TE Vwgh Erkenntnis 2020/4/16 Ra 2019/21/0394

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Veröffentlicht am 16.04.2020
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Index

19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55 Abs2
BFA-VG 2014 §21 Abs1
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §46
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 22. Juli 2019 mündlich verkündete und mit 11. November 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W172 2217924-1/17E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S N in S, im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48/3), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis (Spruchpunkt A.II.) wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein am 1. August 2000 geborener afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 17. September 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 9. Mai 2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab. Hingegen erkannte das BFA dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu. Ihm wurde eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 9. Mai 2019 erteilt.

2 Mit Bescheid vom 21. März 2019 erkannte das BFA dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen wieder ab, entzog ihm die mit Bescheid vom 9. Mai 2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkte I. bis III.). Unter einem erließ das BFA eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG, stellte nach § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei, und bestimmte gemäß § 55 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkte IV. bis VI.). Schließlich erließ das BFA gegen den Mitbeteiligten gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG ein auf sechs Jahre befristetes Einreiseverbot.

3 Begründend berief sich das BFA (soweit im Revisionsverfahren von Bedeutung, insbesondere zum Einreiseverbot) darauf, dass über den Mitbeteiligten mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Steyr vom 5. März 2019 wegen des am 9. Jänner 2019 in Steyr begangenen Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung sowie des Vergehens der gefährlichen Drohung eine (bedingt nachgesehene) Freiheitsstrafe von acht Monaten verhängt worden sei. Der Mitbeteiligte habe zwei Schüler (im Alter von 14 und 15 Jahren) durch Schläge mit einem Brecheisen gegen ihre Köpfe schwer am Körper zu verletzen versucht, wodurch die Genannten jeweils eine Schädelprellung davongetragen hätten. Darüber hinaus habe er sie durch die sinngemäße Äußerung, er werde mit mehreren Leuten wieder zu ihnen kommen und Rache üben, gefährlich zumindest mit der Zufügung einer (weiteren) Körperverletzung bedroht.

Das BFA hielt dazu fest, dass der Attacke des Mitbeteiligten ein nichtiger Anlass, nämlich ein Streit am Vortag, vorausgegangen sei. Auch könne nicht davon gesprochen werden, dass er während des Streits mit den Genannten im Affekt zu dem Brecheisen gegriffen habe, vielmehr habe er sie bewusst und mit Vorsatz am Tag nach dem Streit attackiert. Dass der Mitbeteiligte bereits bei Nichtigkeiten zu äußerst aggressivem Verhalten neige, werde dadurch unterstrichen, dass er schon früher den Lattenrost seines Bettes aus seiner Unterkunft, die ihm im Rahmen der Grundversorgung zur Verfügung gestellt worden sei, aus dem Fenster geworfen habe, nachdem ihm seine Betreuerin auf Grund wiederholter Lärmbelästigung seine Musikanlage weggenommen habe. Das gesamte Vorgehen zeige, dass seine Hemmschwelle zur Gefährdung anderer Personen gering sei. Nach dem (zur Verhängung eines Waffenverbotes führenden) Vorfall vom 9. Jänner 2019 habe er bei seiner Einvernahme am 11. März 2019 weder Unrechtsbewusstsein noch Reue gezeigt, sondern versucht, die Schuld von sich zu weisen, indem er angegeben habe, aus Notwehr nach einer ihm gegenüber erfolgten Drohung gehandelt zu haben.

4 Die dagegen erhobene Beschwerde zog der Mitbeteiligte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 22. Juli 2019 in Bezug auf die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides des BFA vom 21. März 2019 wieder zurück. 5 Hinsichtlich des übrigen, aufrecht erhaltenen Teils der Beschwerde erkannte das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis, dass der Beschwerde stattgegeben und festgestellt werde, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei. Demzufolge erteilte es dem Mitbeteiligten gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 2 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von 12 Monaten (Spruchpunkt A.II.). Unter einem stellte das BVwG das Beschwerdeverfahren zu den Spruchpunkten I. bis III. des genannten BFA-Bescheides beschlussmäßig ein (Spruchpunkt A.I.) und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

6 Zur Integration des unverheirateten und kinderlosen Mitbeteiligten stellte das BVwG fest, dass er seit November 2018 mit seiner Verlobten, einer österreichischen Staatsbü rgerin, eine Lebensgemeinschaft führe. Angehörige in Österreich habe er nicht. Er weise Deutschkenntnisse auf Niveau A1 auf, habe Sozialkontakte erworben, zwei näher dargestellte Kurse besucht und sei vom 26. November bis 14. Dezember 2018 berufstätig gewesen. Auch sei er in einem Pflegeheim seiner Wohngemeinde ehrenamtlich tätig. Eine Vollzeitstelle habe er in Aussicht. Er lebe mit seiner Verlobten und ihrem minderjährigen Sohn (dessen Vater er nicht sei) an derselben Adresse, beteilige sich aktiv am Haushaltsleben und unterstütze seine Verlobte bei der Betreuung ihres Sohnes, mit dem er einen liebevollen und fürsorglichen Umgang pflege. Daneben bestünden (näher beschriebene) Kontakte zu ihren Angehörigen. Er zeige hinsichtlich der (vom BVwG lediglich nach dem Inhalt des Strafregisterauszuges sowie durch Anführung der Erschwerungs- und Milderungsgründe beschriebenen) Straftat (nach der dazu herangezogenen Aussage der Lebensgefährtin) Schuldeinsicht.

Das Familienleben mit seiner Verlobten und ihrem Sohn sei auch nicht nach einem "bereits rechtskräftig negativ abgeschlossenen Asylverfahren" oder unter Missachtung einer rechtskräftigen Ausweisungsentscheidung entstanden. Weiters erscheine die Dauer des Aufenthalts des Mitbeteiligten in Österreich "nicht mehr als ganz kurz", sondern betrage annähernd drei Jahre. Dazu komme, dass für die Verlobte des Mitbeteiligten eine Fortsetzung des Familienlebens in Afghanistan angesichts der einschlägigen Berichtslage und der (nicht hervorgehobenen) sozialen Stellung der Betroffenen nicht zumutbar sei. Diese Umstände im familiären und privaten Bereich, die für eine soziale Verfestigung und Integration des Mitbeteiligten in Österreich sprächen, überwögen in einer Gesamtabwägung den Aspekt der strafgerichtlichen Verurteilung. Auch angesichts des von der Lebensgefährtin "ausgestellten Schuldeingeständnisses und - bewusstseins bezüglich seiner Tat" sowie der dargestellten familiären und beruflichen Aspekte könne von einer positiven Zukunftsprognose ausgegangen werden. In Zusammenschau der im konkreten Einzelfall beim Mitbeteiligten vorliegenden Gegebenheiten überwögen seine Interessen auf dauerhaften Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens, zumal in Afghanistan keine Angehörigen des Mitbeteiligten lebten. Aus dieser Integration folgerte das BVwG weiter, der Mitbeteiligte erfülle die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005.

7 Gegen dieses Erkenntnis (Spruchpunkt A.II.) richtet sich die vorliegende Revision des BFA. Darüber hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Amtsrevision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG sowie der in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

8 Das BFA weist in seiner Revision zutreffend darauf hin, dass die im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG gebotene Beurteilung der strafbaren Handlungen des Mitbeteiligten und die daraus zu ziehende Gefährdungsprognose nach den Umständen des Falles vorzunehmen ist. Dabei ist nicht auf die bloße (vom BVwG allerdings ausschließlich festgestellte) Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Demnach hätte es einer näheren Befassung mit den (ein Verbrechen umfassenden) Straftaten des Mitbeteiligten und mit seinem Persönlichkeitsbild bedurft, wozu kommt, dass sich das BFA in seinem Bescheid auch auf früheres aggressives Verhalten des Mitbeteiligten berufen hatte.

Die sich weitgehend auf den Inhalt der Strafregisterauskunft beschränkenden Feststellungen des BVwG, das überdies auf die wiedergegebene Argumentation des BFA (laut Rn. 3) trotz Verpflichtung hierzu nicht eingeht (vgl. dazu VwGH 15.5.2019, Ra 2019/01/0012, Rn. 27), reichen somit für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose nicht aus (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, Rn. 19; VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0034, Rn. 13, und VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0273, Rn. 11, jeweils mwN).

9 Ebenso weist die Amtsrevision zutreffend darauf hin, dass die angenommene Schuldeinsicht nicht aufgrund einer (gebotenen) Befragung des Mitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung (sondern lediglich unter Verwertung der Aussage seiner Verlobten) getroffen wurde.

10 Insgesamt lässt sich daher nicht ohne weiteres - wie vom BVwG zugrunde gelegt - sagen, die "Umstände im familiären und privaten Bereich, die für eine soziale Verfestigung und Integration des (Mitbeteiligten) in Österreich sprechen, überwiegen in einer Gesamtabwägung den Aspekt der strafgerichtlichen Verurteilung". Die vom BVwG vorgenommene - in nicht vertretbarer Weise mangelhafte - Interessenabwägung kann somit keinen Bestand haben.

11 Das angefochtene Erkenntnis (Spruchpunkt A.II.) war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 16. April 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210394.L00

Im RIS seit

09.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

09.06.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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