RS Vfgh 2020/6/8 E3703/2019 ua

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Veröffentlicht am 08.06.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen des Irans; keine ausreichende Auseinandersetzung mit der Apostasie, dem Atheismus sowie deren Folgen für das minderjährige Kind angesichts der Länderfeststellungen

Rechtssatz

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hält die Apostasie des Erstbeschwerdeführers für erwiesen, verneint aber, dass er im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Iran seine Abwendung vom Islam "nach außen tragen würde, sodass ihm ein diesbezüglich auch politisches Verhalten vorgeworfen werden könnte". Darauf aufbauend verneint das BVwG eine asylrelevante Bedrohung des Erstbeschwerdeführers; eine Bedrohung, die das Bundesverwaltungsgericht - wie sich aus den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichten auch ergibt - grundsätzlich für gegeben erachten würde, wenn sich der Erstbeschwerdeführer "zum Atheismus bekennen würde und sich damit ins Visier der Sicherheitskräfte begeben würde".

Seine Beurteilung stützt das BVwG wesentlich darauf, dass der Erstbeschwerdeführer insbesondere in der mündlichen Verhandlung nicht habe erklären können, warum - nachdem er vor seiner Ausreise seinen eigenen Angaben zufolge über dreizehn Jahre den Islam insoweit nicht mehr gelebt habe, als er die Gebete nicht mehr verrichtet, den Ramadan nicht eingehalten und die Moschee nicht mehr besucht habe, und dies zu keinen Problemen mit den iranischen Behörden geführt habe - "also nunmehr eine öffentliche Demonstration seiner Gesinnung, bzw seines fehlenden Glaubens, tatsächlich zu erwarten wäre."

In diesem Zusammenhang hat der Erstbeschwerdeführer auf die Frage, was er denn im Falle einer Rückkehr in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit seiner Gesinnung machen würde, Folgendes geantwortet: "Es gibt 2 Möglichkeiten, entweder fühlt man sich wie in einem Gefängnis, verurteilt zum Stillschweigen und dass man lügt und sagt 'Ich bin ein Moslem'. Die 2. Möglichkeit, man hat ja Freunde, und wenn man mit ihnen darüber redet, kann man 1, 2 oder 3 Mal lügen. Irgendwann muss man ja auch die Wahrheit erzählen." Diese Aussage des Erstbeschwerdeführers würdigt das BVwG dahingehend, dass der Erstbeschwerdeführer "im Endeffekt nur meint, man müsse einmal die Wahrheit sagen," wobei dennoch unklar bleibe, "warum diese Wahrheit - und in welcher Form - wem gegenüber ans Tageslicht kommen würde. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich der BF 1) - wie auch in den Länderberichten angegeben - nunmehr nach mehr als 13 Jahren, in denen er die Religion nicht ausübte und nach mehr als zwei Jahren, in denen er selbst meinte, er habe sich schließlich ganz bewusst vom Islam abgewandt, zum Atheismus bekennen würde und sich damit ins Visier der Sicherheitskräfte begeben würde, haben sich im Verfahren und nach den Angaben des BF 1) im Verfahren nicht ergeben."

Wieso sich aus der Aussage des Erstbeschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung diese Schlussfolgerung des BVwG ergeben sollte, ist nicht nachvollziehbar. Vielmehr legt die Aussage doch gerade den Gewissenskonflikt des Erstbeschwerdeführers offen, die Konfessionslosigkeit nicht öffentlich leben zu können, sondern - um eine Verfolgung zu vermeiden - für sich behalten zu müssen. Indem das BVwG dieses offensichtliche Parteivorbringen ignoriert und demzufolge keine Ermittlungen dahingehend anstellt, wie sich für den Erstbeschwerdeführer ein öffentliches Eingeständnis des Abfalls vom Islam vor dem Hintergrund der Länderberichte auswirken würde, verlangt es vom Erstbeschwerdeführer, dass er seine - an und für sich als glaubwürdig erachtete - Apostasie für sich behält, wenn er sich diesbezüglich vor Verfolgung schützen muss.

Dazu kommt, dass das BVwG überhaupt nicht auf die Frage eingeht, wie sich die Konfessionslosigkeit des Erstbeschwerdeführers im Falle einer Rückkehr auf den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer auswirkt und ob die erzieherische Verantwortung für sein Kind möglicherweise die Gefahr verstärkt, dass diese Konfessionslosigkeit im Hinblick auf die religiöse Erziehung des Kindes zu einem öffentlichen Thema wird, das die Behörden auf den Erstbeschwerdeführer aufmerksam macht.

Entscheidungstexte

  • E3703/2019 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 08.06.2020 E3703/2019 ua

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Rückkehrentscheidung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E3703.2019

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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