TE Vfgh Erkenntnis 1996/9/24 B1917/95

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Veröffentlicht am 24.09.1996
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen für eine jugoslawische Familie mit langjährigem Aufenthalt im Inland und im Inland geborenen, österreichische höhere Schulen besuchenden Kindern; verfassungswidrige Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus aufgrund der bereits abgelaufenen Sichtvermerke; analoge Vorgangsweise zur Fallgruppe der Verlängerungsanträge verfassungsrechtlich geboten

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit 18.000,-- S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin war Staatsangehörige der ehemaligen Republik Jugoslawien und lebt seit 1978 - mit einigen Unterbrechungen - und seit 1989 ununterbrochen in Österreich. Die Beschwerdeführerin ist seit 4. Jänner 1990 mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet und lebt mit diesem und ihren beiden Kindern aus erster Ehe im gemeinsamen Haushalt. Sie verfügte zuletzt über einen Sichtvermerk, ausgestellt von der Bundespolizeidirektion Wien, gültig bis 18. Juni 1993. Am 31. Jänner 1994 stellte sie auf dem Postweg aus Österreich bei der Österreichischen Botschaft in Belgrad einen Antrag auf Erteilung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz.

2. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 4. Mai 1995 wies der Bundesminister für Inneres den Antrag gemäß §6 Abs2 des Aufenthaltsgesetzes, BGBl. 466/1992 idF 505/1994, ab. Die belangte Behörde begründete die Abweisung folgendermaßen:

"Sie haben nach der auf Ihren eigenen Angaben beruhenden Aktenlage den Antrag nicht vor der Einreise, mit der Ihr derzeitiger Aufenthalt begonnen hat, gestellt. Sie haben, wie Sie selber in Ihrer Berufung ausführten, Ihren Antrag von Österreich aus nach Belgrad postalisch übermittelt. Damit liegt eine rechtmäßige Antragstellung gemäß §6 Abs2 AufG nicht vor. Überdies halten Sie sich gemäß §15 FrG im Bundesgebiet auf.

Aus diesem Grund und infolge der Verfahrensvorschrift des §6 Abs2 des Aufenthaltsgesetzes ist die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und war auf Ihr Vorbringen - auch im Zusammenhang mit Ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen."

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

4. Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ohne auf das Beschwerdevorbringen einzugehen - die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1.1. Der angefochtene, die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach dem AufG versagende Bescheid greift in das der Beschwerdeführerin durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein, da die Beschwerdeführerin seit 1978 - mit einigen Unterbrechungen - und seit 1989 ununterbrochen in Österreich lebt, mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet ist und mit diesem und mit ihren beiden Kindern aus erster Ehe im gemeinsamen Haushalt lebt.

1.2. Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 16. Juni 1995, B 1611-1614/94, dargelegt hat, ist in den - vom Regelungssystem des §6 Abs2 AufG nicht erfaßten - Fällen im Wege der Analogie entweder die Regelung des §6 Abs2 erster Satz AufG, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus zu stellen sind, oder aber §6 Abs2 zweiter Satz AufG, wonach solche Anträge auch vom Inland gestellt werden können, anzuwenden. Er hielt in den Fällen, in denen die Antragsteller sich seit vielen Jahren rechtmäßig aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung in Österreich aufgehalten haben und die Frist zur Antragstellung relativ geringfügig überschritten haben, eine analoge Anwendung der Regelung des zweiten Satzes in §6 Abs2 AufG, der die Fallgruppe der Verlängerungsanträge betrifft, für geboten.

3. Die belangte Behörde hat im Fall der Beschwerdeführerin die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung nur wegen einer im Verhältnis zur bisherigen Dauer des Aufenthaltes in Österreich relativ kurzen Versäumung der Frist für die Antragstellung auf deren neuerliche Erteilung - ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin einzugehen - mit der Begründung versagt, der Antrag hätte vom Ausland gestellt werden müssen. Sie hat damit dem §6 Abs2 AufG einen verfassungswidrigen, weil gegen Art8 Abs1 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.000,-- S enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B1917.1995

Dokumentnummer

JFT_10039076_95B01917_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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