TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/10 Ra 2019/18/0516

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Veröffentlicht am 10.06.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AVG §68 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S M, vertreten durch Dr. Katja Unger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Bartensteingasse 16/Top 6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2019, W215 1410863-3/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger Usbekistans und Angehöriger der schiitischen Glaubensrichtung. Er stellte am 20. April 2009 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Er sei von acht sunnitischen Männern schwer misshandelt worden.

2        Mit Erkenntnis des damals zuständigen Asylgerichtshofes vom 18. Juni 2012 wurde dieser Antrag des Revisionswerbers zur Gänze abgewiesen und er aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Usbekistan ausgewiesen.

3        Am 1. April 2014 stellte der Revisionswerber den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er damit, dass mittlerweile seine Ehefrau (zu ihr siehe Ra 2019/18/0517) aus Usbekistan geflohen sei, weil man ihn ständig zu Hause gesucht habe und sie infolgedessen vergewaltigt worden sei. Überdies habe er keine neuen Fluchtgründe.

4        Mit Bescheid vom 30. September 2019 wies das (nunmehr zuständige) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Usbekistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Darüber hinaus legte das BFA keine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

5        Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde und führte u.a. aus, dass die Verfahren entgegen § 34 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) nicht einheitlich geführt worden seien. Es erscheine unzulässig, hinsichtlich der Ehefrau und der Kinder des Revisionswerbers inhaltliche Entscheidungen zu treffen, seinen Antrag aber zurückzuweisen. Sein Antrag hätte auch inhaltlich entschieden werden müssen, denn er habe das Recht auf den gleichen Schutzumfang.

6        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des Bescheides wegen entschiedener Sache als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VI. wies das BVwG als unbegründet ab (Spruchpunkt A.II.) und erklärte die Revision für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

7        Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe sich auf sein Vorbringen des ersten Asylverfahrens berufen, weshalb es sich um eine bloße Wiederholung bzw. eine unglaubwürdige Fortsetzung der im ersten Asylverfahren genannten Fluchtgründe handle, denen kein glaubhafter Kern innewohne. Auch aus den aktuellen Länderfeststellungen gehe nicht hervor, dass sich die Lage im Herkunftsstaat seit Erlassung des letzten Erkenntnisses des Asylgerichtshofes entscheidungswesentlich geändert habe.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Zur Zulässigkeit bringt die Revision u.a. vor, gemäß ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei bei wiederholten Anträgen auf internationalen Schutz immer dann erneut in der Sache zu entscheiden, wenn eine Sachverhaltsänderung behauptet werde, die einen glaubhaften Kern aufweise, dem Relevanz zukomme. Im Revisionsfall habe der Revisionswerber insofern eine Sachverhaltsänderung behauptet, als er darauf verwiesen habe, dass nach ihm auch nach seiner Ausreise weiterhin gesucht worden sei und seine in Usbekistan verbliebene Ehefrau sich aufgrund der Bedrohung durch Unbekannte wegen seiner Probleme zur Flucht aus Usbekistan gezwungen gesehen habe. Darüber hinaus sei das BVwG bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil sich der Revisionswerber bereits seit zehn Jahren in Österreich aufhalte und daher von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen sei. Außerdem bestehe bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen grundsätzlich Verhandlungspflicht. Der Sachverhalt sei auch in der mündlichen Verhandlung - die nur im Zuge der Säumnisbeschwerde stattgefunden habe - nicht gänzlich geklärt worden und sei das BVwG nicht ausreichend auf sein Vorbringen eingegangen.

9        Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

11       „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG war die Frage, ob die Zurückweisung der verfahrenseinleitenden Anträge durch die erstinstanzliche Behörde gemäß § 68 Abs. 1 AVG zu Recht erfolgte. Das BVwG hatte dementsprechend zu prüfen, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist (vgl. VwGH 12.7.2017; Ra 2017/18/0220 bis 0224, mwN).

12       Bei wiederholten Anträgen auf internationalen Schutz kann nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhalts die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen - berechtigen und verpflichten, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2018/18/0507, mwN).

13       In Bezug auf die Zurückweisung des Folgeantrags nach § 68 Abs. 1 AVG führte das BVwG aus, der Revisionswerber berufe sich im gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz wieder auf sein Vorbringen im ersten Asylverfahren, weshalb es sich um eine bloße Wiederholung bzw. unglaubwürdige Fortsetzung der im ersten Asylverfahren genannten Fluchtgründe handle, denen kein glaubhafter Kern innewohne. Dem ergänzenden Vorbringen des Revisionswerbers im gegenständlichen Asylverfahren, wonach seine in Usbekistan verbliebene Ehefrau wegen der seit Jahren bestehenden Suche nach ihm vergewaltigt worden und dabei schwanger geworden sei und daraufhin ihrerseits nach Österreich geflohen sei, hat das BVwG mit dem Hinweis auf eine Zurückziehung dieser Behauptung in einer mündlichen Verhandlung vor dem (damals im Säumnisweg befassten) BVwG die Glaubhaftigkeit abgesprochen.

14       Mit dieser Begründung wird das BVwG der Anforderung einer ausreichenden Überprüfung der behaupteten Geschehnisse daraufhin, ob sie einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, fallbezogen nicht gerecht, weil das BVwG damit den Umstand übergeht, dass der Revisionswerber und seine Ehegattin in ihrer gemeinsamen Beschwerde die Widersprüche in ihrem Aussageverhalten vor dem (damals im Säumnisweg befassten) BVwG mit dem Verlauf der mündlichen Verhandlung und der daraus resultierenden familiären Drucksituation auf die Ehegattin, die eine Verstoßung durch die Familie des Ehemanns oder eine Wegnahme des außerehelichen Kindes gefürchtet habe, substantiiert erklären.

15       Mit diesem Vorbringen in der Beschwerde hat sich das BVwG aber im angefochtenen Erkenntnis nicht auseinandergesetzt. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit des neu erstatteten Vorbringens wären daher im vorliegenden Fall weitere Ermittlungsschritte - wie etwa die neuerliche Befragung zunächst der Ehefrau und sodann des Revisionswerbers vor dem Hintergrund ihres Beschwerdevorbringens - zu setzen gewesen (zur Aufhebung des Erkenntnisses betreffend die Ehefrau des Revisionswerbers siehe das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2019/18/0517).

16       Im Übrigen hat der Revisionswerber im Beschwerdeverfahren auch geltend gemacht, dass sein Verfahren und die Verfahren seiner Ehefrau und minderjährigen Kinder entgegen § 34 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) nicht einheitlich geführt worden seien.

17       Ungeachtet dieses Beschwerdevorbringens ist dem angefochtenen Erkenntnis des BVwG nicht ansatzweise zu entnehmen, weshalb - vor dem Hintergrund des § 34 iVm § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 - hinsichtlich des Revisionswerbers die Bestimmungen des Familienverfahrens nicht angewendet wurden.

18       Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 10. Juni 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180516.L00

Im RIS seit

17.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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