RS Vfgh 2019/11/27 E2047/2019 ua, E3530/2019 ua, E2893/2019 ua

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Veröffentlicht am 27.11.2019
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Index

60/01 Arbeitsvertragsrecht

Norm

StGG Art5
Lohn- und Sozialdumping-BekämpfungsG §19, §22, §26, §28 Abs1
AEUV §56
VStG §9 Abs7
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Eigentumsrecht durch Regelungen des Arbeitsvertragsrechts-AnpassungsG und des AusländerbeschäftigungsG betreffend eine – in der Zeit vor Erlassung einer Entscheidung des EuGH ergangene – Verhängung von kumulativen Strafen sowie eines Verfahrenskostenbeitrags idHv 20 %; Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit mangels angemessenem Verhältnis der Höhe der Geldstrafe zur Schwere der geahndeten Verstöße

Rechtssatz

Mit EuGH 12.09.2019, Rs C-64/18 ua, Maksimovic, hat der Gerichtshof entschieden, dass Art56 AEUV, der die Dienstleistungsfreiheit gewährleistet, einer nationalen Regelung, wie sie in den §§7d und 7i Abs4 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) idF BGBl I 94/2014, und in §28 Abs1 Z1 lita iVm §3 Abs1 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) idF BGBl I 66/2017, festgelegt ist, entgegensteht. In den diesem Urteil zugrunde liegenden Verfahren wurden über den Geschäftsführer eines kroatischen Unternehmens sowie über vier Vorstände einer österreichischen AG Geldstrafen in Millionenhöhe verhängt; ihnen wurde zur Last gelegt, es unterlassen zu haben, Lohnunterlagen für 217 Arbeitnehmer bereitzustellen bzw bereitzuhalten sowie für 200 ausländische Arbeitnehmer Beschäftigungsbewilligungen einzuholen. Dem EuGH zufolge sind derartige Vorschriften, die nicht unmittelbar Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen betreffen, sondern der Wirksamkeit von Kontrollen dienen, die zur Wahrung und Einhaltung dieser Bedingungen durchgeführt werden können, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, weil für den Fall der Nichtbeachtung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und auf die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung von Geldstrafen vorgesehen ist, die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen, für jeden betreffenden Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung zu verhängen sind, im Fall der Abweisung einer gegen den Strafbescheid erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt und die im Fall der Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden.

Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer auf Grund im Wesentlichen gleichartiger Verwaltungsübertretungen zu einer Geldstrafe verurteilt (Nichtbereithaltung von ZKO3-Meldungen und Lohnunterlagen; Unterlassung der Entsendemeldung an die ZKO); zudem wurde über ihn ein Verfahrenskostenbeitrag von 20 % der Geldstrafe verhängt. Auch die Sanktionsbestimmungen sind gleich gelagert: Die §§26 Abs1 und 28 Lohn- und Sozialdumping-BekämpfungsG (LSD-BG) sehen ebenso wie die betreffenden (Vorgänger-)Bestimmungen im AVRAG oder im AuslBG für das Grunddelikt Mindeststrafen von € 1.000,- (im Wiederholungsfall von € 2.000,-), bei mehr als drei Arbeitnehmern sieht §28 LSD-BG € 2.000,- (im Wiederholungsfall € 4.000,-) vor. Auch sind die Geldstrafen pro Arbeitnehmer zu verhängen, wobei keine Obergrenze festgelegt ist. Ebenso bemisst sich der Verfahrenskostenbeitrag nach der verhängten Strafe (20 %) und wird die Strafe im Fall der Uneinbringlichkeit in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. Dem Urteil des EuGH folgend, verstoßen sohin auch die §§26 Abs1 und 28 LSD-BG gegen die Dienstleistungsfreiheit, da insbesondere nicht gewährleistet ist, dass die Geldstrafen auch in ihrer Summe in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der geahndeten Verstöße stehen.

Das Verwaltungsgericht Wien (VwG Wien) hat den angefochtenen Erkenntnissen damit innerstaatliche gesetzliche Vorschriften zugrunde gelegt, die offenkundig einer unmittelbar anwendbaren Norm des Unionsrechts widersprechen, nämlich Art56 AEUV, deren Anwendung also der Anwendungsvorrang unmittelbar anwendbaren Unionsrechts entgegensteht. Eine derartige Gesetzesanwendung ist einer Gesetzlosigkeit gleichzuhalten, weshalb der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums nach Art1 des 1. ZPEMRK verletzt ist.

Zwar ist dem VwG Wien nicht subjektiv vorwerfbar, dass es die Unanwendbarkeit der von ihm den Erkenntnissen zugrunde gelegten innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht erkannt hat, da deren Unanwendbarkeit erst mit dem Urteil des EuGH vom 12.09.2019, Rs C-64/18 ua, Maksimovic, offenkundig wurde. Der VfGH hat den nunmehr deutlich gewordenen Fehler in der rechtlichen Beurteilung des VwG Wien allerdings aufzugreifen: Alle Gerichte der Mitgliedstaaten haben nämlich nach der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und für die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Normen Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen. Der VfGH hat daher die festgestellte Rechtswidrigkeit der Gesetzesanwendung im Sinne der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts in jedem Stadium des Verfahrens zu beachten, und zwar auch dann, wenn die korrekte Auslegung des Unionsrechts erst im Zuge des Verfahrens vor dem VfGH offenkundig wurde.

Aufhebung der Erkenntnisse im Umfang der Straf-, Kosten und Haftungsaussprüche unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben.

Siehe auch E3530/2019 ua und E 2893/2019 ua (§12 und §27 Lohn- und Sozialdumping-BekämpfungsG) beide E v 27.11.2019.

Entscheidungstexte

  • E2047/2019 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 27.11.2019 E2047/2019 ua
  • E3530/2019 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 27.11.2019 E3530/2019 ua
  • E2893/2019 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 27.11.2019 E2893/2019 ua

Schlagworte

Eigentumseingriff, EU-Recht, Dienstleistungsfreiheit, Arbeitsrecht, Strafe (Verwaltungsstrafrecht), Anwendbarkeit eines Gesetzes, Zeitpunkt maßgeblich für Rechtslage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E2047.2019

Zuletzt aktualisiert am

14.02.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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