinbart wurde. Der rechtliche Vater XXXX lehnt demgegenüber Besuchskontakte in der Türkei derzeit ab, da die minderjährige XXXX dort vom Beschwerdeführer entführt werden könnte und die Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung in der Türkei nicht so ausgestaltet sind wie in Österreich. Besuchskontakten in Österreich in Begleitung des Kinder- und Jugendhilfeträgers oder anderen Personen steht der rechtliche Vater XXXX nicht ablehnend gegenüber.
Der Kinder- und Jugendhilfeträger (Land Niederösterreich im Wege der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen, Fachgebiet Sozialarbeit) erachtet die Zusammenarbeit gestaltete sich bisher durchwegs positiv, die Familie kann die Hilfestellung gut annehmen und Empfehlungen meist auch umsetzen. Die Kindesmutter und der rechtlichen Vater XXXX sind mit den drei Kindern in ihrer Erziehungsaufgabe und in der Betreuung sehr gefordert und durch die Erkrankung XXXX an Epilepsie erhöhten Belastungen ausgesetzt. In der Praxis sei für die minderjährige XXXX der Ehemann ihre Mutter der Vater, der sich um sie sorge und für sie da sei. XXXX kenne den Beschwerdeführer nicht, sie habe keinen Kontakt zu ihm und führe auch keine Vater-Kind-Beziehung. Der Kinder- und Jugendhilfeträger befürworte Kontakte des Beschwerdeführers zur minderjährigen XXXX nicht, weder telefonischer noch persönlicher Kontakt ist aus fachlicher Sicht dem Kindeswohl zuträglich. Aus rechtlicher Sicht habe der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Besuchskontakte, da er nicht der rechtliche Vater sei. Für die minderjährige XXXX würde der Kontakt zum Beschwerdeführer eine enorme psychische Belastung darstellen, der sich negativ auf den Verlauf der Epilepsieerkrankung und die Entwicklung auswirken könnte. Selbst wenn der Beschwerdeführer seine Vaterschaft durchsetzen könnte, wäre es notwendig, mögliche Kontakte über viele Monate äußerst behutsam aufzubauen um eine Beziehung zu entwickeln, die derzeit nicht gegeben ist. Aus Sicht des Kinder- und Jugendhilfeträgers sei eine Außerlandesbringung des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung des Kindeswohls jedenfalls vertretbar und hätte keine nachteiligen Auswirkungen auf das Kind.
1.8. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.9. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten Quellen getroffen:
1. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdogan mehrmals erklärt, wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. Marz hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019). Imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP loste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019).
Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für Imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).
Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).
Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015). Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016). Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. (EC 9.11.2016).
2. Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).
Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).
Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).
Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP (Stratfor 15.4.2016). Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen (HDN 4.4.2016). Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5] (HDN 4.4.2016; vgl. ANF News 12.3.2016). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u.a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet (ANF News 12.3.2016).
3. Sicherheitsbehörden
Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, die AKP-Regierung konnte seit Sommer 2011 bei einer Reihe von Entscheidungen das Primat der Politik unterstreichen. Von den "Säuberungen" seit dem Putschversuch im Juli 2016 ist das Militär besonders stark betroffen. Erstmals wurde das Militär unter zivile Aufsicht (des Verteidigungsministeriums) gestellt, seine Autonomie in personellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Fragen aufgehoben. Unmittelbar mit Annahme des Verfassungsreferendums vom April 2017 wurde die Militärgerichtsbarkeit in die zivile Gerichtbarkeit überführt. Auch das traditionelle Selbstverständnis des türkischen Militärs als Hüter der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 03.08.2018).
Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Board of Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine- und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).
Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem Geheimdienst MiT MIT (Millî Istihbarat Teskilâti), erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MiT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MiT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MiT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MiT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017). Auch wurde eine neue Institution namens Nationales Geheimdienstkoordinierungskomitee (MIKK) ins Leben gerufen, das vom Präsidenten geleitet wird. Der Geheimdienst erhält erstmals das Recht, gegen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte nach Belieben zu ermitteln. Laut dem Dekret muss der Präsident künftig Ermittlungen gegen den Geheimdienstchef genehmigen (Focus 25.8.2017; vgl. AM 30.8.2017). Der Geheimdienst kann überdies zu jederzeit seine Mitarbeiter entlassen. Hierzu war bislang eine komplexe Prozedur von Nöten (AM 30.8.2017)
Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).
Ende Juni 2016 wurde ein Gesetz verabschiedet, das kämpfenden Soldaten Immunität gewährt. Gemäß dem vom Verteidigungsministerium vorgelegten Entwurf wird eine von den Sicherheitsdiensten begangene Straftat als "militärisches Verbrechen" angesehen und vor einem Militärgericht verhandelt. Die Ermittlungs- und Gerichtsprozesse gegen Kommandeure und den Generalstab benötigen die Erlaubnis des Premierministers. Darüber hinaus sind Armeekommandanten befugt, Durchsuchungen von Häusern, Arbeitsplätzen oder anderen privaten Räumen zu erlassen (MEE 25.6.2016).
4. Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB 10/2017).
Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost- und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (iHD 6.4.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt die gegen Personen angewendet wurden, die ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (iHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlung ausgesetzt gewesen (iHD 6.4.2018).
Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).
Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften M