TE Vfgh Erkenntnis 2020/2/25 V16/2019 ua

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Veröffentlicht am 25.02.2020
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Index

90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z1
StVO 1960 §43 Abs1, §44 Abs1
V der Tiroler Landesregierung vom 19.06.1997 betr ein Überholverbot zwischen Innsbruck und Zirl
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Feststellung der Gesetzwidrigkeit eines Überholverbots auf einer Bundesstraße zwischen Innsbruck und Zirl mangels ordnungsgemäßer Kundmachung infolge signifikanter Abweichung des Aufstellungsortes des Straßenverkehrszeichens vom räumlichen Geltungsbereich der Verordnung

Spruch

I. Die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, ZIIb2-2-2-3-3/2, mit der für die B171 Tiroler Straße bezirksüberschreitend zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl ein Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen erlassen wurde, war vom 8. Juli 1997 bis zum 13. Februar 2019 gesetzwidrig.

II. Die Tiroler Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit zwei auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Anträgen begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, jeweils die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, ZIIb2-2-2-3-3/2, mit der für die B171 Tiroler Straße bezirksüberschreitend zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl ein Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen erlassen wurde, als gesetzwidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

1. Die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, ZIIb2-2-2-3-3/2, lautet:

"Betreff: B171 Tiroler Straße;

Verordnung eines Überholverbotes von mehrspurigen Kraftfahrzeugen im Bereich zwischen den Gemeinden Innsbruck und Zirl

VERORDNUNG

Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19.6.1997, Zahl 2-2-3-3/2, mit der für die B171 Tiroler Straße bezirksüberschreitend zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl ein Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen erlassen wird.

Aufgrund des §43 Abs1 litb Ziffer 1 der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl Nr 159/1960, zuletzt geändert durch das Gesetz BGBl Nr 518/1994, wird verordnet:

§1

Die B171 Tiroler Straße wird bezirksüberschreitend zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl beginnend bei Strkm. 82,500 bis Strkm. 88,150 in beide Richtungen mit einem Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen, ausgenommen landwirtschaftliche Fahrzeuge, belegt.

§2

Diese Verordnung wird gemäß §44 Abs1 der Straßenverkehrsordnung 1960 durch Straßenverkehrszeichen kundgemacht und sie tritt mit dem Tag der Anbringung der entsprechenden Verkehrszeichen in Kraft.

Zur Kundmachung der Verordnung sind für den auf der B171 Tiroler Straße in westliche Richtung fahrenden Verkehr bei Strkm. 82,500 der B171 und für den in östliche Richtung fahrenden Verkehr bei Strkm. 88,150 der B171 die Verbotszeichen gemäß §52a Ziffer 4a StVO 1960 'Überholen verboten' mit den Zusatztafeln gemäß §54 Abs5 liti StVO 1960 'ausgenommen landwirtschaftliche Fahrzeuge' und gemäß §54 Abs5 litb StVO 1960 'gilt auf 5,65 km Länge' beidseitig der Straße aufzustellen.

An der Rückseite dieser Verbotszeichen sind die Verbotszeichen gemäß §52a Ziffer 4b StVO 1960 'Ende des Überholverbotes' anzubringen.

Eine Wiederholung des Überholverbotes hat für den auf der B171 Tiroler Straße in Richtung Innsbruck fahrenden Verkehr bei Strkm. 86,400, Strkm. 85,350, Strkm. 84,700, Strkm. 83,400, Strkm. 82,750 und für den auf der B171 Tiroler Straße in Richtung Zirl fahrenden Verkehr bei Strkm. 83,0, bei Strkm. 84,150, bei Strkm. 84,700 und bei Strkm. 85,350 zu erfolgen.

Für die Landesregierung:

[…]"

2. §§43 und 44 des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960), BGBl 159/1960, idF BGBl I 39/2013 lauten auszugsweise:

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

(a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. den Straßenbenützern ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben, insbesondere bestimmte Gruppen von der Benützung einer Straße oder eines Straßenteiles auszuschließen oder sie auf besonders bezeichnete Straßenteile zu verweisen

(1c)-(11) […]"

"§44. Kundmachung der Verordnungen.

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. Parteien im Sinne des §8 AVG ist die Einsicht in einen solchen Aktenvermerk und die Abschriftnahme zu gestatten. Als Straßenverkehrszeichen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen die Vorschriftszeichen sowie die Hinweiszeichen 'Autobahn', 'Ende der Autobahn', 'Autostraße', 'Ende der Autostraße', 'Einbahnstraße', 'Ortstafel', 'Ortsende', 'Internationaler Hauptverkehrsweg', 'Straße mit Vorrang', 'Straße ohne Vorrang', 'Straße für Omnibusse' und 'Fahrstreifen für Omnibusse' in Betracht. Als Bodenmarkierungen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen Markierungen, die ein Verbot oder Gebot bedeuten, wie etwa Sperrlinien, Haltelinien vor Kreuzungen, Richtungspfeile, Sperrflächen, Zickzacklinien, Schutzwegmarkierungen oder Radfahrerüberfahrtmarkierungen in Betracht.

(1a) – (5) […]"

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag zu V16/2019 liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Beim Landesverwaltungsgericht Tirol ist ein Verfahren über eine Beschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 28. November 2018 anhängig, mit dem die Beschwerdeführerin wegen einer Übertretung gemäß §16 Abs2 lita StVO 1960 iVm §99 Abs3 lita StVO 1960 bestraft wurde. Sie habe als Lenkerin eines näher bezeichneten Motorrades am 1. Mai 2018 um 13.22 Uhr im Gemeindegebiet von Zirl auf der B171 Tiroler Straße bei Straßenkilometer 87,420 in Fahrtrichtung Westen/Zirl ein mehrspuriges Kraftfahrzeug auf einer Straßenstrecke, die durch das Vorschriftszeichen "Überholen verboten" mit der Zusatztafel "ausgenommen landwirtschaftliche Fahrzeuge" gekennzeichnet gewesen sei, überholt. Über die Beschwerdeführerin wurde eine Geldstrafe in der Höhe von € 80,– (Ersatzfreiheitsstrafe 37 Stunden) verhängt.

2. Das Landesverwaltungsgericht Tirol legt seine Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof veranlasst haben, auszugsweise wie folgt dar:

"Die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, IIb2-2-2-3-3/2, wurde am 8. Juli 1997 durch Aufstellung der entsprechenden Vorschriftszeichen kundgemacht (vgl Stellungnahme in OZ5). Dadurch erlangte die Verordnung ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist (vgl VfGH 26.11.2018, V53-54/2018). Das Landesverwaltungsgericht Tirol hat die in Rede stehende Verordnung daher trotz seiner Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit des mit der Verordnung verordneten Überholverbotes wegen Kundmachung in gesetzwidriger Weise unmittelbar anzuwenden (vgl VfSlg 20.182/2017).

Dem Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol liegt ein Straferkenntnis der belangten Behörde zugrunde, in dem die Beschwerdeführerin schuldig erkannt wurde, gegen das Überholverbot gemäß der Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, IIb2-2-2-3-3/2, verstoßen zu haben.

Die Aufhebung der Verordnung durch den Verfassungsgerichtshof hätte zur Folge, dass die Verordnung im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol nicht (mehr) anzuwenden wäre. Die Beschwerdeführerin hätte die ihr zur Last gelegte Tat nicht begangen, sodass ihrer Beschwerde Folge zu geben, das Straferkenntnis der belangten Behörde zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß §45 Abs1 Z2 VStG einzustellen wäre.

[…]

Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 sind die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft (vgl VfSlg 18.710/2009, 19.409/2011, 19.410/2011).

Der Vorschrift des §44 Abs1 StVO 1960 ist immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort anzubringen sind, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginnt und endet. Zwar ist zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen keine 'zentimetergenaue' Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich (vgl dazu VwGH 13.2.1985, 85/18/0024; 25.1.2002, 99/02/0014; 10.10.2014, 2013/02/0276), jedoch wird dieser Vorschrift nicht Genüge getan und liegt ein Kundmachungsfehler vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Geschwindigkeitsbeschränkung signifikant abweicht (vgl VfSlg 15.749/2000 sowie VfGH 14.3.2018, V114/2017, mwN).

Eine Kundmachung, die nicht an allen Örtlichkeiten dem Gesetz entspricht, ist mangelhaft. Eine auf diese Weise kundgemachte Verordnung ist zwar existent, jedoch bis zur Behebung des Mangels mit Gesetzwidrigkeit behaftet (vgl VfSlg 5824/1968, 6346/1970).

Die Verwaltungsbehörde, die die Verordnung erlassen hat, hat im Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol mitgeteilt, dass das Vorschriftszeichen 'Überholen verboten' samt Zusatztafel bei Straßenkilometer 82,554 und das Vorschriftszeichen 'Ende des Überholverbotes' bei Straßenkilometer 88,153 aufgestellt wurde (vgl Stellungnahme in OZ5).

Das Vorschriftszeichen 'Überholen verboten' samt Zusatztafel ist daher nicht - wie in der Verordnung verfügt - bei Straßenkilometer 82,500 angebracht. Auch das Vorschriftszeichen 'Ende des Überholverbotes' ist nicht - wie in der Verordnung verfügt - bei Straßenkilometer 88,150 angebracht.

Der Aufstellungsort des Vorschriftszeichens 'Überholen verboten' samt Zusatztafel weicht 54 m von jenem Ort, der in der Verordnung als Beginn des Überholverbotes normiert wurde, ab. Das Vorschriftszeichen 'Ende des Überholverbotes' wurde 3 m abweichend von dem durch die Verordnung als Ende des Überholverbotes festgelegten Standort aufgestellt.

Eine Abweichung von 54 m stellt eine signifikante Abweichung dar (vgl VfGH 26.11.2018, V53-54/2018, mwN).

Die Nichtübereinstimmung des verordnungsmäßig festgelegten Beginnes des Überholverbotes mit dem tatsächlich kundgemachten Ort führt zu einer nicht gesetzmäßigen Kundmachung im Sinne des §44 Abs1 StVO 1960 und damit zur Rechtswidrigkeit der Verordnung.

[…]"

3. Die Tiroler Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie auszugsweise wiedergegeben Folgendes vorbringt:

"Nach Überprüfung vor Ort bestätigt die Tiroler Landesregierung, dass die Verkehrszeichen 'Überholen verboten gem. §52 lita Zi. 4a StVO 1960 mit der Zusatztafel nach §54 StVO 1960 ausgenommen landwirtschaftliche Fahrzeuge' auf der B171 Tiroler Straße entgegen §2 Abs2 der Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, GZ: IIb2-2-2-3-3/2, nicht bei Km 82,500 sondern bei km 82,554 angebracht wurden und sich daher mehr als 5m von der in der Verordnung definierten Kilometerangabe entfernt befindet.

Die Tiroler Landesregierung hat daher die zuständige Straßenmeisterei Zirl beauftragt, diesen Missstand zu bereinigen.

Laut Aktenvermerk der Straßenmeisterei Zirl wurde der Kundmachungsmangel am 13.02.2019 um 11.00 Uhr behoben.

Die Tiroler Landesregierung beantragt daher die Abweisung des Antrages des Landesverwaltungsgerichtes Tirol.

[…]"

4. Die Beschwerdeführerin vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol hat eine Äußerung erstattet, in der sie beantragt, der Verfassungsgerichtshof möge die bekämpfte Verordnung als gesetzwidrig aufheben und das Verwaltungsstrafverfahren einstellen, in eventu aussprechen, dass sie durch die gesetzwidrig kundgemachte Verordnung in ihren Rechten verletzt worden sei sowie dem Rechtsträger der belangten Behörde den Ersatz der regelmäßig anfallenden Kosten auferlegen.

5. Dem zu V66/2019 protokollierten Verfahren liegt ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde. Das Landesverwaltungsgericht Tirol legt seine Bedenken wie im Verfahren V16/2019 dar. Auch die Äußerungen der Tiroler Landesregierung und des Beschwerdeführers vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol sind (im Wesentlichen) ident mit jenen in dem zur Zahl V16/2019 protokollierten Verfahren.

6. Der Verfassungsgerichtshof hat die Anträge gemäß §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit

1.1.  Der Verfassungsgerichtshof vertritt in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung zu Art89 Abs1 B-VG seit dem Erkenntnis VfSlg 20.182/2017 die Auffassung, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (vgl zB VfSlg 12.382/1990, 16.875/2003, 19.058/2010, 19.072/2010, 19.230/2010 uva.; vgl auch VfGH 18.9.2015, V96/2015, sowie die Rechtsprechung zu nicht ordnungsgemäß kundgemachten Gesetzen VfSlg 16.152/2001, 16.848/2003 und die darin zitierte Vorjudikatur). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B-VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich.

Die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, ZIIb2-2-2-3-3/2, wurde laut Aktenvermerk am 8. Juli 1997 durch die Aufstellung der entsprechenden Straßenverkehrszeichen kundgemacht.

Dadurch erlangte die angefochtene Verordnung ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist (vgl VfSlg 19.072/2010, 19.230/2010 uva.; vgl auch VfGH 18.9.2015, V96/2015).

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Den Beschwerdeführern vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol wird zur Last gelegt, das mit der Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, ZIIb2-2-2-3-3/2, für die B171 Tiroler Straße bezirksüberschreitend zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl verfügte Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen in Fahrtrichtung West übertreten zu haben. Daher bestehen keine Zweifel an der Präjudizialität der Verordnung der Tiroler Landesregierung.

Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, erweisen sich die Anträge des Landesverwaltungsgerichtes Tirol als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Die Anträge sind begründet.

Das antragstellende Gericht behauptet die gesetzwidrige Kundmachung der Verordnung. Die Verordnung der Tiroler Landesregierung verfüge ein Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen für die B171 Tiroler Straße zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl zwischen Straßenkilometer 82,500 und 88,150. Die Aufstellung sei bei Straßenkilometer 82,554 bzw 88,153 erfolgt. Daraus würde sich eine Abweichung von 54 bzw 3 Metern ergeben. Eine Abweichung von 54 Metern stelle eine signifikante Abweichung dar, und es liege daher eine gesetzwidrige Kundmachung vor.

Damit ist das antragstellende Gericht im Recht.

Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 sind die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft (vgl VfSlg 18.710/2009, 19.409/2011, 19.410/2011).

Der Vorschrift des §44 Abs1 StVO 1960 ist immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort angebracht sind, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginnt und endet. Zwar ist zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen keine "zentimetergenaue" Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich (vgl dazu VwGH 13.2.1985, 85/18/0024; 25.1.2002, 99/02/0014; 10.10.2014, 2013/02/0276), jedoch wird dieser Vorschrift nicht Genüge getan und liegt ein Kundmachungsmangel vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Geschwindigkeitsbeschränkung signifikant abweicht (vgl VfSlg 15.749/2000 sowie VfGH 14.3.2018, V114/2018 mwN).

Eine Kundmachung, die nicht an allen Örtlichkeiten dem Gesetz entspricht, ist mangelhaft. Eine auf diese Weise kundgemachte Verordnung ist zwar existent, jedoch bis zur Behebung des Mangels mit Gesetzwidrigkeit behaftet (vgl VfSlg 5824/1968, 6346/1970).

Aus dem Inhalt der dem Verfassungsgerichtshof vorgelegten Akten konnte festgestellt werden, dass in Fahrtrichtung Westen das Vorschriftszeichen "Überholen verboten" bei Strkm. 82,554 angebracht ist. Das ergibt sich aus einer im vorgelegten Verordnungsakt dokumentierten Messung, die im Auftrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol durchgeführt wurde. Darüber hinaus bestätigt auch die Tiroler Landesregierung in ihren dem Verfassungsgerichtshof vorgelegten Äußerungen den Aufstellungsort des Vorschriftszeichens "Überholen verboten".

Da im Verfahren auch sonst keine diesen Angaben widersprechende Vorbringen erstattet wurden, besteht für den Verfassungsgerichtshof kein Zweifel an der Aufstellung des Vorschriftszeichens an dem oben genannten Ort.

Das Vorschriftszeichen "Überholen verboten" ist daher nicht – wie in der Verordnung verfügt – bei Strkm. 82,500, sondern bei Strkm. 82,554 angebracht worden. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes stellt diese Abweichung um 54 Meter eine signifikante Abweichung dar (vgl VfGH 14.3.2018, V114/2017 mwN).

Die Tiroler Landesregierung hat – ausweislich ihrer Äußerung – die Versetzung des abweichend aufgestellten Verkehrszeichens von Strkm. 82,554 auf Strkm. 82,500 verfügt; diese wurde am 13. Februar 2019 durchgeführt. Die bekämpfte Verordnung war somit bis zum 13. Februar 2019 nicht ordnungsgemäß kundgemacht. Daher hat der Verfassungsgerichtshof festzustellen, dass die angefochtene Verordnung bis zum 13. Februar 2019 gesetzwidrig war.

V. Ergebnis

1. Die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 19. Juni 1997, ZIIb2-2-2-3-3/2, mit der für die B171 Tiroler Straße bezirksüberschreitend zwischen der Stadtgemeinde Innsbruck und der Gemeinde Zirl ein Überholverbot von mehrspurigen Kraftfahrzeugen erlassen wurde, war bis zum 13. Februar 2019 gesetzwidrig

2. Die Verpflichtung der Tiroler Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung des Ausspruchs des Verfassungsgerichtshofes erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §2 Abs1 litj Tiroler LandesVerlautbarungsG 2013.

3. Für Normenprüfungsverfahren, die auf Antrag eines Gerichtes eingeleitet worden sind, sieht das VfGG einen Aufwandersatz nicht vor. Es obliegt daher dem antragstellenden Gericht, nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften über einen allfälligen Kostenersatzanspruch der Parteien des Ausgangsrechtsstreits zu befinden (zB VfSlg 19.019/2010 mwH).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Straßenpolizei, Verordnung Kundmachung, Überholen, Straßenverkehrszeichen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:V16.2019

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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