TE Vfgh Erkenntnis 2019/11/28 E707/2019

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Veröffentlicht am 28.11.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art8 Abs2
AsylG 2005 §10
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen; unzureichende Interessensabwägung mit dem Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seinem dreijährigen Kind

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 14. September 2011 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer brachte vor, zwar in Afghanistan geboren und zunächst aufgewachsen zu sein, in der Folge habe er aber lange Zeit in Pakistan gelebt. Er sei nach Afghanistan zurückgekehrt und habe das Haus seiner Familie wiedererlangen wollen; dabei sei er angegriffen und bedroht worden. Aus diesem Grund habe er Afghanistan wieder verlassen und sei nach Europa gereist.

2.       Mit Bescheid vom 19. September 2011 wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ab. Der Asylgerichtshof wies die hiegegen erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 18. März 2013 ab. Dieses Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.

3.       Am 17. März 2017 stellte der Beschwerdeführer einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz. Hiebei gab er an, es habe sich an den im ersten Verfahren angegebenen Fluchtgründen nichts geändert; mittlerweile habe aber ein Großteil seiner Familie Afghanistan wegen des Konfliktes um das Haus verlassen. Der Beschwerdeführer gab außerdem an, er habe nun in Österreich geheiratet und mit seiner Ehefrau ein Kind bekommen. Seine Ehefrau wolle sich – so die Angabe des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – wieder von ihm scheiden lassen.

4.  Mit Bescheid vom 20. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel und sprach eine Rückkehrentscheidung sowie die Zulässigkeit der Abschiebung unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise aus. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 11. Februar 2019 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 4. Dezember 2018 als unbegründet ab. Zur Begründung führt das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die hier wesentlichen Fragen wie folgt aus:

4.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung legt das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die hier wesentlichen Aspekte dar, der Beschwerdeführer sei in Österreich seit September 2015 mit einer afghanischen Staatsangehörigen, welcher der Status der Asylberechtigten zukomme, verheiratet gewesen und sei seit November 2016 wieder geschieden. Er habe gemeinsam mit dieser Ex-Ehefrau eine minderjährige Tochter im Alter von etwas mehr als zweieinhalb Jahren (geboren am 28. Juni 2016). Nach der Trennung und noch vor der Scheidung von seiner nunmehrigen Ex-Ehefrau sei dem Beschwerdeführer mittels einstweiliger Verfügung vorübergehend die Rückkehr in die Wohnung seiner damaligen Ehefrau und in die Wohnung der Eltern seiner damaligen Ehefrau verboten worden. Der Beschwerdeführer verfüge aktuell über kein Obsorgerecht hinsichtlich seiner minderjährigen Tochter und dürfe diese alle zwei Wochen unter Aufsicht für eine Stunde sehen, was ua auf Grund der Unterlassung der Kontaktaufnahme durch seine Ex-Schwiegermutter zuletzt schwierig gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe mehrere Male Windeln und Babynahrung für seine minderjährige Tochter besorgt, die er seiner Ex-Schwiegermutter übergeben habe. Weiters habe der Beschwerdeführer in Österreich einen Onkel, eine Tante, zwei Cousinen und drei Cousins, mit denen er ein enges Verhältnis pflege. Der Beschwerdeführer habe in der Vergangenheit für etwa dreieinhalb Jahre bei diesen Familienangehörigen gewohnt, aktuell stehe er mit diesen in Kontakt und besuche diese regelmäßig. Sie unterstützten ihn, indem sie ihm zum Beispiel Kleidung oder Zigaretten kauften. Der Beschwerdeführer sei in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

4.2. Im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung erwägt das Bundesverwaltungsgericht, zwischen dem Beschwerdeführer und seiner minderjährigen Tochter bestehe ipso iure ein Familienleben im Sinne des Art8 EMRK. Vor dem Hintergrund der höchstgerichtlichen Judikatur werde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes auch nicht verkannt, dass dem Kindeswohl im Rahmen einer Interessenabwägung nach Art8 EMRK ein besonderes Gewicht zukomme. Das Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich auf Grund des bestehenden Familienlebens zu seiner minderjährigen Tochter sei nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedoch erheblich gemindert, weil der Beschwerdeführer seine erst etwas über zweieinhalb Jahre alte Tochter – auf Grund einer ihm gegenüber erlassenen einstweiligen Verfügung – schon wenige Monate nach ihrer Geburt zunächst gar nicht mehr habe treffen können und er diese auch in weiterer Folge im Rahmen einer bestimmten Regelung nur alle zwei Wochen für jeweils eine Stunde unter Aufsicht habe treffen dürfen, was bis zur Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht insgesamt acht Mal erfolgt sei. Auch unter Berücksichtigung des Bemühens des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Tochter (Bereitstellen von Windeln und Babynahrung; Erwirkung von gerichtlichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des – durch seine Ex-Schwiegermutter erschwerten – Kontaktes zu seiner Tochter) sei für das Bundesverwaltungsgericht nicht ersichtlich, dass die zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter geführte Beziehung derart ausgeprägt wäre, um eine durch die Rückkehrentscheidung erfolgende Verletzung des Rechtes auf ein Familienleben im Sinne des Art8 EMRK anzunehmen.

4.3. Auch aus dem Blickwinkel der minderjährigen Tochter des Beschwerdeführers sei auf Grund der genannten Umstände nicht ersichtlich, inwieweit sie durch eine den Beschwerdeführer treffende Rückkehrentscheidung in ihrem Kindeswohl maßgeblich beeinträchtigt wäre. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass die Heirat des Beschwerdeführers sowie die Geburt seiner Tochter zu einem Zeitpunkt erfolgt seien, in dem sein Verfahren im ersten Verfahrensgang bereits rechtskräftig abgeschlossen gewesen sei, weshalb der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt nicht von einem dauerhaften Aufenthalt in Österreich habe ausgehen dürfen; die Begründung des Familienlebens des Beschwerdeführers in Österreich sei daher nur möglich, weil er die ihm gegenüber ergangene asylrechtliche und fremdenpolizeiliche Entscheidung missachtet habe, seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei und einen neuerlichen (zweiten) Antrag gestellt habe. Es werde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes auch nicht verkannt, dass sich der Beschwerdeführer bereits seit mehr als sieben Jahren in Österreich befinde und in Kontakt mit seiner minderjährigen Tochter stehe.

5.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

5.1.    Der Beschwerdeführer fürchte, auf Grund seines langjährigen Aufenthaltes in Pakistan und in Europa Diskriminierungen und asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein.

5.2.    Im September 2015 habe der Beschwerdeführer in Wien seine Ex-Ehefrau geheiratet, welche er über die in Österreich lebende Familie seines Onkels väterlicherseits kennengelernt hätte. Mit dieser habe er die gemeinsame eheliche dreijährige Tochter, welche am 28. Juni 2016 zur Welt gekommen sei. Die Ehe der beiden Eltern sei mittlerweile wieder geschieden und die Obsorge hinsichtlich der Tochter seit 16. Oktober 2017 auf die Großmutter mütterlicherseits übertragen. Entgegen den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes sei das Kind auch zum Entscheidungszeitpunkt bereits in der Obhut der Großmutter gewesen und nicht, wie das Bundesverwaltungsgericht ausführe, in jener der Ex-Ehefrau des Beschwerdeführers. Dies belege der am 8. Jänner 2019 vom Beschwerdeführer zusammen mit der Stellungnahme zu den Länderberichten und nun vom Verfahrenshelfer in Kopie vorgelegte Beschluss des zuständigen Bezirksgerichtes. Der Beschwerdeführer sehe seine Tochter für kurze Zeiträume unter Aufsicht.

5.3.    Das Bundesverwaltungsgericht habe sich bei der Interessenabwägung nicht ausreichend mit dem Wohl der minderjährigen Tochter des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Dies ergebe sich zunächst schon einmal daraus, dass es sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes offenbar nicht ausreichend mit der gebotenen Aufmerksamkeit den familiären Umständen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Situation der minderjährigen Tochter gewidmet habe. Bei zutreffender Feststellung des Sachverhaltes hätte das Bundesverwaltungsgericht – so die Ausführungen in der Beschwerde – bei der Würdigung des Bemühens des Beschwerdeführers hinsichtlich der Aufrechterhaltung eines Kontaktes zu seiner Tochter berücksichtigen müssen, dass es sich bei der "Ex-Schwiegermutter" nicht bloß um irgendeine Bezugsperson handle, welche etwa auf die vermeintlich obsorgeberechtigte Kindesmutter Einfluss nehme und so den Kontakt des Vater zu seinem Kinde "erschwere", sondern dass dieser als der alleine Obsorgeberechtigten ein maßgeblicher Einfluss auf die Ausübung dieses Kontaktes zukomme. Vor diesem Hintergrund könne dem Beschwerdeführer daher umso weniger eine noch nicht so stark ausgeprägte Beziehung zu seiner minderjährigen Tochter angelastet werden. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass sich das Bundesverwaltungsgericht zu der verkannten zentralen Rolle der Großmutter hinsichtlich der Vater-Kind-Beziehung nur mit einer in Klammer gehaltenen knappen Ausführung in seiner Entscheidungsbegründung geäußert habe.

5.4.    Das Bundesverwaltungsgericht übersehe zudem die essentielle Bedeutung des Kontaktes der Minderjährigen zum Beschwerdeführer für das Kindeswohl. Bei entsprechender Würdigung des Inhaltes der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Schriftstücke hätte dieses bei seiner Interessenabwägung nicht außer Acht lassen dürfen, dass eine den Beschwerdeführer treffende Rückkehrentscheidung die minderjährige Tochter in deren Kindeswohl maßgeblich beeinträchtigen werde. Daraus ergebe sich, dass es für das Kindeswohl der Minderjährigen essentiell sei, dass alsbald regelmäßige Kontakte zum Vater stattfänden. Aus den Akten gehe auch hervor, dass der Beschwerdeführer sich an der Tochter interessiert gezeigt habe.

5.5.    Auch die theoretische Möglichkeit, der Beschwerdeführer könne bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückkehren, vermöge vor dem Hintergrund des Verweises auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan nicht jene durch die – den Vater betreffende – Rückkehrentscheidung erhebliche Beeinträchtigung des Kindeswohles zu kompensieren. Die gegenständliche Situation des Beschwerdeführers sei nämlich nicht im Ansatz mit jener – im vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Fall (VfSlg 19.086/2010) herrschenden – Situation zu vergleichen, in welcher es lediglich um eine Abschiebung in den deutlich näher gelegenen und auch besser zu erreichenden Kosovo gegangen sei. Vor dem Hintergrund der Länderberichte zu Afghanistan sei es auch nicht nachvollziehbar, wie es dem Beschwerdeführer gelingen solle, die finanzielle Basis für zumindest gelegentliche Besuche der Tochter im Bundesgebiet zu schaffen. Eine durch die Rückkehrentscheidung veranlasste Trennung unter diesen Umständen würde den Kontakt des Beschwerdeführers zu seiner Tochter de facto auf Telekommunikation und elektronische Medien beschränken. Es sei somit auf die Beziehung und den persönlichen Kontakt zwischen Vater und Kind nicht ausreichend Bedacht genommen worden. Wesentliche, das Kindeswohl betreffende Faktoren seien unberücksichtigt gelassen worden und somit sei das Gesetz in denkunmöglicher Weise angewendet worden. Vor dem Hintergrund, dass das für die Regelung des Kontaktrechtes zuständige Gericht regelmäßige Kontakte des Vaters zur minderjährigen Tochter als essentiell für deren Wohl bewertet habe, sei die Beeinträchtigung des Kindeswohles durch die erlassene Rückkehrentscheidung evident.

5.6.    Da der Umstand, dass Kontakt zum Vater essentiell für das Kindeswohl sei, aus den Akten erkennbar gewesen sei, das Bundesverwaltungsgericht diesen dennoch außer Acht gelassen habe, sei es vom Inhalt der Akten abgegangen und habe willkürlich entschieden. Das Bundesverwaltungsgericht gehe auch von unrichtigen Tatsachen aus, wenn es an einer Stelle der Entscheidung annehme, das Kind befinde sich – zum Entscheidungszeitpunkt – in der Obhut der Kindesmutter. Die Tochter habe sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Obhut der Großmutter befunden. Die Umstände der Obsorge der Großmutter und der Verhinderung der Kontaktaufnahme zwischen Vater und Kind durch diese gingen eindeutig aus dem dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Beschluss des Bezirksgerichtes vom 26. Juni 2018 und dem vorgelegten Protokoll des Amtstages des zuständigen Bezirksgerichtes vom 12. Juni 2018 hervor, deren Vorlage vom Bundesverwaltungsgericht auch bestätigt worden sei und woraus es – neben anderen Unterlagen – angeblich die Feststellungen zur familiären Situation des Beschwerdeführers ableiten wolle. Tatsächlich aber habe das Bundesverwaltungsgericht, indem es die Kindesmutter als angeblich Obsorgeberechtigte verkannt habe und dabei die Rolle der alleine obsorgeberechtigten Großmutter heruntergespielt habe, den konkreten Sachverhalt außer Acht gelassen, weshalb es denkunmöglich sei, dass es jene Schlüsse habe ziehen können, die für die Subsumierung des Sachverhaltes unter die anzuwendenden Normen notwendig seien. Damit habe das Bundesverwaltungsgericht nach Auffassung des Beschwerdeführers Willkür in der Form geübt, dass es leichtfertig vom Inhalt der Akten unter Außerachtlassung des konkreten Sachverhaltes abgegangen sei und dadurch gravierende Verfahrensfehler begangen habe.

6.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise, richtet, begründet.

2.       Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.       Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

3.1.    Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu VfGH 24.9.2018, E1416/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009).

3.2.    Dabei sind insbesondere die Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Familienleben zwischen Eltern und Kindern in der Abwägung zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12.963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

3.3.    Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 9.6.2016, E2617/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 14.3.2018, E3964/2017; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018; 11.6.2018, E435/2018). Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, es sei lebensfremd anzunehmen, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne (vgl dazu VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018).

3.4.    Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend:

3.5.    Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen aus, dass der Beschwerdeführer eine am 28. Juni 2016 geborene Tochter in Österreich habe. Von der Mutter des Kindes sei er zum Entscheidungszeitpunkt bereits geschieden gewesen. Nach der Trennung und noch vor der Scheidung von seiner nunmehrigen Ex-Ehefrau sei dem Beschwerdeführer mittels einstweiliger Verfügung vorübergehend die Rückkehr in die Wohnung seiner damaligen Ehefrau und in die Wohnung der Eltern seiner damaligen Ehefrau verboten worden. Er verfüge aktuell über kein Obsorgerecht hinsichtlich der Tochter und dürfe diese alle zwei Wochen unter Aufsicht für eine Stunde sehen, was unter anderem auf Grund der Unterlassung der Kontaktaufnahme durch seine Ex-Schwiegermutter zuletzt schwierig gewesen sei. Er habe mehrere Male Windeln und Babynahrung besorgt und diese der Ex-Schwiegermutter übergeben. Im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung führt das Bundesverwaltungsgericht weiters aus, der Beschwerdeführer sehe seine Tochter in regelmäßigen Abständen für kurze Zeiträume unter Aufsicht.

3.6.    Aus diesen Umständen schließt das Bundesverwaltungsgericht zunächst zutreffend, dass zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Kind ipso iure ein Familienleben im Sinne des Art8 EMRK bestehe und es wird außerdem ausgeführt, dem Kindeswohl komme im Rahmen der Interessenabwägung nach Art8 EMRK ein besonderes Gewicht zu.

3.7.    Wenn das Bundesverwaltungsgericht dann aber davon ausgeht, das Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich auf Grund des bestehenden Familienlebens zu seiner minderjährigen Tochter sei erheblich gemindert, weil der Beschwerdeführer seine erst etwas über zweieinhalb Jahre alte Tochter – auf Grund einer ihm gegenüber erlassenen einstweiligen Verfügung – schon wenige Monate nach ihrer Geburt zunächst gar nicht mehr habe treffen können und er diese auch in weiterer Folge nur alle zwei Wochen für jeweils eine Stunde unter Aufsicht habe treffen dürfen, was bis zur Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht insgesamt acht Mal erfolgt sei, und auch unter Berücksichtigung des Bemühens des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Tochter nicht ersichtlich sei, dass die zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter geführte Beziehung derart ausgeprägt sei, um eine durch die Rückkehrentscheidung erfolgende Verletzung des Rechtes auf ein Familienleben im Sinne des Art8 EMRK anzunehmen und eine maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohles zu erkennen, so liegt darin – auch unter Berücksichtigung des vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Interessenabwägung genannten Umstandes, dass das Familienleben durch Heirat des Beschwerdeführers zu einem Zeitpunkt begründet worden sei, in dem er nicht von einem dauerhaften Aufenthalt habe ausgehen dürfen, weil sein Verfahren im ersten Verfahrensgang bereits rechtskräftig abgeschlossen gewesen sei – eine verfassungsrechtlich zu beanstandende Interessenabwägung.

3.8.    Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Erwägungen maßgeblich darauf, dass unter Berücksichtigung der Umstände des Falles die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Tochter nicht derart ausgeprägt sei, dass eine Rückkehrentscheidung eine Verletzung von Art8 EMRK darstellen könnte. Das Bundesverwaltungsgericht stützt diese Annahme allerdings auf unzureichende Ermittlungen:

3.8.1.  Zwar wurde eine mündliche Verhandlung durchgeführt und es finden sich auch ansatzweise Erörterungen der Auswirkungen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Familienleben zwischen Beschwerdeführer und Kind, es fehlt allerdings zum einen eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Frage, aus welchen Gründen bisher nur wenige Kontakte zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Kind stattgefunden haben. Der Umstand, dass der Kontakt zwischen Vater und Kind nicht vom Beschwerdeführer selbst, sondern von dritten Personen – entgegen gerichtlicher Anordnungen – verhindert wurde, scheint keinen Einfluss auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zu haben. Zudem wird die zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende Situation hinsichtlich rechtlicher Obsorge und tatsächlicher Obhut sowie Wohnort des Kindes nur unzureichend ermittelt und dargestellt.

3.8.2.  Zum anderen ist aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht erkennbar, dass Ermittlungen angestellt worden wären, ob die (auch nur potentielle bzw zukünftige) Beziehung zwischen Vater und Kind im Interesse des Kindeswohles liegt oder liegen würde (vgl zur Relevanz etwaiger behördlicher Einschätzungen zu der Frage des Einflusses einer Eltern-Kind-Beziehung auf das Kindeswohl VfGH 12.10.2016, E1349/2016). Selbst wenn das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass bisher nur seltene Kontakte zwischen Vater und Kind stattgefunden haben und deshalb derzeit keine intensive Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter im Kleinkindalter bestehe, so hätte es – allenfalls auch im Wege einer Anfrage bei zuständigen Behörden (vgl hiezu VfGH 28.2.2012, B1644/10) oder durch Ermittlung in den Akten der Verfahren zur Entscheidung über die Obsorge für die Tochter des Beschwerdeführers und die Kontaktregelung – ermitteln müssen, wie die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse hinsichtlich des Familienlebens zum Entscheidungszeitpunkt waren und insbesondere inwiefern (unter Berücksichtigung des jungen Alters der Tochter insbesondere auch zukünftig) die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und der Tochter trotz derzeit nur selten stattfindender Kontakte im Interesse des Kindeswohles liegt. Die Frage, ob regelmäßige Kontakte zum Vater im Interesse des Kindeswohles sind und insbesondere deren Beurteilung durch die zuständigen Behörden und Gerichte im Verfahren über die Obsorge- und Kontaktregelungen lässt das Bundesverwaltungsgericht allerdings außer Betracht.

3.8.3.  Das Bundesverwaltungsgericht kommt der grundrechtlichen Verpflichtung, die Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Tochter und das Kindeswohl zu ermitteln, nicht ausreichend nach (vgl zu dieser Verpflichtung VfSlg 19.362/2011 mwN; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

3.9.    Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt und die genannten Aspekte nicht hinreichend ermittelt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art8 EMRK aber nicht ausschließt, etwa VfSlg 18.223/2007; VfGH 3.10.2012, U119/12; 25.3.2013, U2241/12) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel belastet.

4.       Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Fragen, ob das Vorbringen rechtmäßig als unglaubwürdig bewertet wurde und ob das Bundesverwaltungsgericht in jeder Hinsicht hinreichend ermittelt und daraus nachvollziehbare Schlussfolgerungen gezogen hat, insoweit nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet, abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Privat- und Familienleben, Entscheidungsbegründung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E707.2019

Zuletzt aktualisiert am

20.02.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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