TE Vwgh Erkenntnis 2019/9/11 Ra 2019/08/0067

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Veröffentlicht am 11.09.2019
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Index

20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

ABGB §1297
ABGB §268
ABGB §269
ABGB §271 idF 2017/I/059
AlVG 1977 §10 Abs1
AlVG 1977 §49

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des Arbeitsmarktservice Mödling gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2019, Zl. W209 2199197-1/3E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: R S, vertreten durch Mag. Christoff Beck, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wiesingerstraße 8/12), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 6. Februar 2018 sprach die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) gemäß § 38 iVm § 10 AlVG aus, dass der Mitbeteiligte für den Zeitraum 18. Jänner 2018 bis 14. März 2018 seinen Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe, weil er eine vom AMS vermittelte Stelle als Abwäscher nicht angenommen bzw. die Arbeitsaufnahme vereitelt habe. 2 Der Mitbeteiligte, vertreten durch seinen Sachwalter, erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Er brachte darin insbesondere vor, dass sein Verhalten krankheitsbedingt und daher nicht vorwerfbar sei. Auch sei seine Arbeitsfähigkeit unrichtigerweise als aufrecht bestehend festgestellt worden. Er legte der Beschwerde ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten vom 28. November 2014 bei, wonach bei ihm eine psychiatrische Erkrankung im Sinne rezidivierender Anpassungsstörungen mit herabgesetzter Frustrationstoleranz und Belastbarkeit bei ausgeprägter und mittlerweile chronifizierter Persönlichkeitsproblematik bestehe.

3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 18. April 2018 wies das AMS die Beschwerde ab. Es stellte fest, dass der Mitbeteiligte zuletzt vom 3. August 1998 bis zum 31. Mai 2006 anwartschaftsbegründend beschäftigt gewesen sei. Vom 1. Juni 2006 bis zum 27. Dezember 2006 habe er Arbeitslosengeld und seither - unterbrochen durch mehrere Krankenstände und ein kurzes Dienstverhältnis - Notstandshilfe bezogen.

4 Mit Beschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 21. Februar 2014 sei für den Mitbeteiligten gemäß § 268 ABGB ein Sachwalter bestellt worden, der ihn vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern zu vertreten, die Einkünfte, das Vermögen und Verbindlichkeiten zu verwalten und ihn bei Rechtsgeschäften, die über Geschäfte des täglichen Lebens hinausgingen, zu vertreten habe.

5 Am 4. Dezember 2017 sei dem Mitbeteiligten entsprechend der Betreuungsvereinbarung vom 21. September 2017 im Beisein des von seinem Sachwalter Bevollmächtigten vom AMS ein Vermittlungsvorschlag für die Beschäftigung als Abwäscher beim Dienstgeber H. mit möglichem Arbeitsbeginn am 18. Jänner 2018 angeboten worden. Der Mitbeteiligte habe sich auf diese Stelle nicht beworben.

6 In der niederschriftlichen Einvernahme vom 30. Jänner 2018 habe er in Anwesenheit des Bevollmächtigten seines Sachwalters erklärt, dass er für die angebotene Stelle zu hoch qualifiziert wäre; außerdem wäre der Betriebsinhaber FPÖ-Mitglied, und er wollte in keiner Firma arbeiten, wo so eine Gesinnung Platz hätte. Die Vermittlungsvorschläge vom 4. Dezember 2017 hätte er irrtümlich verlegt und jetzt erst wieder gefunden; er hätte aber einige andere Bewerbungen gemacht.

7 In rechtlicher Hinsicht führte das AMS im Wesentlichen aus, dass der eingeschränkte geistige bzw. psychische Gesundheitszustand des Mitbeteiligten ihn nicht von der Pflicht entbinde, sich auf durch das AMS vermittelte Stellen zu bewerben. Das Gutachten vom 28. November 2014 stelle seine Arbeitsfähigkeit grundsätzlich nicht in Frage und lasse auch keinen Zweifel darüber, dass er in der Lage sei, sich auf vermittelte Stellen zu bewerben.

8 Richtig sei, dass dem AMS die psychische Erkrankung des Mitbeteiligten bekannt sei; dies sei auch in der Betreuungsvereinbarung berücksichtigt worden. Es sei dem Mitbeteiligten aber möglich, einem vollversicherten Dienstverhältnis nachzugehen. Andernfalls würde er die Voraussetzungen des § 12 AlVG nicht erfüllen und könnte keine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung beziehen. 9 Mit seinem Verhalten habe der Mitbeteiligte eine mögliche Arbeitsaufnahme verhindert und damit bezogen auf den konkret angebotenen zumutbaren Arbeitsplatz seine Arbeitswilligkeit in Zweifel gestellt. Der Tatbestand des § 38 iVm § 10 Abs. 1 AlVG sei daher verwirklicht.

10 Berücksichtigungswürdige Gründe für eine Nachsicht gemäß § 10 Abs. 3 AlVG lägen nicht vor.

11 Der Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag.

12 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde statt, indem es die Beschwerdevorentscheidung ersatzlos behob.

13 Es stellte - über die Sachverhaltsannahmen des AMS in der Beschwerdevorentscheidung hinaus - fest, dass der Mitbeteiligte eine dreijährige Fachschule für Textilindustrie abgeschlossen habe und über Berufserfahrung als Verwaltungsangestellter und Gemeindebediensteter verfüge. Er sei auf Grund seiner psychischen Erkrankung (Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend ICD-10: 98.9) nicht in der Lage, die Verbindlichkeit von Terminen beim AMS zu erfassen. Diese würden von ihm subjektiv als psychische Überlastung empfunden, wodurch eine paranoide Reaktion auftrete, die jedoch in dieser Situation verleugnet und später verdrängt werde. Es bestünden eine inadäquate Anspruchshaltung, eine Überschätzung der eigenen Bedürfnisse und ein unzureichendes Kritikvermögen zur eigenen Person. Negative Konsequenzen des eigenen Verhaltens würden im Sinne einer Verleugnungstendenz nahezu ausgeblendet. Das kritische Erfassen möglicher negativer Auswirkungen des eigenen Verhaltens sei nicht möglich. Das Ausmaß der Persönlichkeitsstörung des Mitbeteiligten sei als krankheitswertig anzusehen. Diese Feststellungen zum Gesundheitszustand gründete das Bundesverwaltungsgericht auf das auf dem psychiatrischneurologischen Gutachten vom 28. November 2014 und der persönlichen Untersuchung des Mitbeteiligten am 11. Dezember 2014 basierende ärztliche Gesamtgutachten der Pensionsversicherungsansta lt vom 30. April 2015.

14 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, es stehe durch die Unterlassung der Bewerbung des Mitbeteiligten auf eine ihm vom AMS im Beisein des Bevollmächtigten seines Sachwalters zugewiesene Stelle zweifelsfrei fest, dass sein Verhalten für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung kausal gewesen sei. Auf Grund der festgestellten psychischen Beeinträchtigungen könne dem Mitbeteiligten sein Verhalten aber nicht vorgeworfen werden. Es sei daher der erforderliche bedingte Vorsatz im Hinblick auf das Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses zu verneinen. 15 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe im Hinblick auf die Stattgabe der Beschwerde unterbleiben können. 16 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision des AMS, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen hat:

17 Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, dass es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage fehle, ob besachwaltete Personen, die nicht in der Lage seien, die Verbindlichkeit von Terminen beim AMS zu erfassen, verpflichtet seien, sich auf vom AMS angebotene Stellen zu bewerben. Der Sachwalter sei nach Ansicht des AMS verpflichtet, die Interessen des Mitbeteiligten wahrzunehmen, wozu auch gehöre, dass er sich um das Durchführen von Bewerbungen durch den Mitbeteiligten kümmere.

18 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

19 Für den Mitbeteiligten wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 21. Februar 2014 gemäß § 268 ABGB (idF vor der Novelle BGBl. I Nr. 59/2017) ein Sachwalter (nunmehr: Erwachsenenvertreter gemäß § 271 ABGB idF BGBl. I Nr. 59/2017) für die Besorgung von folgenden Angelegenheiten bestellt: Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern; Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten; Vertretung bei Rechtsgeschäften, die über Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen.

20 Durch die Bestellung eines Sachwalters (Erwachsenenvertreters) für einen bestimmten Aufgabenkreis wurde der Mitbeteiligte nur in seiner rechtlichen Dispositionsfähigkeit, jedoch nicht in seiner faktischen Handlungsfähigkeit beschränkt. Die Nichteinhaltung einer im Bereich des Faktischen liegenden gesetzlichen Verpflichtung, wie etwa der Wahrnehmung eines Kontrolltermins, steht nicht dem rechtsgeschäftlichen Handeln nahe, sondern kommt vielmehr dem deliktischen Handeln gleich. Insofern bedeutet die Bestellung eines Sachwalters (Erwachsenenvertreters) nur, dass die Vermutung des § 1297 erster Satz ABGB nicht gilt, sodass unter Zuhilfenahme eines medizinischen Sachverständigen zu prüfen wäre, ob der Betroffene - bezogen auf das in Rede stehende Verhalten - "eines solchen Grades des Fleißes und der Aufmerksamkeit fähig sei, welcher bei gewöhnlichen Fällen angewendet werden kann" (vgl. VwGH 22.2.2012, 2011/08/0078).

21 Die Bewerbung um einen Arbeitsplatz ist jedoch - ebenso wie die Zuweisung durch das AMS (vgl. VwGH 19.3.2003, 98/08/0110) - keine bloß faktische Handlung, sondern Teil des (potentiell) zum Abschluss eines Arbeitsvertrages führenden Vorgangs; die Wahrnehmung der gegenüber dem AMS bestehenden Verpflichtung zu Bewerbungshandlungen, soweit sie einer Vertretung zugänglich sind, gehört daher zu jenem Bereich rechtsgeschäftlichen Handelns, der in den Wirkungskreis eines zur "Vertretung bei Rechtsgeschäften, die über Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen" bestellten Sachwalters (Erwachsenenvertreters) fällt (vgl. auch schon VwGH 19.3.2003, 98/08/0110, wonach dann, wenn eine arbeitslose Person infolge ihrer eingeschränkten Geschäftsfähigkeit gar nicht in der Lage wäre, einen Dienstvertrag abzuschließen, aus einem aus welchen Gründen immer erfolglosen Verlauf eines ohne Beiziehung des Sachwalters geführten Vorstellungsgespräches keine Weigerung, die Beschäftigung anzunehmen, abgeleitet werden kann). Es gehört daher insbesondere zu den Aufgaben eines Sachwalters (Erwachsenenvertreters), ein Bewerbungsschreiben zu verfassen, einen Vorstellungstermin zu vereinbaren und den Arbeitslosen zu einem Vorstellungsgespräch zu begleiten.

22 Fällt die Erfüllung der genannten Verpflichtungen in Zusammenhang mit Bewerbungen in den Wirkungskreis des Sachwalters (Erwachsenenvertreters), so sind ihre Unterlassung durch den Sachwalter (Erwachsenenvertreter) und dessen allfälliges Verschulden daran dem von ihm Vertretenen zuzurechnen, womit im vorliegenden Fall - vorbehaltlich der Prüfung, ob im fraglichen Zeitraum die Arbeitsfähigkeit des Mitbeteiligten (noch) gegeben war, bzw. ob Nachsichtsgründe im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG vorlagen - die Voraussetzungen für den Ausspruch eines Anspruchsverlusts nach § 10 Abs. 1 (iVm § 38) AlVG erfüllt sein könnten.

23 Das Bundesverwaltungsgericht hat, indem es die Bewerbung im Ergebnis als bloß faktisches Handeln beurteilt und ausgehend davon das (mangelnde) Verschulden des Mitbeteiligten selbst an ihrem Unterbleiben bzw. dem Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses als maßgeblich für die Frage des Anspruchsverlusts angesehen hat, die Rechtslage verkannt. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 11. September 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019080067.L00

Im RIS seit

31.10.2019

Zuletzt aktualisiert am

31.10.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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