TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/7 Ra 2019/18/0364

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.05.2020
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von 1. MK, 2. AK und 3. DK, alle vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das am 4. Februar 2019 mündlich verkündete und am 23. Juli 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, 1. I409 1238552-0/64E, 2. I409 1403697-1/32E und 3. I409 1429450-1/46E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Die revisionswerbenden Parteien sind alle Staatsangehörige Nigerias. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der beiden minderjährigen Zweit- und Drittrevisionswerber.

2        Die damals minderjährige Erstrevisionswerberin stellte am 4. Oktober 2002 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 12. Juni 2003 wies das (damals zuständige) Bundesasylamt den Asylantrag ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria für zulässig. Dagegen erhob die Erstrevisionswerberin Berufung an den Unabhängigen Bundesasylsenat.

3        Für die Zweitrevisionswerberin und den Drittrevisionswerber wurden von ihrer gesetzlichen Vertreterin am 9. September 2008 bzw. am 23. August 2012 Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Mit Bescheiden vom 15. Dezember 2008 bzw. 29. August 2012 wies das Bundesasylamt diese Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten sowie der subsidiär Schutzberechtigten ab. Begründend wurde ausgeführt, dass der Antrag der Erstrevisionswerberin nach dem Asylgesetz 1997 (AsylG 1997) entschieden worden sei, wobei eine Ausweisungsentscheidung gesetzlich nicht vorgesehen war. Da somit keine Ausweisungsentscheidung bezüglich der Bezugsperson der Zweitrevisionswerberin und des Drittrevisionswerbers vorliege, würde eine Ausweisungsentscheidung eine Verletzung der durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen. Daher sei im Sinne der Wahrung der Familieneinheit die Unzulässigkeit der Ausweisung auszusprechen. Dagegen erhoben die Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerber Beschwerden an den Asylgerichtshof.

4        Mit dem nun angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer Verhandlung - die Beschwerden als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

5        Begründend führte das BVwG aus, dass das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin - wonach ihr Vater ihre Mutter getötet habe und er jetzt die Erstrevisionswerberin umbringen wolle - aufgrund widersprüchlicher Angaben nicht glaubhaft sei. Daher gehe das BVwG davon aus, dass die Familie der Erstrevisionswerberin weiterhin in Nigeria lebe und sie auch noch Kontakt zu dieser pflege. Aus dem Gutachten einer näher genannten Ärztin ergebe sich zwar, dass der Drittrevisionswerber an einer autistischen Entwicklungsstörung leide, aber aus der telefonischen Auskunft der Gutachterin während einer mündlichen Verhandlung ergebe sich, dass der Drittrevisionswerber aufgrund seiner Krankheit keiner Bedrohung oder Diskriminierung ausgesetzt sein werde, weil diese nicht für Laien erkennbar sei. Da § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 6. November 2018, Ra 2018/01/0106, unionsrechtskonform einschränkend auszulegen sei, sei für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erforderlich, dass der ernsthafte Schaden durch das Verhalten des Staates oder von Dritten (Akteuren) verursacht werde oder von einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt ausgehe. Eine solche Bedrohung könne im gegenständlichen Fall ausgeschlossen werden bzw. sei davon auszugehen, dass die Erstrevisionswerberin ihre Kinder vor einer solchen durch interne Relokation schützen könne. Weiters würden die revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht in eine ausweglose Situation geraten.

6        Gegen dieses Erkenntnis wendet sich vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit geltend gemacht wird, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz und das Parteiengehör verletzt worden seien, zudem habe das BVwG den revisionswerbenden Parteien keine angemessene Frist zur Stellungnahme zum eingeholten Gutachten vor der mündlichen Verkündung des Urteils eingeräumt. Durch dieses Vorgehen habe das BVwG die Rechte der revisionswerbenden Parteien gemäß Art. 47 Grundrechtecharta verletzt, weil sie der Gutachterin keine Fragen stellen hätten können. Weiters brachten die revisionswerbenden Parteien vor, das BVwG habe sie hinsichtlich einer innerstaatlichen Fluchtalternative weder auf ein konkretes Gebiet verwiesen noch sich mit den Fragen von dessen Erreichbarkeit auseinandergesetzt. Zudem würden Feststellungen dazu fehlen, wie schwer die Erkrankung des Drittrevisionswerbers sei und ob dieser eine spezielle Therapie bzw. Behandlung benötige, ob diese gegebenenfalls im als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet erhältlich sei und wie sich ein Unterbleiben einer Therapie auswirken würde. Darüber hinaus habe die Erstrevisionswerberin Nigeria bereits mit 17 Jahren verlassen, befinde sich seit nunmehr weiteren 17 Jahren in Österreich, sei alleinerziehende Mutter zweier Kinder, wobei der Drittrevisionswerber besonders intensive Betreuung benötige und sie über keine Berufsausbildung verfüge. Im Falle einer Rückkehr nach Nigeria würden die revisionswerbenden Parteien aufgrund ihrer besonderen individuellen Vulnerabilität in eine existenzbedrohende Notlage geraten. Schließlich brachten die revisionswerbenden Parteien vor, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, weil es die Abweisung der Beschwerde damit begründe, dass der zu befürchtende ernsthafte Schaden nicht von einem Akteur ausgehen würde und § 8 AsylG 2005 einschränkend auszulegen sei.

7        Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat sich - was die revisionswerbenden Parteien zu Recht ins Treffen führen - in seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, mit der Frage, ob in Bezug auf die in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 enthaltene Anordnung eine unionsrechtskonforme Lösung gefunden werden kann (und allenfalls das Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung in Erwägung zu ziehen wäre) beschäftigt. Auf die Begründung dieses Erkenntnisses wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen. Der Verwaltungsgerichtshof ist dort zum Ergebnis gelangt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der Statusrichtlinie in Übereinstimmung gebracht werden würde, die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer - unionsrechtlich nicht geforderten - Auslegung contra legem führen würde. Damit würde der Statusrichtlinie zu Unrecht eine ihr im gegebenen Zusammenhang nicht zukommende unmittelbare Wirkung zugeschrieben. Infolge dessen sei an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten (vgl. dazu auch VwGH 18.12.2019, Ro 2019/14/0008, mwN).

10       Sohin hat das BVwG, das davon ausging, das Unionsrecht gebiete es, § 8 AsylG 2005 in einer anderen Weise auszulegen, die Rechtslage verkannt.

11       Insoweit die Revision die Annahme der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative rügt, ist Folgendes festzuhalten:

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 21.2.2020, Ra 2020/18/0002, mwN).

12       Zu Recht monieren die revisionswerbenden Parteien dazu die vom BVwG unterlassene Festlegung des Gebiets der innerstaatlichen Fluchtalternative sowie die unterlassenen Feststellungen zur allfälligen Therapie des Drittrevisionswerbers bzw. zu den Behandlungsmöglichkeiten in Nigeria. Vor dem Hintergrund der hg. Rechtsprechung ist die Zumutbarkeit und die Erreichbarkeit des konkret als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Gebiets zu prüfen. Im gegenständlichen Fall ist dies aber schon mangels eines konkret bezeichneten als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Gebiets nicht erfolgt. Diesem Verfahrensmangel kann auch nicht von vornherein die Relevanz abgesprochen werden, weil die Revision zutreffend aufzeigt, dass die revisionswerbenden Parteien aufgrund der individuellen Lage der Erstrevisionswerberin - 17-jähriger Aufenthalt in Österreich, Minderjährigkeit bei Ausreise aus Nigeria, keine Berufsausbildung, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, wobei der Drittrevisionswerber aufgrund seiner Krankheit eine besonders intensive Betreuung benötige - in eine existenzielle Notlage geraten würden (vgl. zu den Anforderungen der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative unter Einbeziehung der spezifischen Vulnerabilität von Kindern VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0038, mwN).

13       Das BVwG wird somit im fortgesetzten Verfahren die entsprechenden Feststellungen zu den revisionswerbenden Parteien, zum Gesundheitszustand des Drittrevisionswerbers und dessen Behandlungsbedarf sowie dem Vorliegen dieser Behandlungsmöglichkeiten in Nigeria, zu den Umständen, die sie in Nigeria zu erwarten haben sowie zu ihrem Aufenthalt in Österreich zu treffen haben, wobei es auf dem Boden des § 17 VwGVG 2014 sowohl das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG als auch der Grundsatz der Einräumung von Parteiengehör iSd § 45 Abs. 3 AVG zu beachten haben wird (vgl. VwGH 27.2.2020, Ra 2019/22/0100, mwN).

14       Das angefochtene Erkenntnis war in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

15       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da die Revisionswerber ein Erkenntnis gemeinsam in einer Revision angefochten haben, ist der Aufwandersatz gemäß § 53 Abs. 1 VwGG so zu beurteilen, wie wenn die Revision nur von der in der Revision erstangeführten Revisionswerberin eingebracht worden wäre. Das dieser Bestimmung nicht Rechnung tragende Mehrbegehren war abzuweisen.

Wien, am 7. Mai 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180364.L00

Im RIS seit

17.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten