TE Vwgh Erkenntnis 2019/8/28 Ra 2018/14/0384

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Veröffentlicht am 28.08.2019
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Index

E1P
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AVG §45 Abs2
BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §39 Abs2 Z3
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des XY, vertreten durch Dr. Anton Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/2/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. August 2018, W192 2180829-1/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Er stellte am 28. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, Kutschi-Nomaden hätten seinen Eltern landwirtschaftliche Grundstücke weggenommen, wobei mehrere Personen getötet worden seien. Seine Familie sei daraufhin nach Pakistan geflohen, wo sie Probleme mit der Polizei und Angst gehabt hätten, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er, von den Kutschis und wegen seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit von den Taliban getötet zu werden.

2 Mit Bescheid vom 12. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. 3 Begründend führte das BFA aus, der Revisionswerber habe nur eine Bedrohung seiner Familie durch Nomaden, aber keine gegen ihn selbst gerichtete Bedrohung oder Verfolgung geltend gemacht. Die vorgebrachten Gründe für das Verlassen Pakistans seien für das gegenständliche Asylverfahren nicht entscheidungsrelevant. Es hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Revisionswerber allein auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sowie zur Glaubensrichtung der Schiiten in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Dem Revisionswerber sei aus näher genannten Gründen eine Rückkehr nach Kabul zumutbar.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde. In einer Beschwerdeergänzung vom 22. Jänner 2018 brachte der Revisionswerber u.a. vor, das BFA habe Ermittlungen zum Kutschi-Hazara-Konflikt unterlassen, und führte verschiedene Länderinformationen zum Beleg dafür an, dass ihm im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund des Konfliktes seiner Eltern mit Kutschis Vergeltung in Form von Bluchtrache drohe. Auch drohe dem Revisionswerber als Angehöriger der Volksgruppe der schiitischen Hazara im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit und der Religion, wofür er ebenfalls Länderinformationen anführte. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul stehe ihm auf Grund der allgemeinen Menschenrechtslage und seiner persönlichen Umstände, insbesondere im Hinblick auf das gänzliche Fehlen eines sozialen Netzwerks, nicht offen.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung -

als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung seiner Person durch Kutschis zum nunmehrigen Zeitpunkt nicht präzisieren können. Er berufe sich dazu auf einen Sachverhalt, welcher sich vor seiner Geburt ereignet habe und mache nicht ersichtlich, weshalb er mehr als zwei Jahrzehnte später einer gezielten Verfolgung unterliegen würde. Der Revisionswerber sei weder als Hazara oder Schiite noch als Rückkehrer aus Pakistan oder Europa einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. Er könne auf Grund der Länderberichte in Zusammenschau mit seinen persönlichen Lebensumständen in zumutbarer Weise auf eine Niederlassung in Kabul verwiesen werden.

7 Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, da das BVwG keine neuen Beweismittel beigeschafft und sich für die Feststellungen über die Person des Revisionswerbers und die Lage im Herkunftsstaat auf jene des Bescheides des BFA gestützt habe. Die Beschwerde sei den Feststellungen und der Beweiswürdigung des BFA "nicht ansatzweise substantiiert" entgegengetreten.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es von einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe, obwohl der Revisionswerber durch die Vorlage von Berichten über den Konflikt zwischen Kutschis und Hazaras sowie über die Situation in Kabul den vom BFA angenommenen Sachverhalt hinsichtlich der Verfolgung durch Kutschis und der Möglichkeit der Neuansiedlung in Kabul substantiiert bestritten habe.

10 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

12 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 4.3.2019, Ra 2018/14/0289, mwN).

13 Diese Voraussetzungen lagen im vorliegenden Fall nicht vor. Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerdeergänzung vom 22. Jänner 2018 Länderinformationen zum Konflikt zwischen Kutschis und Hazara in Zusammenhang mit Weideland sowie zu Blutrache und Blutfehden, von denen auch noch nach Jahren oder Jahrzehnten eine Gefahr ausgehe, vorgelegt. Dabei handelte es sich um ein entscheidungsmaßgebliches Vorbringen, weil die Asylbehörden in der Beweiswürdigung den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen haben (vgl. VwGH 11.4.2018, Ra 2018/20/0040, mwN). Das BVwG hat auch eigene beweiswürdigende Erwägungen zur Gefahr einer Verfolgung des Revisionswerbers durch Kutschis getroffen und die Beweiswürdigung des BFA dadurch nicht bloß unwesentlich ergänzt.

14 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (VwGH 27.6.2019, Ra 2018/14/0303 bis 0306, mwN).

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 28. August 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018140384.L01

Im RIS seit

03.10.2019

Zuletzt aktualisiert am

03.10.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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