TE Vwgh Erkenntnis 2020/8/6 Ra 2020/01/0142

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Veröffentlicht am 06.08.2020
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Index

E3R E19104000
001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §5 Abs1
BFA-VG 2014 §21 Abs3
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwRallg
32013R0604 Dublin-III

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 2020, Zl. W144 2229656-1/3E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: R A), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein nach seinen Angaben algerischer Staatsangehöriger, stellte am 31. Oktober 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Mitbeteiligte habe in Tschechien um Asyl angesucht, sein Asylstatus sei jedoch abgelehnt worden. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) leitete aufgrund einer Eurodac-Treffermeldung betreffend Asylantragstellung in Tschechien ein Konsultationsverfahren mit Tschechien ein. 

2        Einem auf Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO gestützten Aufnahmeersuchen des BFA vom 15. November 2019 stimmte Tschechien unter Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO mit Schreiben vom 28. November 2019 ausdrücklich zu.

3        Mit Bescheid des BFA vom 28. Februar 2020, dem Mitbeteiligten am 2. März 2020 zugestellt, wurde der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 - ohne in die Sache einzutreten - als unzulässig zurückgewiesen, die Zuständigkeit Tschechiens gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-VO festgestellt, die Außerlandesbringung des Mitbeteiligten angeordnet und die Zulässigkeit der Abschiebung nach Tschechien festgestellt.

4        Am 12. März 2020 teilte das BFA den tschechischen Behörden mit, dass die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO aufgrund des Untertauchens des Mitbeteiligten achtzehn Monate betrage.

5        Mit dem angefochtenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 19. März 2020 wurde der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde (ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung) stattgegeben und das Verfahren zurückverwiesen. Zudem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Begründend führte das BVwG aus, das BFA habe keine Feststellungen zur gegenwärtigen durch die Covid-19-Pandemie verursachten Situation getroffen beziehungsweise „treffen können“. Die Lage in Europa sei „notorisch“ dergestalt, dass Tschechien seine Grenzen zu Österreich am 21. März 2020 sowie landesweit alle Lokale und Geschäfte geschlossen habe und mit einem Anstieg von Erkrankten konfrontiert sei. Da Tschechien seine Grenzen geschlossen habe, sei unklar, ob eine Rücküberstellung von den tschechischen Behörden überhaupt akzeptiert werde, zumal Bürger aus den von Tschechien definierten Risikostaaten, wozu auch Österreich zähle, nicht einreisen dürften, und Dublin-Überstellungen von 16 Staaten eingestellt worden seien.

7        Der Mitbeteiligte leide an diversen Erkrankungen und die europäischen Gesundheitssysteme seien durch die Pandemie belastet. Es müssten Feststellungen über die konkrete Situation des Mitbeteiligten im Falle seiner Rückkehr getroffen werden. Der festgestellte Sachverhalt sei daher im Sinne des § 21 Abs. 3 BFA-VG mangelhaft.

8        Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen geltend macht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den in § 21 Abs. 3 BFA-VG normierten Voraussetzungen abgewichen. Das BVwG habe nicht dargelegt, welche Ermittlungsmängel dem BFA unterlaufen seien oder warum eine mündliche Verhandlung unvermeidlich erscheine. Es sei dem BVwG, dem ebenfalls die Staatendokumentation des BFA zur Verfügung stehe, möglich, die dem BFA aufgetragenen ergänzenden Erhebungen zur aktuellen Lage in Tschechien selbst einzuholen. Es sei zudem nicht ersichtlich, inwiefern eine derzeitige Grenzschließung angesichts der Dauer der Überstellungsfrist bereits zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG relevant sei.

9        Zudem fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Frage, ob eine nach Bescheiderlassung eintretende Sachverhaltsänderung eine Aufhebung nach § 21 Abs. 3 BFA-VG rechtfertige, zumal das BVwG selbst zugestanden habe, dass es dem BFA unmöglich sei, Feststellungen zu einer erst nach seiner Bescheiderlassung eingetretenen Lageänderung zu treffen.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Durchführung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - erwogen:

11       Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

12       Gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG ist der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

13       Bei § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG handelt es sich um eine von § 28 Abs. 3 erster und zweiter Satz VwGVG abweichende Regelung, die auf die Besonderheiten des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens Bedacht nimmt, indem die Möglichkeit, aber auch die Verpflichtung zur Fällung einer zurückverweisenden Entscheidung im Fall einer Beschwerde gegen einen im asylrechtlichen Zulassungsverfahren erlassenen Bescheid allein an die in
§ 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG genannten Voraussetzungen geknüpft ist. Mit einer solchen Entscheidung geht die Rechtsfolge der Zulassung des Asylverfahrens einher (vgl. dazu grundlegend VwGH 5.10.2016, Ra 2016/19/0208, mwN). Diese Sonderbestimmung gelangt für sämtliche Beschwerden im Zulassungsverfahren zur Anwendung (vgl. VwGH 14.1.2020, Ra 2019/18/0311, mwN).

14       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgeführt, dass auf die Zielsetzung des Gesetzgebers, das Verfahren über eine im Zulassungsverfahren - im Besonderen gegen eine zurückweisende Entscheidung - erhobene Beschwerde rasch einer Erledigung zuzuführen, Bedacht zu nehmen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, ob mit der in der gebotenen Eile zu treffenden Entscheidung über die Beschwerde auch das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz insgesamt beendet werden kann (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072, Rn. 44).

15       Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters erkannt, dass immer dann, wenn der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes durch das BFA Ermittlungsmängel anhaften, die nicht vom BVwG in der für die Erledigung gebotenen Eile beseitigt werden können, der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben ist. Ist hingegen davon auszugehen, dass das BVwG die Ermittlungsmängel rasch und ohne größeren Aufwand selbst beseitigen kann, hat es von einer Beschwerdestattgebung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG Abstand zu nehmen und die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens (samt der Feststellung allfällig fehlenden Sachverhaltes) selbst vorzunehmen. Dabei hat es sich bei der Beurteilung gemäß § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung, ob eine Verhandlung durchzuführen ist, auch davon leiten zu lassen, ob die vorhandenen Ermittlungsmängel zweckmäßigerweise durch im Rahmen der Verhandlung vorzunehmende Beweisaufnahmen beseitigt werden können (etwa wenn es gilt, allein die Glaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers einer näheren Beurteilung zu unterwerfen; vgl. etwa VwGH 19.10.2017, Ra 2017/20/0144, sowie erneut VwGH 14.1.2020, Ra 2019/18/0311, jeweils mwN).

16       Einer behebenden Entscheidung im Sinn des § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG muss damit auch-unter Überbindung der Rechtsansicht - entnommen werden können, welche Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde unterlaufen sind. Zudem hat das Verwaltungsgericht in seiner Begründung offenzulegen, warum es nicht in der Lage ist, die Ermittlungsmängel in der für die Erledigung des - im Rahmen des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens abzuwickelnden Beschwerdeverfahrens - gebotenen Eile zu beseitigen (vgl. wiederum VwGH 14.1.2020, Ra 2019/18/0311, mwN).

17       Eine Auseinandersetzung mit dem zuletzt genannten Gesichtspunkt ist dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen. Wie das BFA zu Recht geltend macht, steht dem BVwG ohnedies die Möglichkeit gemäß § 5 Abs. 3 BFA-G offen, eine Anfrage an die Staatendokumentation zur aktuellen Lage in Tschechien, auch hinsichtlich der Möglichkeiten einer medizinischen Versorgung des Mitbeteiligten, zu richten. Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb das BVwG nicht in der Lage sein sollte, die Ermittlungsmängel selbst in der gebotenen Eile zu beseitigen.

18       Die angefochtene Entscheidung war daher wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 6. August 2020

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010142.L01

Im RIS seit

07.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

07.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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