TE Vwgh Erkenntnis 2020/8/27 Ra 2020/21/0172

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Veröffentlicht am 27.08.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/04 Grenzverkehr

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
BFA-VG 2014 §18 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs1
FrPolG 2005 §52 Abs1 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs6
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
SDÜ 1990 Art25 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A O A in G, vertreten durch Mag. Johannes Fraißler, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Marburgerkai 47/HP, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. April 2020, I406 2229311-1/9E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, verfügt seit Februar 2009 über einen polnischen Aufenthaltstitel, zuletzt mit einer Gültigkeit bis 5. September 2027. Er hat in Polen seinen Lebensmittelpunkt, hält sich aber seit dem Jahr 2014 immer wieder in Österreich auf. Hier wurde der Revisionswerber bereits viermal strafgerichtlich verurteilt. Zuletzt wurde über ihn am 5. November 2019 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften - es handelt sich insoweit um die dritte einschlägige Verurteilung - eine unbedingte Freiheitsstrafe von acht Monaten rechtskräftig verhängt, wobei unter einem die bedingte Nachsicht in Bezug auf die bei einer früheren Verurteilung im Jahr 2014 verhängte achtmonatige Freiheitsstrafe widerrufen wurde. Deshalb befindet sich der Revisionswerber seit 11. Oktober 2019 in Haft.

2        Im Hinblick auf die vom Revisionswerber verübten Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 4. Februar 2020 gegen ihn - verbunden mit dem amtswegigen Ausspruch über die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 - gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG und gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG ein mit vier Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria zulässig sei, und erkannte gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab.

3        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 7. April 2020 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

5        Die Revision, in der zutreffend die Verletzung der Verhandlungspflicht durch das BVwG geltend gemacht wird, erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.

6        Das BVwG begründete die Unterlassung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung damit, dass der maßgebliche Sachverhalt vom BFA „abschließend“ ermittelt worden und im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG aufgrund der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt gewesen sei. In diesem Sinn meinte das BVwG auch im Rahmen der Beweiswürdigung, der Beschwerde seien keine neue Sachverhaltselemente zu entnehmen, die geeignet wären, die vom BFA getroffene Entscheidung in Frage zu stellen.

7        Das trifft nicht zu. Der Revisionswerber, dem im Verfahren vor dem BFA das (von ihm nicht wahrgenommene) Parteiengehör nur schriftlich ermöglicht worden war, brachte in der Beschwerde nämlich erstmals vor, mit einer polnischen Staatsangehörigen verheiratet zu sein und mit ihr zwei gemeinsame Kinder im Alter von neun und elf Jahren zu haben. Der Ehefrau, die in Polen berufstätig sei, und den Kindern wäre es aus finanziellen Gründen und wegen der prekären Sicherheitslage in Nigeria nicht möglich, ihn dort zu besuchen. Das Einreiseverbot habe somit auch (negative) Auswirkungen auf das Kindeswohl und es verletze den Revisionswerber in seinem Recht auf Familienleben. Da das Einreiseverbot für den gesamten „Schengenbereich“ gelte, müssten diese Interessen berücksichtigt werden.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in seinem grundlegenden Erkenntnis VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, VwSlg. 18.295 A, in Punkt 3. der Entscheidungsgründe darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem durch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot bewirkten Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden dürfe, sondern dass auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten „in den Blick“ zu nehmen sei. Das folgere unzweifelhaft daraus, dass diese aufenthaltsbeendenden Maßnahmen grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bezogen sein sollen. Familiären Bindungen in einem anderen Mitgliedstaat ist daher dadurch Rechnung zu tragen, dass die bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes zu beantwortende Frage nach einem - zulässigen - Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden darf, sondern dass auch die Situation in dem anderen „Schengen-Staat“ zu berücksichtigen ist (siehe VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0236, Rn. 7, mit dem Hinweis auch auf VwGH 3.7.2018, Ro 2018/21/0007, Rn. 10, mwN).

9        Dem hat das BVwG nicht Rechnung getragen. Es gab zwar unter Bezugnahme auf den Beschluss VwGH 28.5.2015, Ra 2014/22/0037, einen entsprechenden Rechtssatz wieder, vertrat aber unter Bezugnahme auf Art. 25 Abs. 2 SDÜ letztlich die Auffassung, die polnischen Behörden hätten bei der Frage der Entziehung des dem Revisionswerber erteilten Aufenthaltstitels über die Fortsetzung des Familienlebens in Polen zu entscheiden. Das trifft zwar zu (siehe zu den sich aus Art. 25 SDÜ ergebenden Implikationen EuGH 16.1.2018, E, C-240/17, worauf bereits in VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0236, Rn. 7, verwiesen wurde), doch ändert das nichts daran, dass schon bei der Erlassung von Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot wegen ihrer grundsätzlich „schengenweiten“ Geltung darauf Bedacht zu nehmen ist, ob damit in maßgebliche private und familiäre Interessen, die sonst im „Schengenraum“ bestehen, eingegriffen wird.

10       Das BVwG hätte daher dem Vorbringen in der Beschwerde, es komme durch die gegen den Revisionswerber verhängten Maßnahmen zu einer dauernden und damit unverhältnismäßigen Trennung von seinen Familienangehörigen für einen Zeitraum von vier Jahren, entscheidungswesentliche Bedeutung zuerkennen und insoweit nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen. Vielmehr wäre diese Frage im Rahmen der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung zu erörtern und näher zu prüfen gewesen.

11       Gemäß § 52 Abs. 6 FPG kann gegen einen nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der im Besitz eines Aufenthaltstitels eines anderen Mitgliedstaates ist, nur dann eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG erlassen werden, wenn er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommt oder seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist.

12       Die Erlassung einer auf den unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gegründeten Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG (und damit auch eines Einreiseverbotes) hätte nach der genannten, im vorliegenden Fall anzuwendenden Bestimmung in seiner ersten Alternative somit vorausgesetzt, dass der Revisionswerber (erfolglos) aufgefordert worden wäre, sich - nach seiner Entlassung aus der Strafhaft - unverzüglich nach Polen zu begeben. Dass der Revisionswerber eine derartige Aufforderung abgelehnt hätte, ist nach der Aktenlage - in der Beschwerde hatte er ein ausdrücklich gegenteiliges Vorbringen erstattet - nicht ersichtlich und davon sind offenbar auch weder BFA noch BVwG ausgegangen.

13       Nach der somit maßgeblichen zweiten Alternative des § 52 Abs. 6 FPG hätte gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung nach dessen Abs. 1 (und darauf aufbauend ein Einreiseverbot) nur erlassen werden können, wenn seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet (gemeint: in den Herkunftsstaat Nigeria) aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich gewesen wäre. Diesbezüglich begnügte sich das BVwG mit der Begründung, das BFA habe die Rückkehrentscheidung „angesichts der vom Revisionswerber ausgehenden, sich in zahlreichen Verurteilungen nach dem SMG manifestierten Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ zu Recht auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG gestützt. Auch bei der Beurteilung der (inhaltsgleichen) Voraussetzung für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG beschränkte sich das BVwG darauf, diese Voraussetzungen als erfüllt anzusehen und dazu nur auf die Ausführungen zur Verhängung des Einreiseverbotes zu verweisen.

14       Zunächst berücksichtigte das BVwG dabei nicht die zu dieser Bestimmung ergangene Judikatur, wonach es für die Begründung dieser Annahme nicht genüge, auf eine - die Aufenthaltsbeendigung als solche rechtfertigende - Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Fremden zu verweisen, sondern darüber hinaus darzutun sei, warum die Aufenthaltsbeendigung sofort - ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens - zu erfolgen habe. Dazu sei es nicht ausreichend, jene Überlegungen ins Treffen zu führen, die schon bei der Entscheidung über die Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme selbst maßgeblich gewesen seien (vgl. zuletzt VwGH 28.5.2020, Ra 2020/21/0128, Rn. 18, mwN; siehe in diesem Sinn auch zu § 52 Abs. 6 FPG den Beschluss VwGH 3.7.2018, Ro 2018/21/0007, Rn. 11). Dazu kommt, dass das BVwG (wie auch schon das BFA) offenbar nicht darauf abgestellt hat, dass es in diesem Zusammenhang auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne des Art. 7 Abs. 4 bzw. Art. 6 Abs. 2 Rückführungs-RL (Richtlinie 2008/115/EG) ankommt, also darauf, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. dazu EuGH 11.6.2015, Zh. und O., C-554/13, Rn. 50 ff, insbesondere auch Rn. 60, und darauf Bezug nehmend EuGH 16.1.2018, E, C-240/17, Rn. 48 ff). Zur inhaltsgleichen Gefährdungsprognose nach § 67 Abs. 1 FPG judiziert der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dabei sei das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die (jeweils) anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei sei nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 28.5.2020, Ra 2019/21/0325, Rn. 12, mwN).

15       Diesen Anforderungen hat das BVwG - im Übrigen auch für die bei der Erlassung des Einreiseverbotes erforderlichen Gefährdungsprognose - nicht ausreichend entsprochen, indem es außer der Wiedergabe des Inhalts der Strafregisterauskunft nur noch eine allgemeine Umschreibung der den Verurteilungen zugrunde liegenden Delikte und die Anführung der vom Strafgericht jeweils angenommenen Milderungs- und Erschwerungsgründe vornahm. Die vor allem maßgebliche Beschreibung der jeweiligen Tathandlungen ist dem angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen, sodass das Gewicht der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährdung - mag er auch in Bezug auf das Delikt nach § 27 SMG einschlägig rückfällig geworden sein - letztlich nicht beurteilbar ist. Insbesondere ist auf Basis dieser fallbezogen ungenügenden Feststellungen aber auch nicht nachvollziehbar, ob es den gravierenden Eingriff in sein in Polen geführtes Familienleben für die ausgesprochene Dauer von vier Jahren rechtfertigen könne.

16       Das angefochtene Erkenntnis ist daher vorrangig gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

17       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. August 2020

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210172.L00

Im RIS seit

12.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

12.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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