TE Vwgh Erkenntnis 2020/4/27 Ra 2016/08/0051

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Veröffentlicht am 27.04.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §6
MRK Art6
VwGG §45 Abs2
VwGVG 2014 §24

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofräte Dr. Strohmayer und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima LL.M., über die Revision des A Ö in W, vertreten durch Dr. Michael Celar, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Mariahilferstraße 88a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Jänner 2016, W162 2106815-2/3E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Laxenburger Straße), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis sprach das Verwaltungsgericht - in Bestätigung der Beschwerdevorentscheidung der belangten Behörde (im Folgenden: AMS) vom 24. Juni 2015, mit der wiederum der Ausgangsbescheid vom 7. April 2015 bestätigt worden war - aus, dass der Revisionswerber den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum vom 20. März bis zum 30. April 2015 gemäß § 38 in Verbindung mit § 10 AlVG verloren habe und Nachsicht nicht erteilt werde.

1.2. Laut den vom Verwaltungsgericht getroffenen „Feststellungen“ habe der Revisionswerber den Lehrberuf des KFZ-Mechanikers erlernt und sei zuletzt im Jahr 2013 vollversichert beschäftigt gewesen. Während des (anschließenden) Bezugs von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe sei er wiederholt (auch) über die Vorgangsweise bei der Zusendung von Vermittlungsvorschlägen belehrt worden. Am 4. März 2015 habe ihm das AMS drei Vermittlungsvorschläge zugewiesen, einer davon habe eine „Vorauswahl“ zur Besetzung einer Stelle als KFZ-Mechaniker bei einer (näher genannten) GmbH mit Arbeitsantritt am 20. März 2015 betroffen. Diese Stellenzuweisung sei auf das eAMS-Konto des Revisionswerbers, auf das er Zugriff gehabt habe, zugestellt worden. Der Revisionswerber sei in der Folge zur Vorauswahl nicht erschienen.

1.3. In der „Beweiswürdigung“ führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Feststellungen gründeten sich auf den (näher erörterten) Akteninhalt.

Laut den Zeugenangaben im Verfahren vor dem AMS seien dem Revisionswerber am 4. März 2015 drei Vermittlungsvorschläge - darunter die hier gegenständliche Stelle - zugewiesen worden. Dass es sich bei dieser Stelle um eine Vorauswahl seitens des AMS gehandelt habe, sei unerheblich. Auch insofern liege nämlich eine gültige Zuweisung vor und könne das unentschuldigte Fernbleiben die Sanktion des § 10 AlVG nach sich ziehen.

Die betreffende Stelle sei geeignet und zumutbar im Sinn des § 9 AlVG gewesen. Der Revisionswerber habe selbst eingeräumt, dass er auf Grund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten im Hinblick auf die mit der Stelle verbundenen Anforderungen alle notwendigen Voraussetzungen erfülle. Er sei daher verpflichtet gewesen, sich um die Beschäftigung zu bewerben.

Eine Vereitelung im Sinn des § 10 Abs. 1 AlVG liege nur dann vor, wenn das Verhalten des Arbeitslosen kausal für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung gewesen sei. Das sei der Fall, wenn zumindest die Chancen für das Zustandekommen einer Beschäftigung verringert worden seien. Vorliegend sei Kausalität gegeben, weil der Revisionswerber durch sein Nichterscheinen zur Vorauswahl die Aufnahme der Beschäftigung verunmöglicht habe.

Eine Vereitelung im aufgezeigten Sinn erfordere weiters, dass der Arbeitslose das Nichtzustandekommen der Beschäftigung vorsätzlich herbeigeführt habe. Dabei genüge bedingter Vorsatz, indes sei - entgegen der Auffassung des AMS - ein bloß fahrlässiges Verhalten nicht ausreichend. Vorliegend sei dem Revisionswerber bedingter Vorsatz anzulasten, wie insbesondere aus seinen widersprüchlichen und wiederholt abgeänderten Angaben zu folgern sei. So habe er zunächst behauptet (Niederschrift vom 31. März 2015), er habe die zugewiesene Stelle „übersehen“. Später habe er angegeben (Niederschrift vom 21. Mai 2015), er habe den Vorschlag entweder „gar nicht bekommen“ oder „übersehen“. Auf Vorhalt der durch die AMS-Mitarbeiterin dokumentierten Zuweisung habe er ausgeführt, es könne sein, dass er drei oder auch nur zwei Vorschläge erhalten habe, er könne sich „leider nicht erinnern“, er habe das „sicher nicht absichtlich“ gemacht. In der Folge habe er über Vorhalt der EDV-Aufzeichnungen und der Angaben der AMS-Mitarbeiterin sowie nach Sichtung seines eAMS-Kontos per Handy eingeräumt (Niederschrift vom 19. Juni 2015), dass er den Vorschlag doch erhalten, aber offenbar „wirklich übersehen“ habe; er habe ihn wahrscheinlich „auf die Seite gelegt“, weil keine Bewerbung per E-Mail möglich gewesen sei, und „darauf vergessen“; die Nichtbewerbung sei wohl „passiert“, weil die Stelle als Vorauswahl bezeichnet gewesen sei. Zuletzt habe er wieder behauptet (Vorlageantrag vom 9. Juli 2015), dass er „nichts von einem Stellenangebot“ der GmbH „gewusst“ habe. Wie diese divergierenden Angaben zeigten, habe der Revisionswerber seine Angaben jeweils situationsbedingt zu ändern versucht, um einen für ihn günstigen Verfahrensausgang zu erreichen. Seiner widersprüchlichen Darstellung über die Gründe für sein Nichterscheinen zur Vorauswahl (insbesondere dass er die Stelle bloß „übersehen“ habe) könne daher kein Glauben geschenkt werden.

Nach der Rechtsprechung bedürfe es eines auf die Erlangung der vermittelten Stelle ausgerichteten unverzüglich zu entfaltenden Handelns. Vorliegend habe der Revisionswerber ein auf die Erlangung des Arbeitsplatzes ausgerichtetes Handeln nicht entfaltet. Er habe zwar die zugewiesenen Vermittlungsvorschläge unverzüglich am 4. März 2015 eingesehen, jedoch den hier gegenständlichen Vorschlag zur Seite gelegt und den Termin für die Vorauswahl in der Folge nicht wahrgenommen. Er habe hierdurch unterlassen, „sein Verhalten darauf auszurichten (zB Notieren des Termins, Erinnerung oder neuerliches Abrufen des eAMS-Kontos“), und in Kauf genommen, den Termin zu übersehen.

Der Verwaltungsgerichtshof habe bereits in einem (näher erörterten) ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass schon die Nichtwahrnehmung des Vorstellungstermins eine Vereitelung im Sinn des § 10 AlVG darstelle. In jenem Fall habe der Arbeitslose kein Vorbringen erstattet, weshalb es ihm nicht möglich gewesen wäre, die Stellenangebote unmittelbar nach Erhalt einzusehen und sein Verhalten danach auszurichten. Vorliegend habe der Revisionswerber die Vorschläge zwar sogleich eingesehen, jedoch den Termin in der Folge nicht wahrgenommen. Er habe auch „keinerlei glaubhaftes, gleichbleibendes und nachvollziehbares Vorbringen erstattet, wieso er den gegenständlichen Vermittlungsvorschlag nicht eingesehen hatte, zumal er nach eigenen Angaben die anderen Vermittlungsvorschläge eingesehen hat und sich entsprechend darauf beworben hat“.

Insgesamt sei daher dem Revisionswerber (zumindest) bedingter Vorsatz anzulasten. Folglich sei von einer Vereitelung der zugewiesenen zumutbaren Beschäftigung im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG auszugehen und der Ausschluss vom Leistungsbezug für sechs Wochen auszusprechen (gewesen). Nachsichtsgründe im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG seien nicht gegeben.

1.4. In der „rechtlichen Beurteilung“ wiederholte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen die bereits in der „Beweiswürdigung“ getätigten (oben zusammengefasst wiedergegebenen) Rechtsausführungen.

1.5. Von der Durchführung einer - vom Revisionswerber in der Beschwerde und im Vorlageantrag ausdrücklich beantragten - mündlichen Verhandlung sei abzusehen gewesen, zumal der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen sei und sich keine Notwendigkeit für eine weitergehende Erörterung mit dem Revisionswerber ergeben habe. Dem Absehen von der Verhandlung stünden auch Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Grundrechtecharta (GRC) nicht entgegen.

1.6. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

2. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

3.1. Der Revisionswerber macht als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG - unter anderem - geltend, das Verwaltungsgericht habe in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen.

3.2. Die Revision ist aus dem geltend gemachten Grund zulässig und berechtigt.

4.1. Rechtsfragen des Verfahrensrechts sind dann von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen bzw. wenn die in der angefochtenen Entscheidung getroffene Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt ist und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Ergebnis geführt hat (VwGH 27.3.2019, Ra 2018/08/0254).

Eine solche Rechtswidrigkeit ist dem Verwaltungsgericht hier unterlaufen, weil es die fallbezogen gebotene Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen hat.

4.2. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

Die Akten lassen dann im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann. Dies ist der Fall, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet wurde und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre. Ein bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalts kann außer Betracht bleiben (VwGH 26.6.2019, Ra 2019/08/0099).

Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 GRC stehen einem Entfall der Verhandlung nicht entgegen, wenn es ausschließlich um rechtliche oder sehr technische Fragen geht oder wenn das Vorbringen des Revisionswerbers angesichts der Beweislage und angesichts der Beschränktheit der zu entscheidenden Fragen nicht geeignet ist, irgendeine Tatsachen- oder Rechtsfrage aufzuwerfen, die eine mündliche Verhandlung erforderlich macht. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung kann auch in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden (VwGH 9.7.2019, Ra 2019/08/0101).

Hingegen gehört es gerade im Fall widersprechender relevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer - bei der Geltendmachung von „civil rights“, zu denen auch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zählen (VwGH 31.1.2019, Ra 2017/08/0015), in der Regel von Amts wegen durchzuführenden - mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (VwGH 29.1.2019, Ro 2018/08/0020; mwN).

4.3. Vorliegend ist insbesondere die Frage strittig, ob dem Revisionswerber sein Nichterscheinen zur Vorauswahl in Ansehung der betreffenden Stelle als qualifiziertes Verschulden in Form von (zumindest bedingtem) Vorsatz und damit als Vereitelung im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG angelastet werden kann (vgl. etwa VwGH 25.5.2005, 2004/08/0237). Die Beantwortung dieser Frage hängt fallbezogen entscheidend davon ab, ob dem Revisionswerber der auf sein eAMS-Konto zugewiesene gegenständliche Vermittlungsvorschlag zur Kenntnis gelangt ist und welche weiteren Veranlassungen er in Bezug darauf getroffen hat, um seine Teilnahme an der Vorauswahl sicherzustellen.

Die vom Revisionswerber dazu gemachten Angaben wurden im Lauf des Verfahrens wiederholt abgeändert und erschienen dem Verwaltungsgericht widersprüchlich und unzuverlässig (vgl. Punkt 1.3.). Das Verwaltungsgericht gelangte daher - mit zum Teil unklaren bzw. widersprüchlichen (bloß im Rahmen der Beweiswürdigung getätigten) Annahmen - zur Ansicht, dass der Darstellung des Revisionswerbers insgesamt kein Glauben geschenkt werden könne und daher vom Vorliegen eines bedingten Vorsatzes auszugehen sei. Eine derartige Würdigung durfte das Verwaltungsgericht jedoch - mit Blick auf die dargestellte Rechtsprechung (Punkt 4.2.) - nicht vornehmen, ohne sich zuvor im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers zu verschaffen.

Das Verwaltungsgericht hätte daher eine - vom Revisionswerber auch ausdrücklich beantragte - mündliche Verhandlung durchführen müssen, um durch unmittelbare Beweisaufnahme eine zuverlässige Klärung des relevanten Sachverhalts herbeizuführen, wobei eine solche auch durchaus zu erwarten bzw. jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen war. Indem das Verwaltungsgericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterließ, belastete es daher seine Entscheidung mit einem Verfahrensmangel. Auf die Relevanz eines Mangels, der - wie hier - in der Unterlassung der Durchführung einer nach Art. 6 EMRK gebotenen mündlichen Verhandlung liegt, kommt es nicht an (VwGH 17.11.2017, Ra 2017/08/0111).

5. Das angefochtene Erkenntnis war deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

6. Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. April 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2016080051.L00

Im RIS seit

05.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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