TE Vwgh Erkenntnis 2019/11/13 Ra 2019/18/0215

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Veröffentlicht am 13.11.2019
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
E3L E19103010
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
32011L0095 Status-RL Art8 Abs2
32013L0032 IntSchutz-RL Art10 Abs3 litb

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des S T in W, vertreten durch Mag. Martin Niederhuber als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag.a Iris Augendoppler, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Apostelgasse 36/10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. April 2019, Zl. W158 2191653-1/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 19. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er im verwaltungsbehördlichen Verfahren zusammengefasst vor, aus der Provinz Kunduz zu stammen und im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern auf der Flucht vor den Taliban in den Iran gezogen zu sein. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan drohe ihm Verfolgung durch einen näher genannten Verwandten, mit dem seine Familie in Streit verfangen sei. 2 Mit Bescheid vom 7. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers wurde - aus näher dargestellten Gründen - kein Glauben geschenkt. Selbst bei Wahrunterstellung stehe dem Revisionswerber aber eine innerstaatliche Fluchtalternative, beispielsweise in Kabul, zur Verfügung.

3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der er unter anderem (neu) vorbrachte, er fürchte bei Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner "verwestlichten Lebenseinstellung" von islamistischen Terroristen verfolgt zu werden. Im Übrigen bestritt er unter näher begründetem Hinweis auf seine "völlige Entwurzelung" in Afghanistan das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative und beantragte, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. 4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5 Begründend führte das BVwG aus, das BFA sei in seiner Beweiswürdigung zu Recht davon ausgegangen, dass der Revisionswerber sein Fluchtvorbringen nicht glaubhaft gemacht habe. Ungeachtet dessen könne er eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund sei ihm auch kein subsidiärer Schutz zu gewähren, obwohl vom Revisionswerber eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Kunduz wegen der dortigen volatilen Sicherheitslage nicht erwartet werden könne.

6 Eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG habe wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG ("geklärter Sachverhalt") unterbleiben können.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache vor allem geltend macht, das BVwG habe seine Verhandlungspflicht verletzt.

8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG die Verhandlungspflicht verletzt hat und insoweit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist:

10 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung (unter anderem) unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem "geklärten Sachverhalt" im Sinne dieser Norm wäre nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere dann nicht auszugehen, wenn in der Beschwerde zulässigerweise (§ 20 BFA-VG) ein neuer Sachverhalt geltend gemacht wird oder der vom BFA festgestellte Sachverhalt in der Beschwerde substantiiert bestritten wird (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018).

11 Im gegenständlichen Fall hat der Revisionswerber in der Beschwerde die Beweiswürdigung des BFA zu seinem vor der Verwaltungsbehörde erstatteten Fluchtvorbringen nicht hinreichend substantiiert bestritten.

12 Er hat jedoch neues Vorbringen erstattet (drohende Verfolgung durch islamistische Terroristen wegen seiner "verwestlichten Lebenseinstellung"), das vom BVwG nicht wegen Verstoßes gegen das Neuerungsverbot gemäß § 20 BFA-VG für unzulässig erachtet wurde. Das BVwG führte dazu in der Beweiswürdigung lediglich aus, eine "Verwestlichung" sei weder aus den Akten noch aus seinem gezeigten Verhalten während des Verfahrens ersichtlich. Eine solche (das Verfahren des BFA ergänzende) Beweiswürdigung hätte jedoch der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedurft.

13 Hinzu kommt, dass sich das BVwG bei der Nichtgewährung von subsidiärem Schutz tragend auf das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat gestützt hat (in Bezug auf die letztgenannten beiden Städte ging das BVwG damit über den festgestellten Sachverhalt des BFA hinaus), obwohl der Revisionswerber das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in seiner Beschwerde ausdrücklich und substantiiert bekämpft hat. Auch deshalb durfte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht Abstand genommen werden.

14 Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG anders als bisher auch mit den EASO-Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, June 2019), denen das Unionsrecht - vergleichbar Informationen des UNHCR - eine besondere Bedeutung beimisst, auseinandersetzen müssen, zumal diese Richtlinien für Personen mit dem Profil des Revisionswerbers, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, besondere Prüfkriterien aufstellt (vgl. dazu VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308).

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. November 2019

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180215.L01

Im RIS seit

03.01.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.01.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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