TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/22 L526 2218404-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.04.2020
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Entscheidungsdatum

22.04.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §20
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L526 2218404-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.03.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrenshergang

I.1. I.1. Die Beschwerdeführerin (in weiterer Folge auch kurz als "BF" bezeichnet) ist Staatsangehörige der Republik Armenien. Sie reiste mit ihrer Cousine und deren Familie rechtswidrig in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ein und stellte am 10.12.2016 bei der belangten Behörde (in weiterer Folge auch kurz "bB") einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die BF an, den im Spruch ersichtlichen Namen zu führen und Staatsangehörige Armeniens zu sein. Sie sei der armenischen Volksgruppe zugehörig. Ferner brachte sie vor, der Mann ihrer Cousine habe beschlossen, nach Österreich zu kommen. Sie habe vor der Ausreise in XXXX in der Provinz Armavir gewohnt und sei legal mit dem Flugzeug ausgereist.

Zu den Gründen für ihre Ausreise befragt, führte die BF an, dass der Ehemann ihrer Cousine Probleme gehabt habe und "teilweise untergetaucht" und auch nach Russland geflüchtet sei. Vor zwei Jahren sei sie zur Cousine gezogen, um diese nicht allein zu lassen. Sie seien ständig verfolgt und schikaniert worden. Ende Oktober 2016 seien ihr unbekannte Männer in das Haus gekommen und einer hätte draußen gewartet. Ihr sei gedroht und sie sei auch gegen die Wand gestoßen worden. Es sei darum gegangen, dass der Ehemann der Cousine nicht an Demonstrationen teilnehmen soll. Sie hätten sie einfach einschüchtern wollen. Die Familie der Cousine habe dann das Land verlassen müssen und sie sei mitgereist, da sie auch in die Sache involviert gewesen sei.

I.3. Nach Zulassung des Verfahrens wurden folgende Unterlagen vorgelegt:

- Bestätigung der Caritas über die regelmäßige Inanspruchnahme der BF von Psychotherapie

- Kurzbrief einer Klinik für Psychiatrie, in welchem "Generalisierte Angststörung, Anpassungsstörung, längere depressive Reaktion, z.n. HWI (nitritpositiv)" diagnostiziert wurde und Medikamente verschrieben wurden; ferner wurden regelmäßige fachärztliche Kontrollen im niedergelassenen Bereich sowie verschiedenen Untersuchungen beim Hausarzt und eine Gesprächstherapie in der Muttersprache empfohlen

- Krankenversicherungsbeleg der Caritas

- Arztbrief der Abteilung für Innere Medizin eines Landesklinikums vom 9.5.2017, in welchem "Cephalea, V.a. Panikattacke" diagnostiziert wird. Für "Generalisierte Angststörung, Anpassungsstörung mit längerer depress. Reaktion" wurden Medikamente verschrieben. Ein durchgeführtes CCT sei unauffällig

- Ambulanzkarten und Laborbefunde

- Arztbrief der Abteilung für Innere Medizin eines Landesklinikums vom 30.8.2017, in welchem "Generalisierte Angststörung, Anpassungsstörung mit längerer depress. Reaktion" diagnostiziert wurde und dagegen Medikamente verschrieben wurden. Empfohlen wurde eine klinische Kontrolle bei Bedarf in den nächsten Tagen durch den Hausarzt und Psychotherapie im niedergelassenen Bereich; ferner wurde dringend die Vorstellung bei einem niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie bei laufender psychiatrischer Dauermedikation empfohlen. Grobneurologisch sei die Patientin unauffällig, "Pupillen isocor, Gangbild normal, keien sensomot. Ausfälle"

- Kurzbrief einer Ärztin, wonach eine generalisierte Angststörung und eine Anpassungsstörung vorliegen und Medikamente verschrieben werden

I.4. Am 6.11.2017 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, im Beisein einer Dolmetscherin für die armenische Sprache niederschriftlich einvernommen.

Eingangs gab die BF an, sie glaube, bislang im Verfahren der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben, allerdings wisse sie nicht mehr so genau, was sie angegeben habe.

Ferner gab die BF an, dass es ihr psychisch nicht so gut gehe und verwies auf die bereits abgegebenen Unterlagen ihren Gesundheitszustand betreffend.

Vor ihrer Ausreise habe sie in XXXX , Dorf XXXX gewohnt, wo sich ihr Elternhaus befinde. Sie habe mit den Eltern, ihrem Bruder und der Großmutter väterlicherseits dort gewohnt. Eine Schwester sei verheiratet und wohne auch im Dorf. Alle würden noch in Armenien leben. Sie habe mit allen außer mit ihrem Bruder Kontakt. Sie sei armenisch-apostolischen Glaubens und Armenierin. Sie sei zehn Jahre lang in die Grundschule gegangen und habe fünf Jahre in Erewan studiert. Sie habe das Studium der armenischen Literatur abgeschlossen. Sie sei durch ihren Vater unterstützt worden. In den Jahren 2009 und 2010 habe sie als Verkäuferin gearbeitet. Nachdem ihr etwas Böses passiert sei, sei sie arbeitslos geworden. Sie sei vom Direktor der Firma, für die sie gearbeitet habe, vergewaltigt worden. Sie habe keine Arbeit mehr gefunden, da überall dieselbe Bedingung gestellt worden sei, nämlich mit dem Direktor zu schlafen.

Sie habe bereits in Ungarn um Asyl angesucht, aber die Bedingungen seien dort schlecht gewesen.

In Österreich lebten auch ihre Cousine und deren Familie. Sie besuche einen privaten Deutschkurs, sein nicht Mitglied in einem Verein oder einer Organisation und in ihrer Freizeit lerne sie Deutsch, jogge gerne und ginge zum Psychologen. Sie arbeite auch in der Pension mit.

Zum Ausreisegrund befragt gab BF1 zusammengefasst an:

"[...] LA: Was ist Ihnen denn passiert?

VP: Der Direktor der Firma, bei der ich gearbeitet habe, hat mich vergewaltigt. Ich sollte ein Mitarbeitergespräch führen, weil ich in einem anderen Geschäft zu arbeiten beginnen sollte. Das Gespräch wollte er wo anders führen, er hat dann ein Restaurant vorgeschlagen und wir sind mit seinem PKW weggefahren. Wir sind dann zu einem Hotel gefahren, im Hotelzimmer hat er Essen bestellt und dort ist das dann passiert. Ich wollte weglaufen, aber die Tür war zugesperrt. Ich bin dann nicht mehr zur Arbeit gegangen. Ich habe das nicht einmal meinen Eltern erzählt. Ein Jahr später habe ich angefangen mich nach Arbeit umzusehen, aber ich habe keine gefunden. Überall war die Bedingung dieselbe, nämlich mit dem Direktor zu schlafen.

LA: Möchten Sie irgendwelche Papiere/Dokumente/ärztliche Befunde etc. vorlegen? Haben Sie Dokumente bei sich?

VP: Meine Geburtsurkunde habe ich bereits abgegeben. Mein Reisepass ist in Ungarn geblieben.

Anm.: Geburtsurkunde befindet sich im Original im Akt.

LA: Waren oder sind Sie im Heimatland Mitglied einer politischen Organisation oder eines politische Vereins?

VP: Nein.

LA: Welcher Volksgruppe / Religion gehören Sie an?

VP: Ich bin armenisch-apostolischen Glaubens und Armenierin.

LA: Welche Schulbildung /Ausbildung haben Sie?

VP: 10 Jahre lang Grundschule und ich habe 5 Jahre lang in Jerewan studiert, armenische Literatur. Abgeschlossen habe ich auch, aber das Diplom habe ich nicht hier.

LA: Wie würden Sie Ihre wirtschaftliche / finanzielle Situation zuletzt (vor der Flucht) im Heimatland gemessen am landesüblichen Durchschnitt bezeichnen?

VP: Nicht sehr gut. Mein Vater hat mich aber versorgt, beklagen kann ich mich nicht.

LA: Haben Sie bereits woanders um Asyl angesucht? (wenn ja, wann? - wo? Ausgang d. Verfahrens?)

VP: In Ungarn. Aber es waren die Bedingungen dort schlecht.

LA: War Ihre Flucht schlepperunterstützt?

VP: Nein, wir sind mit dem Flugzeug ausgereist, über Kiew.

LA: Wann verließen Sie Ihre Heimat?

VP: Am 31.10.2016.

LA: Haben Sie im Herkunftsland, oder hier Strafrechtsdelikte begangen?

VP: Nein.

LA: Besteht ein offizieller Haftbefehl gegen Sie im Heimatland?

VP: Nein.

LA: Würden Sie nun bitte alle Ihre Gründe für die Asylantragstellung hier in Österreich ausführlich darlegen? Aus welchen Gründen verließen Sie das Heimatland? Was war Ihrer Meinung nach der zuletzt ausschlaggebende Grund für Sie zu flüchten? Warum stellen Sie einen Asylantrag?

VP: 6 Jahre lang habe ich in Angst gelebt. Alleine hätte ich aber nicht ausreisen können. Als ich gehört habe, dass meine Cousine mit der Familie ausreisen will, bin ich mitgereist.

LA: Wann haben Sie gehört, dass die Familie Ihrer Cousine ausreisen will?

VP: Ich weiß es nicht ganz genau, aber es war ca. 2 Wochen vor der Ausreise. Sie hatten es länger geplant, aber konkret haben sie es mir erst dann gesagt, ca. 2 Wochen vorher.

LA: Warum ist die Familie Ihrer Cousine ausgereist?

VP: Ich weiß es nicht, sie haben mit mir nicht über ihre Probleme gesprochen.

LA: Haben Sie von den Problemen Ihrer Cousine irgendetwas persönlich mitbekommen?

VP: Ich war oft, immer wieder dort zu Besuch. Aber selber habe ich nichts von ihren Problemen mitbekommen. Sie haben mir erzählt, dass sie bedroht werden, aber ob das stimmt oder näheres dazu weiß ich nicht.

LA: Hat der Mann Ihrer Cousine im Ausland gelebt?

VP: Ja, in Russland, Jahre vor der Ausreise. Aber warum er damals genau ausgereist ist, weiß ich nicht, das haben sie mir nicht gesagt. Aber er wurde in Russland angeklagt und verurteilt. Er hat eine Frau dort entführt und Lösegeld für sie verlangt. Das ist dann aufgeflogen.

LA: Woher wissen Sie davon?

VP: Die ganze Familie weiß das. Er war ca. 4 Jahre lang dort in Haft, aber in welchem Gefängnis weiß ich nicht. Das war alles schon vor seiner Ehe mit meiner Cousine. Während der Ehe, nachdem er die Haftstrafe abgesessen hatte, war er dann auch noch einmal in Russland, mehrmals eigentlich, immer wieder. Er war dort auch im Krankenhaus. Er hatte Herzprobleme, einen Herzinfarkt, in Armenien war er deshalb auch im Krankenhaus, aber mehr habe ich nicht mitbekommen. Sie waren nicht sehr offen zu mir, sie haben nur gemeint, dass sie in Armenien Probleme hätten. Ob sie auch wegen dem Gesundheitszustand ausgereist sind, weiß ich nicht.

LA: Warum Sie direkt vor Ihrer Ausreise aus Armenien bei Ihre Cousine zu Besuch, haben Sie sich dort länger aufgehalten?

VP: Nein, nur ab und zu unter Tags war ich dort.

LA: Haben Sie dort übernachtet, waren Sie abends dort?

VP: Ich habe dort schon immer wieder ein paar Mal übernachtet, aber nicht speziell in letzter Zeit. Ich war vor der Ausreise zu Hause in meinem Dorf.

LA: Wie haben Sie erfahren, dass Ihre Cousine aus Armenien ausreist?

VP: Das Ganze war schon länger im Gespräch und dann ist eines Tages der Mann meiner Cousine auf Besuch gekommen und hat Bescheid gegeben, dass es nun soweit ist. Ich habe mir auch extra einen neuen Reisepass ausstellen lassen, mein alter Reisepass war abgelaufen. Der Mann meiner Cousine hat dann alles Restliche besorgt, also die Flugtickets, und mein Vater hat mich dann zum Flughafen gebracht.

LA: Haben Sie jemals persönlich, mit eigenen Augen bezeugt, dass Ihre Cousine oder deren Mann und Kinder bedroht werden?

VP: Nein.

LA: Warum haben Sie in der polizeilichen Erstbefragung angeben, dass, als Sie mit den Kindern Ihrer Cousine bei Ihre Cousine zu Hause alleine gewesen wären, fremde Männer ins Haus gekommen und Sie bedroht hätten?

VP: Ich weiß nicht, was genau ich damals angegeben habe, aber das ist sicher nicht passiert.

Anm.: VP wird zur Wahrheits- und Mitwirkungspflicht belehrt.

VP: Ich habe heute die Wahrheit gesagt. Ich hatte mit den Fluchtgründen meiner Cousine nichts zu tun. Wir sind Verwandte, mehr haben wir nicht miteinander zu tun.

LA: Sie haben zuvor angegeben, Sie hätten 6 Jahre lang in Angst gelebt. Was haben Sie damit gemeint?

VP: 3 Jahre lang wurde ich von dem Sohn eines reichen Mann erpresst worden. Er wusste von der Vergewaltigung und hat gedroht es zu verraten. Heiraten wollte er mich deshalb nicht, aber er wollte mich trotzdem besitzen. Er hat mir gedroht, mich einzusperren und mit mir zu tun, was er will, seien Freunde auch. Er hat auch gedroht meinem Bruder davon zu erzählen. Dann hat mich mein Bruder 3 Jahre lang im Haus eingesperrt.

LA: Wann hat Ihr Bruder Sie zu Hause eingesperrt?

VP: Ab dem 15.10.2013 bis zur Ausreise, bis zum letzten Moment.

LA: Wie war es Ihnen dann möglich Ihre Cousine regelmäßig zu besuchen?

VP: Mein Vater hat mich mit dem Auto immer zu verschiedenen Verwandten gebracht. Mein Bruder wusste aber nichts davon.

LA: Warum hat Sie Ihr Bruder eingesperrt?

VP: Der Mann hat meinem Bruder erzählt, dass ich seine Geliebte bin, deshalb. Der Mann wollte sich rächen, weil ich kein Interesse an ihm hatte.

LA: Wer ist dieser Mann?

VP: Ich will seinen Namen nicht nennen. Ich habe Angst.

LA: Können Sie den Namen des Mannes nennen? Es ist für Ihr Verfahren sehr wichtig.

VP: Nein, ich will den Namen nicht nennen.

LA: Wissen Sie sonst etwas über den Mann?

VP: Er war der Sohn eines reichen Mannes.

LA: Womit hat Sie dieser Mann 3 Jahre lang erpresst?

VP: Indem er gesagt hat, dass er alles Mögliche über mich erzählen würde. Und er hat auch erreicht, was er wollte.

LA: Was meinen Sie damit, dass er erreicht hat, was er wollte?

VP: Ich wurde eingesperrt, das meine ich.

LA: Was hat Ihr Vater dazu gesagt, dass Ihr Bruder Sie eingesperrt hat?

VP: Er war dagegen, aber er konnte nicht viel machen. Mein Bruder hat auch 3 Mal versucht mich umzubringen. Es war wegen der Ehre. Der Mann hatte meinem Bruder alles erzählt.

LA: Was hat der Mann Ihrem Bruder denn alles erzählt?

VP: Das weiß ich bis heute nicht, was er ihm erzählt hat, aber ich wurde an dem Tag stark verprügelt. Nicht einmal meine Mutter hat mich erkannt, so stark.

LA: Wie haben Sie den Mann kennengelernt?

VP: Die ganze Republik kennt die Familie. Der Mann hat mich auf der Straße gesehen und ich habe ihm gefallen. Sonst kannte er mich nicht. Nachdem er von meiner Vergewaltigung gehört hatte, hat er mich mit anderen Augen angesehen. Wie er das erfahren hat, weiß ich aber nicht.

LA: Weshalb hat Ihr Vater geglaubt, dass Sie eingesperrt wurden?

VP: Er wusste alles, mein Vater. Also meine Version wusste er. Ich glaube auch, dass er mir geglaubt hat. Ob mein Bruder ihm auch etwas erzählt hat, weiß ich nicht. Er hat vermutlich auch meinem Bruder geglaubt. Meine Eltern haben einige Zeit lang auch gesagt, dass ich sterben müsste.

LA: Sie haben vorhin angegeben Ihr Bruder hätte versucht Sie umzubringen. Was ist passiert?

VP. Er hat 2 oder 3 Mal versucht mich zu würgen.

LA: Warum haben Sie diese Fluchtgründe nicht bei Ihrer polizeilichen Erstbefragung genannt?

VP. Ich hatte Angst.

LA: Sie haben einen Asylantrag eingebracht, um Schutz zu erhalten. Warum haben Sie dann den Grund für diese Schutzsuche nicht genannt sondern ganz im Gegensatz dazu behauptet wegen der Probleme Ihrer Cousine ausgereist zu sein?

VP: Ich war sehr verängstigt und es ist mir auch erst jetzt alles richtig bewusst.

LA: Haben Sie sich betreffend die Vergewaltigung und die Belästigung durch den genannten Mann bzw. Ihren Bruder an die Polizei gewendet?

VP: Nein. Nachgefragt gebe ich an, dass mein Bruder XXXX heißt und 2 Jahre jünger ist als ich, XXXX geboren.

LA: Warum haben Sie sich nicht an die Polizei gewendet?

VP: Ich habe nie jemandem von der Vergewaltigung erzählt, keiner wusste davon, darum.

LA: Hat zum Schluss, vor Ihrer Ausreise, jemand aus Ihrer Familie von der Vergewaltigung gewusst?

VP: Nein, niemand. Nur meine Mutter, sonst weiß bis heute niemand davon.

LA: Hat Ihr Bruder den genannten Mann, der Sie bedroht hat gekannt?

VP: Nein, Freunde sind sie nicht. Aber vom Sehen hat er ihn gekannt. Jeder hat ihn gekannt.

LA: Was hatte Ihr Bruder für einen Grund Sie einzusperren?

VP: Das weiß ich nicht. Vermutlich hat der Mann ihm etwas erzählt, aber ich weiß es nicht.

LA: Woher wissen Sie das?

VP: Ich vermute es, ich weiß es nicht. Es war alles eine Lüge, weil ich dem Mann nicht klein beigegeben habe. Er konnte mich nicht heiraten, weil ich keine Jungfrau mehr war. Das hat er mir gesagt. Er hat mir auch gesagt, dass er mich liebt, immer wieder.

LA: Hatten Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Nein.

LA: Wurden Sie von staatlicher Seite bedroht oder verfolgt?

VP: Nein.

LA: Hatten Sie aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit bzw. Religionszugehörigkeit Probleme in der Heimat?

VP: Nein.

LA: Was wäre passiert, wenn Sie in Armenien geblieben wären und was würden Sie im Falle einer Rückkehr in Ihren Heimatstaat befürchten? Was würde Sie dort erwarten?

VP: Ich würde umgebracht werden, von meinem Bruder oder dem reichen Mann. Ehrenmord ist in Armenien normal, wenn jemand vergewaltigt wird, gerade am Land.

LA: Hätten Sie damals die Möglichkeit gehabt, sich im Heimatland wo anders hinzubegeben, um sich den angegebenen Übergriffen/Problemen/Schwierigkeiten zu entziehen? bzw. haben Sie das schon erwogen / versucht - z.B. in ein anderes Gebiet bzw. bestünde diese Möglichkeit jetzt?

VP: Nein.

[...]"

Abschließend nannte die BF den Namen des Mannes, der sie bedrängt und bedroht habe und ergänzte, dass ihr Bruder ihr einige Male Gift angeboten habe sowie ein Messer, mit dem sie sich die Schlagader aufschneiden sollte.

I.5. Am 5.12.2017 langte eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation über "Angststörungen - Therapie und Medikamentenverfügbarkeit" in Armenien ein. Aus dieser geht hervor, dass die genannten Krankheiten in Armenien therapierbar sind; sowohl stationäre als auch ambulante Betreuung durch Psychiater und Psychologen sei verfügbar, ebenso unterschiedliche Formen der Psychotherapie, wie kognitive Verhaltenstherapie, Kunsttherapie und Emotional Freedom Therapie. Weitere Details seien den beigefügten Berichten aus der "MedCoi-Datenbank" zu entnehmen. Die Wirkstoffe Pregabalin und Dulixetin sowie die gleichnamigen Medikamente seien verfügbar.

I.6. Im Akt findet sich eine Ablichtung eines Dokumentes in armenischer Sprache.

I.7. Die Anträge der BF auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheiden der bB gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die bB das Vorbringen des BF1 in Bezug auf die Existenz einer aktuellen Gefahr einer Verfolgung als nicht glaubhaft und führte hierzu zusammengefasst aus, dass die BF ein widersprüchliches und vages Vorbingen erstattet habe, das auch keineswegs als plausibel zu werten sei.

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Armenien traf die belangte Behörde ausführliche und schlüssige Feststellungen. Aus diesen geht hervor, dass in Armenien von einer unbedenklichen Sicherheitslage auszugehen ist. Ebenso ist in Bezug auf die Lage der Menschenrechte davon auszugehen, dass sich hieraus in Bezug auf die BF ein im Wesentlichen unbedenkliches Bild ergibt. Ebenso ist davon auszugehen, dass in Armenien die Grundversorgung der Bevölkerung gesichert ist, eine soziale Absicherung auf niedrigem Niveau besteht, die medizinische Grundversorgung flächendeckend gewährleistet ist, Rückkehrer mit keinen Repressalien zu rechnen haben und in die Gesellschaft integriert werden.

Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

Des Weiteren sei den BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen. Schließlich wurde ausgeführt, weshalb gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung nach Armenien zulässig sei. Letztlich wurde erläutert, weshalb die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 5.4.2019 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und die BF ferner mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom selben Tag gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass sie verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

I.8. Gegen den genannten Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

In dieser wird nach Zusammenfassung der Verfahrensergebnisse im Wesentlichen ausgeführt, dass die BF Angaben anlässlich der Erstbefragung gemacht habe, da sie dachte, sie und die Cousine mit ihrer Familie würden als Familie betrachtet und sie müsste die gleichen Angaben machen. Am 6.11.2017 habe sie die eigenen Fluchtgründe wahrheitsgemäß angegeben. Ihr psychischer Zustand habe es sehr schwer für sie gemacht, über die Vorkommnisse im Herkunftsland zu sprechen. Im Weiteren stellte die BF die Gründe für ihre Ausreise neuerlich dar. Hingewiesen wurde ferner auf die Rolle der Frauen in Armenien, das patriarchalische Rollenverständnis und die nachlässige Verfolgung von häuslicher Gewalt in Armenien.

I.9. Die Beschwerdevorlage langte am 6.5.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

I.10. Am 15.5.2019 wurde eine Bestätigung der Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH vorgelegt, aus welcher hervorgeht, dass die BF einen Pflichtschulabschlusskurs in einem Bildungszentrum absolviert habe und die BF im Dezember 2019 ein "komplettes Externistenzeugnis" wird vorlegen können. Ferner wurde eine Referenzschrieben der Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH vorgelegt.

I.11. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.10.2019 wurden den BF aktuelle länderkundliche Informationen übermittelt und wurde ihr freigestellt, dazu binnen einer Frist von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

I.12. Ebenfalls mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.10.2019 wurde die BF eingeladen, alle ihr zur Verfügung stehenden Bescheinigungsmittel, welche für das Verfahren relevant sind und ihr Vorbringen bescheinigen können (etwa Belege für ihr Vorbringen in Bezug auf ihre Gründe für die Ausreise aus dem Heimatland, ihren Gesundheitszustand, ihre Integration und privaten Interessen) binnen einer Frist von zwei Wochen vorzulegen.

I.13. Bislang ist keine Stellungnahme im Verfahren mehr ergangen und wurden auch keine weiteren Beweismittel vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

II.1.1. Die beschwerdeführende Parteien

Bei der BF handelt es sich um im Herkunftsstaat der Mehrheits- und Titularethnie angehörige Armenierin, welche aus einem überwiegend von Georgiern bewohnten Gebiet stammt und sich zum Mehrheitsglauben des Christentums bekennt.

Sie möchte offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten. Sie hält sich seit 10. Dezember 2016 im Bundesgebiet auf. Sie reiste rechtswidrige in das Bundesgebiet ein.

Die Identität der BF steht nicht fest.

BF1 ist eine junge, arbeitsfähige Frau mit bestehenden familiären und verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.

BF1 hat Armenische Literatur studiert und im Herkunftsland von der Unterstützung ihres Vaters gelebt. Sie hat auch Berufserfahrung als Verkäuferin gesammelt.

BF1 leidet unter einer Angst- und einer Anpassungsstörung und nimmt Medikamente dagegen. Zuletzt wurden "Pregabalin" und "Duloxetin" verordnet. Ihre Krankheiten sind in Armenien behandelbar und die in Österreich verschriebenen Medikamente sind in Armenien erhältlich. Ferner sind verschiedenen Formen der Psychotherapie in Armenien verfügbar.

II.1.2. Behauptete Ausreisegründe aus dem Herkunftsstaat und Rückkehrbefürchtungen

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF den behaupteten Gefährdungen ausgesetzt war bzw. im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die BF wegen einer behaupteten Vergewaltigung durch einen ehemaligen Vorgesetzten vom Sohn eines reichen Mannes erpresst und bedroht wurde und von ihrem Bruder wegen ihrer verlorenen Jungfräulichkeit eingesperrt und mit dem Tod bedroht wurde oder ihr aus diesem Grund im Fall einer Rückkehr nach Armenien eine solche Gefährdung drohen würde.

Es kann schließlich nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in ihrem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine im Herkunftsstaat drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie im Hinblick auf kriegerische Ereignisse, extremistische Anschläge oder organisierte kriminelle Handlungen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise in ihrem Herkunftsstaat von einer existentiellen Notlage betroffen war oder einer solchen im Falle ihrer Rückkehr ausgesetzt sein würde.

II.1.3. Zur Lage der BF im Bundesgebiet:

Die BF hält sich seit dem bereits genannten Zeitpunkt im Bundesgebiet auf. Sie reiste legal und visumsfrei mit dem Flugzeug aus Armenien aus, wobei jedoch die Einreise in den Schengenraum und weiter in das Bundesgebiet mit dem Vorsatz erfolgte, sich hier niederzulassen. Die BF ist seither Asylwerberin. Sie verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Die BF bezieht seit Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.

Die BF hat einen Pflichtschulabschlusskurs absolviert. Die Absolvierung der für den Schulabschluss notwendigen Prüfungen ist nicht dokumentiert. Die BF kann sich im Alltag in der deutschen Sprache verständigen und einem Kurs in deutscher Sprache folgen.

In ihrer Freizeit lernt die BF die Deutsche Sprache, besucht ihren Therapeuten und joggt gerne. Sie hilft auch in ihrer Flüchtlingsunterkunft. Weitere gemeinnützige Tätigkeiten sind nicht dokumentiert. Die BF engagierte sich auch nicht in einem Verein oder einer Organisation.

Die BF konnte ein Empfehlungsschreiben der Diakonie vorlegen.

Einstellungszusagen liegen nicht vor.

Die BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die BF lebt mit keiner ihr nahestehenden Person in Österreich zusammen. Eine Cousine und deren Familie leben in Österreich. Merkmale einer ein- oder wechselseitigen Abhängigkeit sind nicht feststellbar.

Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war und ist nicht nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1.4.1. Zur Situation in Bezug auf die aktuell vorherrschende Pandemie durch den Corona-Virus werden folgende Feststellungen getroffen:

Am 21.4.2020 waren in Armenien 1.339 Corona-Fälle bekannt, wovon 580 Personen wieder genesen sind und 22 Personen verstarben. Aufgrund der durch den Virus bedingten Atemwegserkrankung COVID-19 wurde am 16. März 2020 der Ausnahmezustand in Armenien verhängt. Dieser wurde bis 14.5.2020 verlängert. Eine Einreise für Fremde ist momentan nicht möglich. Ausgenommen von der Einreisesperre sind armenische Staatsangehörige sowie Angehörige von diplomatischen Vertretungen, konsularischen Einrichtungen und internationalen Organisationen. Der Aktionsplan der Regierung umfasst neben den Einreisebeschränkungen beispielsweise auch eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder die Verhängung von Quarantäne für bestimmte Personen.

Quellen:

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/armenien-node/armeniensicherheit/201872; https://am.usembassy.gov/u-s-citizen-services/covid-19-information/

https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-armenien.html

1.4.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat werden weiteres folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km² und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).

Armenien ist seit September 1991 eine unabhängige Republik. Die Verfassung von 2005 wurde zuletzt durch Referendum vom 6.12.2015 weitreichend geändert. Durch die Verfassungsreform wurde das semi-präsidentielle in ein parlamentarisches System umgewandelt. Das Ein-Kammer-Parlament (Nationalversammlung) hat nun 105 Mitglieder (zuvor 131) und wird alle fünf Jahre gewählt (AA 7.5.2019a).

Oppositionsführer Nikol Pashinyan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmäßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018).

Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grundfreiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wähler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Pashinyan unter dem Namen "Mein Schritt" erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regierende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei "Blühendes Armenien" (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei "Leuchtendes Armenien" unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Pashinyan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).

Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Pashinyan gehören die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (7.5.2019a): Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/armenien-node/-/203090#content_0, Zugriff 7.5.2019

* ARMENPRESS - Armenian News Agency (10.12.2018): My Step - 70.44%, Prosperous Armenia - 8.27%, Bright Armenia - 6.37%: CEC approves protocol of preliminary results of snap elections, https://armenpress.am/eng/news/957626.html, Zugriff 21.3.2019

* ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (7.5.2019): Economic and Financial Data for the Republic of Armenia, https://armstat.am/nsdp/, Zugriff 8.5.2019

* BBC News (20.12.2018):Armenia country profile, https://www.bbc.com/news/world-europe-17398605, Zugriff 21.3.2019

* CIA - Central Intelligence Agency (30.4.2.2019): The World Factbook, Armenia; https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/am.html, Zugriff 7.5.2019

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Office for Democratic Institutions and Human Rights et alia (10.12.2018): Armenia, Parliamentary Elections, 2 April 2017: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/armenia/405890?download=true, Zugriff 21.3.2019

* RFE/RL - Radio Free Europe/ Radio Liberty (10.12.2018): Monitors Hail Armenian Vote, Call For Further Electoral Reforms, https://www.rferl.org/a/monitors-hail-armenia-s-snap-polls-call-for-further-electoral-reforms/29647816.html, 21.3.2019

* RFE/RL - Radio Free Europe/ Radio Liberty (14.1.2019): Pashinian Reappointed Armenian PM After Securing Parliament Majority, https://www.rferl.org/a/pashinian-reappointed-armenian-pm-after-securing-parliament-majority/29708811.html, Zugriff 21.3.2019

* 168hours (20.7.2018): Fight against corruption and creation of independent judiciary main pillars of government's economic policy - PM Pashinyan, https://en.168.am/2018/07/20/26637.html, Zugriff 21.3.2019

Sicherheitslage

Hinsichtlich Bergkarabach - das sowohl von Armenien als auch von Aserbaidschan beansprucht wird - besteht die Gefahr erneuter Feindseligkeiten aufgrund des Scheiterns der Vermittlungsbemühungen, der zunehmenden Militarisierung und häufiger Verletzungen des Waffenstillstands. Im Oktober 2017 trafen sich die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans unter der Schirmherrschaft der Minsk-Gruppe, einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geleiteten Vermittlungsgruppe, in Genf und begannen eine Reihe von Gesprächen über eine mögliche Lösung des Konflikts. In den letzten Jahren haben Artilleriebeschüsse und kleinere Gefechte zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen Hunderte von Toten gefordert. Anfang April 2016 gab es die heftigsten Kämpfe seit 1994. (CFR 20.3.2019). Die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach dauern an. Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist geschlossen. Im Jahr 2018 fanden mehrere Waffenstillstandsverletzungen entlang der Kontaktlinie zwischen den gegnerischen Streitkräften und anderswo an der zwischenstaatlichen Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien statt, die zu einer Reihe von Todesfällen und Verlusten führten (gov.uk 21.3.2019, vgl. EDA 7.5.2019).

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der armenische Premierminister Nikol Pashinyan vereinbarten bei ihrem ersten Treffen am Rande des Gipfels der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der am 27. und 28. September 2018 in Duschanbe stattfand, mehrere Schritte zum Abbau der Spannungen zwischen den armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften, wie z.B. die Installierung einer direkten "operativen" Kommunikationslinie zwischen den beiden Seiten und die Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts (Eurasianet 1.10.2018).

Quellen:

* CFR - Council on Foreign Relations (20.3.2018): Nagorno-Karabakh Conflict, https://www.cfr.org/interactives/global-conflict-tracker#!/conflict/nagorno-karabakh-conflict, Zugriff 21.3.2019

* EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (7.5.2019): Reisehinweise für Armenien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/armenien/reisehinweise-armenien.html, Zugriff 7.5.2019

* Eurasianet (1.10.2018): Aliyev and Pashinyan hold first talks, agree on tension-reducing measures, https://eurasianet.org/aliyev-and-pashinyan-hold-first-talks-agree-on-tension-reducing-measures, Zugriff 21.3.2019

* UK Gov (7.5.2019): Foreign travel advice, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/armenia, Zugriff 7.5.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt immer wieder glaubhafte Berichte von Anwälten über die Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze durch Gerichte. Die Unschuldsvermutung werde nicht eingehalten, rechtliches Gehör nicht gewährt, Verweigerungsrechte von Zeugen nicht beachtet und Verteidiger oft ohne Rechtsgrundlage abgelehnt. Nach bisher vorliegenden Informationen hat sich die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis seit Mitte 2018 verbessert. Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter wurde bisher durch Nepotismus, finanzielle Abhängigkeiten und weit verbreitete Korruption konterkariert. Es gibt Anzeichen, dass allein der Regierungswechsel im Mai 2019 zu weniger Korruption in der Justiz geführt hat. Hinsichtlich des Zugangs zur Justiz gab es bereits Fortschritte, dass die Zahl der Pflichtverteidiger erhöht wurde und einer breiteren Bevölkerung als bisher kostenlose Rechtshilfe zuteil wird (AA 7.4.2019). Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 13.3.2019).

Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.2.2019). Allerdings entließen viele Richter nach der "Samtenen Revolution" im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 13.3.2019).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort, und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. Anwälte berichteten, dass das Kassationsgericht in der Vergangenheit das Ergebnis aller wichtigen Rechtssachen an niedere Richter diktiert habe. Im Februar wurde mit der Umsetzung der Verfassungsänderungen 2015 der Oberste Justizrat (HJC) gebildet. Viele Beobachter gaben dem HJC die Schuld für Machtmissbrauch und die Ernennung von Richtern, die mit der früheren Regierungspartei verbunden waren. Anwälte erklärten auch, dass die Kontrolle der HJC über die Ernennung, Beförderung und Verlegung von Richtern die Unabhängigkeit der Justiz geschwächt habe. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperlichen Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren (USDOS 13.3.2019).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz hat dieses Recht nicht durchgesetzt. Zwar sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der "Moral", der nationalen Sicherheit und des "Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer". Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 13.3.2019).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien

* FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Armenia, https://www.ecoi.net/en/document/2002606.html, Zugriff 11.4.2019

* USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004271.html, Zugriff 11.4.2019

Sicherheitsbehörden

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 13.3.2019, vgl. AA 7.4.2019). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 7.4.2019).

Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt solche Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 13.3.2019). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premierminister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 13.3.2019).

Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Richter verweigern der Polizei ebenso selten einen Haftbefehl, wie sie kaum das Verhalten der Polizei während der Arrestzeit überprüfen. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu verhaften, werden diese vorgeladen und unter dem Vorwand festhalten, eher wichtige Zeugen denn Verdächtige zu sein. Hierdurch ist die Polizei in der Lage, Personen zu befragen, ohne das das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wird (USDOS 13.3.2019).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien

* SIS - Special Investigation Service of Republic of Armenia (o.D.): Functions Of Special Investigation Service, http://www.ccc.am/en/1428578692, Zugriff 10.4.2019

* USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004271.html, Zugriff 10.4.2019

Folter und unmenschliche Behandlung

Das Gesetz verbietet solche Folter und andere formen von Misshandlungen. Dennoch gab es Berichte, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte Personen in ihrer Haft gefoltert oder anderweitig missbraucht haben. Laut Menschenrechtsanwälten definiert und kriminalisiert das Strafgesetzbuch zwar Folter, aber die einschlägigen Bestimmungen kriminalisieren keine unmenschliche und erniedrigende Behandlungen (USDOS 13.3.2019). Menschenrechtsorganisationen haben bis zur "Samtenen Revolution" immer wieder glaubwürdig von Fällen berichtet, in denen es bei Verhaftungen oder Verhören zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung gekommen sein soll. Folteropfer können den Rechtsweg nutzen, einschließlich der Möglichkeit, sich an den Verfassungsgerichtshof bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden (AA 7.4.2019).

Misshandlungen finden auf Polizeistationen statt, die im Gegensatz zu Gefängnissen und Polizeigefängnissen nicht der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Nach Ansicht von Menschenrechtsanwälten gab es keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien gegen Misshandlungen bei polizeilichen Vernehmungen, wie z.B. den Zugang zu einem Anwalt durch die zur Polizei als Zeugen geladenen Personen sowie die Unzulässigkeit von Beweisen, die durch Gewalt- oder Verfahrensverletzungen gewonnen wurden (USDOS 13.3.2019). In einem Antwortschreiben an die Helsinki Komitee Armeniens bezifferte der Special Investigation Service (SIS) die Anzahl der strafrechtlichen Untersuchungen bezüglich des Vorwurfes von Folter im Zeitraum zwischen dem 1.1. und dem 20.12.2018 auf 49 (HCA 1.2019).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien

* HCA - Helsinki Committee of Armenia (1.2019): Human Rights in Armenia 2018 Report, Ditord Observer #1 (73), http://armhels.com/wp-content/uploads/2019/03/Ditord-2019Engl_Ditord-2019arm-1.pdf, Zugriff 10.4.2019

* USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004271.html, Zugriff 10.4.2019

Korruption

Armenien verfügt nicht über wirksame Schutzmaßnahmen gegen Korruption. Dem bis 2018 an der Macht befindlichen Parlament gehörten einige der wohlhabendsten Wirtschaftsführer des Landes an, die trotz Interessenkonflikten ihre privatwirtschaftlichen Aktivitäten fortsetzten. Auch die Beziehungen zwischen Politikern und anderen Oligarchen haben die Politik historisch beeinflusst und zu einer selektiven Anwendung des Gesetzes beigetragen. Die Berichte über systemische Korruption, auch in allen drei Staatsgewalten, gingen jedoch weiter. Nach der "Samtenen Revolution" im Mai 2018 leitete die neue Regierung Untersuchungen zur Bekämpfung der Korruption ein, die systemische Korruption in den meisten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens aufdeckte. Das SIS leitete zahlreiche Strafverfahren gegen mutmaßliche Korruption durch ehemalige Regierungsbeamte und deren Angehörige sowie Parlamentarier ein, deren Fälle von einigen tausend bis zu Millionen von US-Dollar reichten (USDOS 13.3.2019, vgl. FH 4.2.2019).

Ministerpräsident Pashinyan, für dessen Regierung die Korruptionsbekämpfung ein hochrangiges Ziel darstellt, berichtete im Juli 2018, dass innerhalb zweier Monate bereits 20,6 Milliarden Armenische Dram (36,8 Millionen Euro) an Geldern aus Steuerhinterziehungen sichergestellt wurden. Betroffen waren 73 Unternehmen, denen Steuerhinterziehung vorgeworfen wird. Die Summe bezog sich ausschließlich auf die Steuerschuld (Haypress 13.7.2018, vgl. JAMnews 24.7.2018). Während die meisten Beobachter der Meinung sind, dass es reichlich Beweise für Fehlverhalten gibt, warnten einige, dass es eine schmale Linie zwischen soliden Rechtsfällen und politisch motivierten gibt. Die mit der ehemaligen, langjährigen Regierungspartei verbündeten Eliten zeigten erheblichen Widerstand gegen diese Ermittlungen und schienen den Antikorruptionskurs der neuen Regierung zu erschweren (FH 4.2.2019).

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex 2017 belegte Armenien den Rang 105 von 180 Ländern (2017: 107 von 180 Staaten) und erhielt wie 2017 einen Wert von 35 auf einer Skala von 100 [100 ist der beste, 0 der schlechteste Wert] bezüglich der Korruption im öffentlichen Sektor (TI 2018).

Quellen:

* FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Armenia, https://www.ecoi.net/en/document/2002606.html, Zugriff 10.4.2019

* Haypress (13.7.2018): Armenien: Paschinjans Regierung holt 42 Mio. Dollar an Steuerhinterziehung zurück, https://haypressnews.wordpress.com/2018/07/13/armenien-paschinjans-regierung-holt-42-mio-dollar-an-steuerhinterziehung-zurueck/, Zugriff 29.3.2019

* JAMnews (24.7.2018): Armenia's fight against corruption: a JAMnews series on the first steps of the new Armenia, https://jam-news.net/armenias-fight-against-corruption-a-jamnews-series-on-the-first-steps-of-new-armenia/, Zugriff 9.11.2018

* TI - Transparency International (2018): Corruption Perceptions Index 2018, https://www.transparency.org/country/ARM, Zugriff 29.3.2019

* USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004271.html, Zugriff 29.3.2019

NGOs und Menschrechtsaktvisten

Die Zivilgesellschaft ist in Armenien aktiv und weitgehend in der Lage, frei zu agieren. Das Gesetz über öffentliche Unternehmen und das Stiftungsrecht wurden kürzlich mit einer Reihe positiver Änderungen verabschiedet, darunter die Möglichkeit, direkt einkommensschaffende oder unternehmerische Aktivitäten durchzuführen; weiters die Möglichkeit von Freiwilligenarbeit sowie die Möglichkeit für Umweltorganisationen, die Interessen ihrer Mitglieder in Umweltfragen vor Gerichten zu vertreten. Es gibt jedoch noch eine Reihe von Herausforderungen. Zum Beispiel die gesetzlichen Bestimmungen in Bezug auf Steuerverpflichtungen im Zusammenhang mit der Erzielung von Einnahmen, das Fehlen klarer Regeln für den Zugang zu öffentlichen Mitteln sowie klarer Regelung für die Verwendung privater Daten. Einschränkungen gibt es für zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit sensiblen Themen wie den Rechten von Minderheiten und einigen Gender-spezifischen Fragen arbeiten (OHCHR 16.11.2018). Nichtregierungsorganisationen (NGOs) fehlen lokale Mittel und sind weitgehend auf ausländische Geber angewiesen (FH 4.2.2019).

Die Zivilgesellschaft war sehr aktiv bei den Protesten 2018, den anschließenden Konsultationen mit der Regierung in politischen Fragen und bei der Überwachung der Aktivitäten im Zusammenhang mit den Wahlen im Dezember 2018 (FH 4.2.2019).

Quellen:

* FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Armenia, https://www.ecoi.net/en/document/2002606.html, Zugriff 29.3.2019

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (16.11.2018): Statement by the United Nations Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association, Clément Nyaletsossi VOULE, at the conclusion of his visit to the Republic of Armenia, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23882&LangID=E, Zugriff 29.3.2019

Ombudsperson

Die vom Parlament gewählte und als unabhängige Institution in der Verfassung verankerte "Ombudsperson für Menschenrechte" muss einen schwierigen Spagat zwischen Exekutive und den Rechtsschutz suchenden Bürgern vollziehen (AA 7.4.2019).

Mit den im März 2017 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen wurde der Zuständigkeitsbereich des Büros der Bürgerbeauftragten erweitert. Es kann Gesetzesvorschläge einbringen, Rechtsvorschriften aus Menschenrechtssicht überprüfen, förmliche Gutachten durchführen und Empfehlungen zu Rechts- und Rechtsvollzugsmängeln abgeben. Experten zufolge reichten jedoch der Grad der Ermächtigung und die Ressourcen des Büros der Ombudsperson nicht aus, um das neue Mandat des Büros umzusetzen (USDOS 20.4.2018).

Die Zivilgesellschaft hat die Arbeit des Büros der Ombudsperson während der Proteste von April bis Mai 2018 allgemein als gut erachtet. Nach Angaben der Website des Menschenrechtsverteidigers arbeitete das Büro bei Protesten 24 Stunden am Tag, um den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten. In der ersten Jahreshälfte 2018 meldete das Büro eine beispiellose Zahl von Bürgerbeschwerden und -besuchen, die es auf ein gestiegenes Vertrauen in die Institution und neue Erwartungen der Öffentlichkeit zurückführte (USDOS 13.3.2019).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430195.html, Zugriff 28.3.2019

* USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004271.html, Zugriff 28.3.2019

Meinungs- und Pressefreiheit

Die Verfassung schützt die Freiheit der Meinung, Information, Medien und anderer Informationsmittel (AA 7.4.2019, vgl. USDOS 20.4.2018). Journalisten zeichneten neun Monate nach dem politischen Machtwechsel ein gemischtes Bild. Während die Regierung nicht mehr versucht, die Berichterstattung direkt zu orchestrieren, erweisen sich die neuen Behörden als dünnhäutig gegenüber Kritik. Premierminister Pashinyan selbst hat wiederholt öffentliche Angriffe auf Journalisten gestartet, von denen viele in den Medien sagen, dass sie ein Klima der Einschüchterung gegen kritische Berichterstattung geschaffen haben (Eurasianet 6.2.2019, vgl. USDOS 13.3.2019).

Im Jahr 2018 wurden 13 neue Klagen gegen Reporter und Medienvertreter eingereicht. Alle zitierten Artikel 1087.1 des RoA Zivilgesetzbuches ("Beleidigung und Verleumdung"). Im Jahr 2018 verkündeten die Gerichte neun Urteile gegen Medien und Reporter und zehn Urteile zu deren Gunsten (HCA 1.2019).

Dem Rundfunk und auflagenstarken Printmedien fehlt es in der Regel an politischer Meinungsvielfalt und objektiver Berichterstattung. Privatpersonen oder private Gruppen besitzen die meisten Rundfunkmedien und Zeitungen, was in der Regel die politische Ausrichtung und die finanziellen Interessen ihrer Eigentümer widerspiegelt. Nach Ansicht einiger Medienkritiker präsentierte das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch nach der "Samtrevolution" weiterhin Nachrichten aus einer regierungsfreundlichen Perspektive (USDOS 13.3.2019). Im Parlamentswahlkampf im Herbst 2018 gab es keine größeren Einschränkungen der Pressefreiheit, obwohl politisch ausgerichtete Medien weiterhin die mit ihnen verbundenen Parteien und Kandidaten bevorzugten (FH 4.2.2019).

Eine Reihe von Reportern wurde während der Protestphase von der Polizei physisch angegriffen (USDOS 13.3.2019, vgl. FH 4.2.2019). Im Jahr 2018 wurden insgesamt 21 Vorfälle von körperlicher Gewalt gegen Reporter und Kameramänner registriert, 67 Vorfälle von Druck auf Medien und deren Mitarbeiter und 98 Vorfälle von Verletzungen des Rechts auf Erhalt und Verbreitung von Informationen (HCA 1.2019). Insgesamt wurden elf Strafverfahren im Zusammenhang mit den Vorfällen eingeleitet; in fünf der Fälle wurden Anklagen erhoben, drei Fälle landeten schließlich vor Gericht (USDOS 13.3.2019).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien

* Eurasianet (6.2.2019): In the new Armenia, media freedom is a mixed bag, https://eurasianet.org/in-the-new-armenia-media-freedom-is-a-mixed-bag, Zugriff 11.4.2019

* FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Armenia, https://www.ecoi.net/en/document/2002606.html, Zugriff 28.3.2019

* HCA - Helsinki Committee of Armenia (1.2019): Human Rights in Armenia 2018 Report, Ditord Observer #1 (73), http://armhels.com/wp-content/uploads/2019/03/Ditord-2019Engl_Ditord-2019arm-1.pdf, Zugriff 28.3.2019

* USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Armenia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004271.html, Zugriff 28.3.2019

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Versammlungsfreiheit

Die Verfassung und das Gesetz sehen die Freiheit der friedlichen Versammlung vor und nach der "Samtenen Revolution" im Frühjahr 2018 respektierte die neue Regierung diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 13.3.2019). Das Versammlungsgesetz entspricht EU- und anderen internationalen Standards. Die Versammlungsfreiheit wird durch die Polizei respektiert. Die Versammlungsfreiheit wird unter der Regierung Pashinyan nicht mehr durch Anwendung des Gesetzes über administrative Haft und des Versammlungsgesetzes eingeschränkt (AA 7.4.2019). Der Schutz und die Zugänglichkeit des Rechts auf Versammlungsfreiheit haben sich durch die politischen Veränderungen der im April 2018 abgehaltenen Versammlungen erheblich verbessert (HCA 1.2019).

Versammlungen können ohne vorherige Genehmigung, aber nach Benachrichtigung der Behörden abgehalten werden. In einigen Fällen die Benachrichtigung nicht erforderlich ist, wenn spontane und dringende Versammlungen abgehalten werden, oder wenn die Teilnehmerzahlen 100 Persone

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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