TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/28 Ra 2019/18/0421

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Veröffentlicht am 28.05.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
E6J
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z12
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
EURallg
FlKonv Art1 AbschnA Z2
FlKonv Art1 AbschnA2 Z2
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
32011L0095 Status-RL Art10 Abs1 litd
62012CJ0199 VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter, die Hofrätin Dr.in Sembacher sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2019, W255 2203093-2/8E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: A B), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1        Der 1997 geborene Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 23. Mai 2018 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. April 2019 wurde dieser Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch eines subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

3        Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 11. September 2019 statt, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme (Spruchpunkt A.). Die ordentliche Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

4        Begründend stellte das BVwG zusammengefasst fest, der Mitbeteiligte habe im Jahr 2017 in einem Hotel in Kabul als Lehrling gearbeitet. Drei Monate nach seiner Arbeitsaufnahme sei er von seinem damaligen Arbeitgeber, dem Hotelbesitzer, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu einem näher genannten Mann gebracht worden, der ihn und zwei weitere seiner Arbeitskollegen in einem Keller eingesperrt und gefangen gehalten habe. In weiterer Folge seien der Mitbeteiligte und die beiden anderen Gefangenen aufgefordert worden, Tanzkleider anzuziehen und als „bacha bazi“ (Tanzjungen) bei einer Veranstaltung in einem Saal vor mehreren männlichen Gästen zu tanzen. Bei einem Fluchtversuch sei der Mitbeteiligte mit einem Messer am Hals verletzt worden, ohnmächtig geworden und erst im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Dort sei er von einem Kommandanten, der sich unter den Gästen der Veranstaltung befunden habe, besucht und bedroht worden. Zudem habe der Kommandant im Krankenhaus Fotos vom Mitbeteiligten angefertigt. Sein ehemaliger Arbeitgeber verfüge über eine Kopie seiner Tazkira. Seit dem Messerstich habe der Mitbeteiligte eine große, deutlich sichtbare Narbe. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan - ob nach Kabul, Herat, Mazar-e Sharif oder in einen anderen Landesteil - wäre er einer Verfolgung, unter anderem durch den Kommandanten sowie durch seinen Entführer und dessen Gefolgschaft, ausgesetzt, weil er sich deren Befehlen widersetzt habe und geflüchtet sei.

5        In den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses wurden unter anderem folgende Feststellungen getroffen:

„Auszug aus EASO - Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis vom Juni 2018:

The practice of bacha bazi has resurfaced since the end of the Taliban ruling. Sources report that young boys, with 14 as average age, are abducted and disappeared into the practice or can be traded in by their families in exchange for money. Boys involved in the practice may be subjected to violence and threats, and are raped and kept in sexual slavery. Bacha bazi is not perceived as homosexuality. Afghan police and military are considered as one of the main perpetrators and often operate with impunity. Bacha bazi boys have little to no support from the State and the perpetrators are seldom prosecuted in the context of a weak rule of law, corruption and official complicity with law enforcement perpetrators. Under the new provisions of the Penal Code, prosecution of victims of bacha bazi is outlawed; however instances of jailing boys that were dancing are reported.

[...]

Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 6.10.2015 zum Thema: ‚Informationen zu Vergewaltigungen von Männern/Jungen durch Männer (Umgang der Gesellschaft mit diesem Thema; Konsequenzen für den vergewaltigten Mann/Jungen; Schutzwilligkeit/-fähigkeit der Polizei in solchen Fällen):

Der Bericht erläutert unter anderem, dass Bacha bazi als eine hässliche und abstoßende (‚offensive‘) Praxis, als ein Tabu, angesehen werde. Deshalb würden Täter und Opfer von der Gesellschaft isoliert. Die soziale Isolation der Kinder und ihrer Familien verstärke sich, wenn die Opfer in Folge von Tanzauftritten bei allgemeinen Veranstaltungen und Feiern Bekanntheit erlangen würden. Menschen würden nicht nur ihre Beziehungen zum Opfer sondern auch zu dessen Familie und Verwandten abbrechen und versuchen, nichts mehr mit diesen zu tun zu haben.‘“

6        Rechtlich folgerte das BVwG aus seinen Feststellungen, dass der Mitbeteiligte im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat individueller Verfolgung ausgesetzt sei. Dabei liege der Anknüpfungspunkt zu einem Konventionsgrund in der Zugehörigkeit des Mitbeteiligten zur „sozialen Gruppe der jungen Männer, die in Afghanistan als Tanzjungen eingesetzt werden sollten und sich den Vorstellungen ihrer Verfolger widersetzt haben“. Aus den Länderfeststellungen sei ersichtlich, dass keine Schutzfähigkeit und -willigkeit des Staates bestehe. Bei einem der Verfolger handle es sich um einen Kommandanten, der für den Staat tätig sei. Aus den Länderfeststellungen gehe weiters hervor, dass Personen, die für den Staat arbeiteten, oftmals keine Verfolgung zu befürchten hätten, während demgegenüber sogar Fälle von Verhaftungen von Tanzjungen bekannt geworden seien. Die festgestellte Verfolgungsgefahr erstrecke sich auf das gesamte Staatsgebiet. Vor diesem Hintergrund sei dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

7        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zur Zulässigkeit zusammengefasst geltend macht, dass sich im angefochtenen Erkenntnis keine Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität der sozialen Gruppe von Tanzjungen fänden. Nach Ansicht der revisionswerbenden Partei könne eine Verfolgung von Tanzjungen in der Vergangenheit nicht als „gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann“ im Sinne des Art. 10 Abs. 1 lit. d Status-RL verstanden werden, weil damit die soziale Gruppe ausschließlich dadurch definiert würde, dass sie Zielscheibe von Verfolgung gewesen sei. Dies widerspreche der höchstgerichtlichen Rechtsprechung (Hinweis auf VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350). „Bacha Bazi“ könnten daher keine soziale Gruppe iSd Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie darstellen.

8        Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Amtsrevision beantragte.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10       Die Amtsrevision ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet.

11       Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, mwN).

12       Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status-RL und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinne dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der als sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. erneut VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, mwN).

13       Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350).

14       Im vorliegenden Fall umschreibt das BVwG den Mitbeteiligten als Mitglied der sozialen Gruppe „junger Männer, die in Afghanistan als Tanzjungen eingesetzt werden sollten und sich den Vorstellungen ihrer Verfolger widersetzt haben“. Zu Recht macht die Amtsrevision geltend, dass sich das BVwG dabei mit den einzelnen Voraussetzungen, die nach der Status-RL erfüllt sein müssen, um eine „soziale Gruppe“ zu bilden, nicht näher auseinandergesetzt hat. Dennoch lässt sich auf der Grundlage der vom BVwG getroffenen Feststellungen das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ bejahen.

15       Der Amtsrevision ist zwar zuzustimmen, dass eine soziale Gruppe nicht ausschließlich dadurch definiert werden kann, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. etwa VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, mwN). Davon ist im vorliegenden Fall aber nicht auszugehen: Auch wenn die Ausbeutung männlicher Kinder als Tanzjungen regelmäßig unter Zwang stattfindet, weisen Tanzjungen ungeachtet dessen einen gemeinsamen Hintergrund auf, den sie nicht (mehr) verändern können, nämlich den Umstand, dass sie als Tanzjungen (zwangsweise) auftreten bzw. aufgetreten sind. Damit erfüllen sie das maßgebliche Kriterium nach Art. 10 Abs. 1 lit. d erster Spiegelstrich der Status-RL.

16       Nach den Länderfeststellungen des BVwG, deren Richtigkeit von der Revision nicht bekämpft wird, werden diese Personen (ungeachtet ihrer Opfereigenschaft) von der afghanischen Gesellschaft isoliert, wobei sich die soziale Isolation mit ihrer Bekanntheit in der Öffentlichkeit verstärkt. Dieser Umstand manifestiert die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft offensichtlich als andersartig betrachtet wird. Auch das Kriterium nach Art. 10 Abs. 1 lit. d zweiter Spiegelstrich der Status-RL ist somit gegeben.

17       Dem BVwG kann also fallbezogen nicht entgegen getreten werden, wenn es vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen annahm, dass Opfer des „bacha bazi“-Missbrauchs eine soziale Gruppe iSd hg. Rechtsprechung bilden können.

18       Die Zugehörigkeit des Mitbeteiligten zu einer sozialen Gruppe bedeutet freilich noch nicht, dass er allein deshalb Anspruch auf Asyl hätte. Entscheidend ist vielmehr, dass er wegen der Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung erfahren würde und ihm dagegen kein Schutz seines Herkunftsstaates gewährt wird (vgl. VwGH 8.9.2015, Ra 2015/18/0010, mwN).

19       Auch diese Voraussetzungen hat das BVwG fallbezogen zu Recht bejaht: Aus den im Revisionsfall zugrunde gelegten Feststellungen ergibt sich, dass dem Mitbeteiligten bei einer Rückkehr nach Afghanistan - aufgrund seiner großen, deutlich sichtbaren Narbe, der einbehaltenen Tazkira und des von ihm angefertigten Fotos - eine (anhaltende) landesweite Verfolgung durch Private, nämlich unter anderem durch seinen Entführer und den bei der Tanzveranstaltung anwesenden Kommandanten droht. Diese erweist sich im konkreten Fall auch als asylrelevant. Das BVwG stellte nämlich auch fest, dass die afghanischen Sicherheitsbehörden Opfern des „bacha bazi“-Missbrauchs keinen geeigneten Schutz bieten (zum notwendigen kausalen Zusammenhang zwischen der behaupteten ehemaligen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe mit einer Verfolgung vgl. bereits VwGH 3.5.2018, Ra 2018/19/0171).

20       Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Wien, am 28. Mai 2020

Gerichtsentscheidung

EuGH 62012CJ0199 VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180421.L00

Im RIS seit

08.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

14.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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