TE Vwgh Beschluss 2020/6/29 Ra 2019/20/0592

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
VwGG §34 Abs1
VwGG §41

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth und die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des A A in S, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Februar 2019, W148 2132257-1/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 30. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 28. Juli 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer Verhandlung - mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis vom 6. Februar 2019 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Zur Begründung der Abweisung der Beschwerde in Ansehung des Antrags auf internationalen Schutz stützte sich das BVwG darauf, der Revisionswerber könne sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif ansiedeln und dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es sei ihm daher die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif zumutbar.

5        Der Revisionswerber sei ein gesunder und arbeitsfähiger junger Mann ohne spezifische Vulnerabilitäten, bei dem die grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Er habe fünf Jahre lang die Schule besucht. Seinen Lebensunterhalt habe er durch die Bewirtschaftung der familieneigenen landwirtschaftlichen Grundstücke verdient und außerdem drei Jahre lang als Taxifahrer gearbeitet. Er beherrsche eine der Landessprachen (Dari) und habe bis zu seiner Ausreise in Afghanistan gelebt. Er habe seine Sozialisierung innerhalb des afghanischen Kulturkreises erfahren, weshalb er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes bestens vertraut sei. Er habe die Möglichkeit, seiner Schulausbildung bzw. Berufserfahrung entsprechend eine Arbeitstätigkeit auszuüben oder sich durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten eine Existenzgrundlage zu sichern. Er sei der Volksgruppe der Hazara zugehörig. Aus den „Länderfeststellungen“ zur Volksgruppe der Hazara sei ersichtlich, dass ihre Gesellschaft traditionell strukturiert sei und auf der Familie bzw. dem Clan basiere, worin auch das traditionelle soziale Netz der Hazara bestehe. Die Ehefrau, die Töchter und der jüngere Bruder des Revisionswerbers lebten in seinem Heimatdorf, wo sie der Schwiegervater und Onkel des Revisionswerbers väterlicherseits versorge. Die Ehefrau des Revisionswerbers bewirtschafte seine landwirtschaftlichen Grundstücke. Er stehe in regelmäßigem telefonischem Kontakt zu ihr. Überdies wohne eine Tante väterlicherseits im Heimatdorf des Revisionswerbers. Zwei Onkel väterlicherseits lebten in der Provinz Ghazni, eine Tante mütterlicherseits in Pakistan. Es sei daher anzunehmen, dass seine Ehefrau und sein Onkel väterlicherseits den Revisionswerber bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach Kräften - zumindest anfangs bzw. übergangsweise - finanziell, in Form von Geldtransfers, unterstützen würden. Eine räumliche Trennung stehe dem nicht entgegen. Überdies könne der Revisionswerber durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif das Auslangen finden. Deshalb sei auch nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende oder wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte.

6        Auch wenn in Afghanistan, auch in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei, könne im vorliegenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass es dem Revisionswerber unter Berücksichtigung seiner oben dargelegten persönlichen Verhältnisse im Fall der Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich und zumutbar sei, sich in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif einen - wenn auch anfangs nur vorläufigen - Wohnraum zu suchen und sich durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten ein für seinen Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Zudem gehöre der Revisionswerber keinem Personenkreis an, von dem anzunehmen sei, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstelle als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif für ihre Existenzsicherung aufkommen könne. Dafür, dass der Revisionswerber in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (z.B. Nahrung, Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre, gebe es keine hinreichenden Anhaltspunkte.

7        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

9        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit - sowohl unter den Aspekten des relevanten Prüfungsmaßstabs als auch der damit korrespondierenden Ermittlungs- und Begründungspflichten - zusammengefasst vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Hinblick auf das ihr innewohnende Zumutbarkeitskalkül insbesondere nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet erfordere (Hinweise auf VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; 8.8.2017, Ra 2017/19/0118), weil es „der konkreten familiären Situation“ des Revisionswerbers im Fall seiner Rückkehr „in die als IFA ausgewählten Städte“ keinerlei Beachtung geschenkt habe. So habe sich das BVwG mit der „naheliegenden“ Frage, ob der Revisionswerber „an dem Ort, an dem er sich dauerhaft niederlassen soll“, auch mit der im Herkunftsland aufhältigen Kernfamilie zusammenleben werde, ob er für diese sorgepflichtig sein werde und welche Auswirkungen eine solche Unterstützung auf sein eigenes Fortkommen haben werde, „nicht auseinandergesetzt“. Das BVwG habe zur in Afghanistan lebenden Kernfamilie des Revisionswerbers lediglich festgestellt, dass seine Ehefrau in Ghazni (der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers) aufhältig sei und in der Lage wäre, den Revisionswerber finanziell zu unterstützen. Es sei realitätsfern anzunehmen, dass der Revisionswerber im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan „dauerhaft von seiner Familie getrennt“ leben werde und es sei davon auszugehen, dass „die Versorgung der Kernfamilie des Revisionswerbers“ im Fall seiner Rückkehr - wie bereits „vor seiner Flucht“ - erneut durch ihn erfolgen werde müssen und die während seiner Abwesenheit im Ausland geleistete Unterstützung des Schwiegervaters nicht mehr gewährt werde.

11       Diesem Vorbringen ist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entgegenzuhalten, wonach es, wenn (wie hier) von der Behörde - im Beschwerdeverfahren: vom Verwaltungsgericht - nach entsprechender Prüfung die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Bezug auf ein Gebiet allgemein bejaht wird, dem Asylwerber obliegt, besondere Umstände aufzuzeigen, die gegen die Zumutbarkeit sprechen (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0106; 5.12.2018, Ra 2018/20/0125; 25.6.2019, Ra 2018/19/0636; 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, je mwN). Dass die nunmehr in der Revision vorgebrachten Umstände (etwa betreffend eine im Fall der Rückkehr eintretende Unterstützungsbedürftigkeit der in der Herkunftsprovinz aufhältigen Familie des Revisionswerbers und das behauptete Entstehen von - bloß sein eigenes Fortkommen erschwerenden und somit ohnedies zu keiner Verletzung der den Revisionswerber betreffenden Rechte nach Art. 3 EMRK führenden - Sorgepflichten des Revisionswerbers) bereits (spätestens) im Verfahren vor dem BVwG vorgebracht worden wären, wird in der Revision nicht dargelegt. Somit steht schon das im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof geltende Neuerungsverbot (§ 41 VwGG) der Berücksichtigung dieses Vorbringens entgegen.

12       Soweit sich der Revisionswerber gegen die Feststellungen zur Situation seiner Familienangehörigen im Heimatdorf sowie dazu, dass er im Fall seiner Rückkehr auf deren finanzielle Unterstützung zurückgreifen könne, wendet, richtet sich das Revisionsvorbringen der Sache nach gegen die Beweiswürdigung. Dass diese in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (vgl. VwGH 4.2.2020, Ra 2020/20/0025 bis 0030, mwN), zeigt die Revision aber nicht auf.

13       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 29. Juni 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200592.L01

Im RIS seit

10.08.2020

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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