TE Vwgh Erkenntnis 2019/12/10 Ra 2019/22/0129

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Veröffentlicht am 10.12.2019
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §16 Abs2 Z1
MRK Art8
NAG 2005 §11 Abs2 Z3
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §20 Abs1
NAG 2005 §64 Abs1
NAGDV 2005 §7 Abs1 Z6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 22. März 2019, VGW-151/074/1585/2019-1, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: O M, vertreten durch Dr. Peter Philipp, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Graben 17), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis erteilte das Verwaltungsgericht Wien (VwG) dem Mitbeteiligten, einem Staatsangehörigen Tunesiens, den beantragten Aufenthaltstitel für Studenten gemäß § 64 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für die Dauer von zwölf Monaten. Eine ordentliche Revision wurde für nicht zulässig erklärt.

Das VwG stellte - soweit für das gegenständliche Verfahren von Belang - fest, der Mitbeteiligte habe bereits von Dezember 2015 bis Mai 2018 in Österreich gelebt, wo er bei seinem Onkel und dessen Familie gewohnt habe; er sei bis zu seiner Ausreise bei der Gebietskrankenkasse selbstversichert gewesen, habe eine geringfügige Erwerbstätigkeit ausgeübt, im April 2018 die Ergänzungsprüfung Deutsch abgelegt und sei als ordentlicher Studierender für das Bachelorstudium Maschinenbau an der TU Wien gemeldet. Nach Abweisung seines Verlängerungsantrages sei er in seine Heimat zurückgekehrt und habe den nunmehr verfahrensgegenständlichen Antrag gestellt. Derzeit lebe er bei seinen Eltern in Tunesien und werde von diesen erhalten. In seiner rechtlichen Beurteilung führte das VwG aus, der Mitbeteiligte sei unbestritten ordentlicher Studierender an der TU Wien und "wird sich bei der Gebietskrankenkasse selbstversichern"; er könne in der Wohnung seines Onkels unentgeltlich wohnen und verfüge über ein Sparguthaben in der Höhe von EUR 11.048,--. Der gemäß § 11 Abs. 5 NAG iVm § 293 ASVG normierte Richtsatz werde um ca. EUR 150,-- nicht erreicht. Aufgrund der vom Mitbeteiligten im Bundesgebiet bereits verbrachten Zeit, der geringfügigen Erwerbstätigkeit von ca. zwei Jahren, der abgelegten Ergänzungsprüfung Deutsch, der Meldung als ordentlicher Studierender sowie der nur geringfügigen Unterschreitung der Richtsatzgrenze sei eine Abwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG zugunsten des Mitbeteiligten zu treffen.

2 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des Landeshauptmannes von Wien.

3 Der Mitbeteiligte beantragte in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision als unbegründet abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

4 In der Zulässigkeitsbegründung bringt der Revisionswerber vor, das VwG habe die Prüfung des § 11 Abs. 2 Z 3 NAG in Verkennung der Rechtslage vorgenommen und den Aufenthaltstitel trotz fehlendem Krankenversicherungsschutz erteilt (Hinweis ua. auf VwGH 9.9.2014, Ro 2014/22/0032). Auch weiche das VwG bei seiner Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG von der hg. Rechtsprechung ab (Hinweis ua. auf VwGH 23.6.2015, Ra 2015/22/0026, wonach einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet keine maßgebliche Bedeutung zukomme).

5 Die Revision ist zulässig und begründet.

6 Gemäß § 11 Abs. 2 Z 3 NAG iVm § 7 Abs. 1 Z 6 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung (NAG-DV) ist dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels ein Nachweis über einen in Österreich leistungspflichtigen und alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz, insbesondere durch eine entsprechende Versicherungspolizze, sofern kein Fall der gesetzlichen Pflichtversicherung bestehen wird oder besteht, anzuschließen. Der Versicherungsschutz muss die gesamte Dauer des Aufenthaltstitels gemäß § 20 Abs. 1 NAG abdecken. Gemäß dem eindeutigen Wortlaut dieser Bestimmung kann der bloße Verweis auf eine Selbstversicherung nach der Einreise nach Österreich diese Nachweispflicht nicht substituieren (vgl. VwGH 28.5.2019, Ra 2018/22/0066, Rn. 8, mwN). Auch die für Studierende bestehende Möglichkeit der Selbstversicherung gemäß § 16 Abs. 2 Z 1 ASVG ändert daran nichts, solange nicht tatsächlich ein ausreichender Krankenversicherungsschutz für die gesamte Dauer des Aufenthaltes abgeschlossen wurde (vgl. VwGH 9.8.2018, Ra 2018/22/0081, Rn. 7). Im vorliegenden Fall stellte das VwG fest, dass der Mitbeteiligte bis zu seiner Ausreise (im Mai 2018) aus dem Bundesgebiet bei der Gebietskrankenkasse selbstversichert gewesen sei, und führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus, der Mitbeteiligte "wird sich bei der Gebietskrankenkasse selbstversichern". Daraus ergibt sich aber vor dem Hintergrund der oben dargestellten Judikatur nicht, dass der Nachweis einer in Österreich leistungspflichtigen und alle Risken abdeckenden Krankenversicherung erbracht wurde. Die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 3 NAG ist somit nicht erfüllt.

7 Der Revisionswerber wendet sich auch gegen die Ansicht des VwG, dem Mitbeteiligten sei trotz Vorliegen eines Erteilungshindernisses ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen.

Dazu weist die Revision zutreffend darauf hin, dass eine Aufenthaltsdauer von etwa zweieinhalb Jahren für sich genommen keine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten an einer Titelerteilung bewirken kann; auch dem Interesse des Mitbeteiligten an der Fortsetzung seiner Ausbildung kommt allein keine entscheidungserhebliche Bedeutung bei der vorzunehmenden Abwägung zu (vgl. VwGH 4.10.2018, Ra 2018/22/0126, Rn. 9, mwN);

Der Mitbeteiligte hielt sich von Dezember 2015 bis Mai 2018 in Österreich auf und lebte während seines Aufenthaltes mit seinem Onkel und dessen Familie in einem gemeinsamen Haushalt; ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis wurde nicht vorgebracht. Demgegenüber verfügt der Mitbeteiligte - den Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis zufolge - nach wie vor über familiäre Bindungen in seiner Heimat, hält er sich doch seit seiner Ausreise aus Österreich wieder bei seinen Eltern in Tunesien auf. Auch in Verbindung mit den vom VwG weiter angeführten Aspekten der geringfügigen Erwerbstätigkeit während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet, der Ablegung der Ergänzungsprüfung Deutsch und der Meldung als ordentlicher Studierender wäre es nicht geboten gewesen, dem Mitbeteiligten aus Gründen des Art. 8 EMRK einen Aufenthaltstitel zu erteilen.

8 Die vom VwG durchgeführte Abwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG steht somit nicht mit den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang, weshalb das angefochtene Erkenntnis wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

9 Gemäß § 47 Abs. 3 VwGG waren dem Mitbeteiligten keine Kosten zuzusprechen.

Wien, am 10. Dezember 2019

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019220129.L00

Im RIS seit

03.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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