TE Vwgh Beschluss 2020/5/27 Ra 2019/14/0394

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Veröffentlicht am 27.05.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §58 Abs2
AVG §60
B-VG Art133 Abs4
VStG §25 Abs1
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder sowie die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des XY in Z, vertreten durch Mag. Gerald Schefcik-Rothfischer, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Reisnerstraße 29/7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 2019, W270 2171151-1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 12. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er damit, dass seine Eltern bereits vor seiner Geburt Afghanistan verlassen hätten. Er sei im Iran geboren, habe dort aber weder Zugang zu Schulbildung noch zum regulären Arbeitsmarkt gehabt. Er habe für sich keine Zukunft im Iran gesehen.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 29. August 2017 diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

5        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

6        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7        Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das BVwG habe bei der Annahme des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar-e Sharif die Schlussfolgerungen des EASO-Länderleitfadens zu Afghanistan vom Juni 2018 missachtet. Beim Revisionswerber handle es sich nicht um einen gesunden, jungen Mann, sondern um einen stark beeinträchtigten jungen Erwachsenen, der im Iran aufgewachsen sei. Der Revisionswerber verfüge in Afghanistan über kein soziales Unterstützungsnetzwerk und habe keine Kenntnisse über die in Afghanistan im städtischen Raum bestehende Struktur. Das BVwG habe veraltete Länderberichte zur Rückkehrhilfe herangezogen. Ferner habe das BVwG gegen seine Ermittlungspflichten verstoßen und sich nicht hinreichend mit der Behandelbarkeit der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers sowie seiner Traumatisierung auseinandergesetzt. Es habe verabsäumt, zugängliche Zeugen zu den Vorkommnissen im Herkunftsland zu befragen, aufgrund derer die Familie Afghanistan verlassen habe. Weiters habe das BVwG unberücksichtigt gelassen, dass dem Bruder des Revisionswerbers aufgrund der zu erwartenden Verfolgung wegen seiner sexuellen Orientierung Asyl zuerkannt worden sei, weshalb auch dem Revisionswerber aufgrund des „Konzepts der Sippenhaftung“ ebenfalls eine Bestrafung drohe und ihm ein Abfall vom Glauben und „Verwestlichung“ unterstellt werde. Schließlich wendet sich die Revision gegen die vom BVwG vorgenommene Rückkehrentscheidung.

8        Ausgangspunkt der Prüfung, ob eine grundsätzliche Rechtsfrage vorliegt, ist der festgestellte Sachverhalt. Entfernt sich der Revisionswerber in der Zulässigkeitsbegründung vom festgestellten Sachverhalt, wird schon deshalb keine fallbezogene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt (vgl. VwGH 14.1.2020, Ra 2019/01/0495, mwN).

9        Das BVwG hat sich nach Durchführung eines Beweisverfahrens mit dem Gesundheitszustand des Revisionswerbers und seiner Arbeitsfähigkeit auseinandergesetzt und stellte - ausgehend von den vorgelegten Arztbriefen - fest, dass dieser an einer mittelgradig depressiven Episode sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Es ging jedoch mit näherer Begründung davon aus, dass der Revisionswerber dennoch arbeitsfähig und bei Rückkehr nach Afghanistan eine Behandlung der Erkrankung des Revisionswerbers gewährleistet sei. Eine Unvertretbarkeit der diesbezüglichen Erwägungen des BVwG zeigt die Revision nicht auf.

10       Soweit der Revisionswerber im Zusammenhang mit seinem Gesundheitszustand Ermittlungsmängel rügt, macht er Verfahrensmängel geltend. Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach es nicht ausreicht, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der Verfahrensmängel in konkreter Weise darzulegen (vgl VwGH 12.3.2020, Ra 2019/14/0179, mwN). Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 9.1.2020, Ra 2019/19/0550, mwN). Dass dies vorliegend der Fall wäre, zeigt die Revision nicht auf. Darüber hinaus fehlt eine Relevanzdarlegung im Sinn der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

11       Entgegen dem Vorbringen in der Zulässigkeitsbegründung berücksichtigte das BVwG bei der Prüfung, ob dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, die EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und setzte sich mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers auseinander. Es entspricht in Bezug auf Afghanistan der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einem arbeitsfähigen Asylwerber, der über Schulbildung und Berufserfahrungen verfügt, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist, auch ohne soziale und familiäre Anknüpfungspunkte in Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offen steht, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ra 2019/01/0488, mwN). Die Revision zeigt fallbezogen weder auf, dass in der Stadt Mazar-e Sharif eine Situation vorläge, die eine Verletzung der nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers darstellen würde, noch dass dem - ungeachtet seiner Erkrankungen - arbeitsfähigen Revisionswerber eine Ansiedelung dort nicht zumutbar wäre (vgl. zu ähnlichen Konstellationen VwGH 15.5.2020, Ra 2020/14/0176; 25.4.2019, Ra 2018/19/0710).

12       Im Fall einer unterbliebenen Vernehmung ist - um die Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers darzulegen - in der Revision konkret darzulegen, was die betreffende Person im Fall ihrer Vernehmung aussagen hätte können und welche anderen Feststellungen auf Grund dessen zu treffen gewesen wären (vgl. VwGH 27.6.2019, Ra 2019/14/0085, mwN). Diese Vorgaben erfüllt die vorliegende Revision mit ihrem allgemeinen Zulässigkeitsvorbringen, das BVwG habe die Einvernahme zugänglicher Zeugen unterlassen, nicht.

13       Insofern sich der Revisionswerber gegen die Beweiswürdigung des BVwG zu den Gründen seiner Flucht wendet, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach dieser - als Rechtsinstanz - zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 29.5.2019, Ra 2019/14/0136, mwN). Eine solche Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung wird in der Revision nicht dargelegt. Soweit die Revision pauschal das im Asylverfahren des Bruders des Revisionswerbers ergangene Erkenntnis ins Treffen führt, ist darauf hinzuweisen, dass eine Bindungswirkung in Bezug auf die Verfahren betreffend andere Parteien nicht besteht (vgl. in diesem Sinn auch VwGH 9.10.2019, Ra 2019/20/0476, mwN). Wenn der Revisionswerber ferner auf eine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer drohenden Sippenhaftung wegen der Homosexualität seines Bruders verweist, steht der Berücksichtigung dieses Vorbringens im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof das aus § 41 VwGG abgeleitete Neuerungsverbot entgegen.

14       Der Revisionswerber wendet sich schließlich auch gegen die im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung durchgeführte Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG).

15       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0550, mwN). Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 6.2.2020, Ra 2020/14/0025, mwN).

16       Das BVwG hat im Rahmen der Interessenabwägung auf alle fallbezogen entscheidungswesentlichen Umstände Bedacht genommen und berücksichtigte auch das von der Revision angesprochene Verhältnis zu seinem asylberechtigten minderjährigen Bruder. Bei der Gesamtbetrachtung setzte es sich auch mit den möglichen Auswirkungen einer Trennung der Geschwister auseinander. Das BVwG stellte - wenngleich disloziert - fest, dass die Unterstützung, die der Revisionswerber seinem Bruder zuteilwerden lasse, nicht über die in einem Familienverband üblicherweise zu erwartende Hilfestellung hinausgehe, der Bruder in Österreich in einem stabilen Netzwerk lebe und ausgehend davon die vorgebrachten schwerwiegenden gesundheitlichen Auswirkungen einer Trennung auf den minderjährigen Bruder des Revisionswerbers als bloße Vermutungen einzustufen seien. Der Revision gelingt es nicht darzulegen, dass diese Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts unvertretbar wären. Bei dieser Ausgangslage war es im Ergebnis aber zumindest vertretbar, dass das BVwG trotz Berücksichtigung aller zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände die Erlassung einer Rückkehrentscheidung von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen gegenüber den familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers ausgegangen ist.

17       Mit dem Vorbringen, dass dem Bewusstsein um die Unsicherheit des Aufenthalts im Rahmen der Gesamtabwägung weniger Gewicht beizumessen ist, weil der (seit 1. Mai 2017 volljährige) Revisionswerber als unbegleiteter Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist sei, gelingt es der Revision ebenfalls nicht aufzuzeigen, dass die im angefochtenen Erkenntnis vorgenommene Gesamtabwägung im Ergebnis nicht den in der Rechtsprechung dargelegten Leitlinien entspräche.

18       In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 27. Mai 2020

Schlagworte

freie Beweiswürdigung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140394.L00

Im RIS seit

15.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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